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Uri Avnery, 27. Februar
ER ERSCHIEN aus dem Nirgendwo. Buchstäblich
Die israelische Polizei benötigte einen neuen Kommandeur. Der letzte hatte seine
Amtszeit beendet; mehrere ältere
Offiziere waren angeklagt worden, ihre weiblichen jüngeren Kolleginnen sexuell
belästigt zu haben, einer hatte Selbstmord begangen, nach dem er der Korruption
angeklagt worden war. Also wurde jemand von außerhalb ernannt.
Als Benjamin Netanjahu seine Wahl ankündigte, war jeder erstaunt. Roni
Alscheich? Woher- zum Teufel - kommt der denn?
Er sieht – abgesehen von seinem Schnurbart
- nicht wie ein Polizist
aus. Er hatte nie die geringste Verbindung mit Polizeiarbeit. Er war tatsächlich
der geheime Vertreter des Shin Bet
Chefs – dem internen Geheimdienst.
Boshafte Zungen flüsterten, dass es einen einfachen Grund für diese seltsame
Ernennung gibt: der Chef des Shin Bet war dabei, seine Amtszeit zu beenden.
Netanjahu wollte nicht, dass Alscheich ihm folgte. Deshalb schickte er ihn, um
die Polizei zu kommandieren.
Der Name Alscheich ist eine
Verfälschung des sehr arabischen
al-Scheich – „der Alte“. Sein Vater ist jemenitischer Abstammung, seine Mutter
ist Marokkanerin.
Er ist der erste Polizeichef, der eine Kippa trägt. Auch der erste, der einmal
ein Siedler war. Wir warteten alle auf seine erste bedeutende Äußerung. Sie kam
in dieser Woche und betraf die um ihre Söhne trauernden Mütter.
Alscheich behauptete, der schmerzende Verlust ist wirklich ein jüdisches Gefühl.
Jüdische Mütter trauern um ihre Kinder. Arabische Mütter trauern nicht.
Deshalb lassen sie sie Steine auf unsere Soldaten werfen, wobei sie
wissen, dass sie wahrscheinlich erschossen werden.
Das klingt primitiv? Das ist auch primitiv. Es ist auch ziemlich beängstigend,
dass unser neuer Polizeichef, der Mann, der für Ruhe und Ordnung zuständig ist,
solch primitive Ansichten hat.
EIN PAAR Tage später wiederholte unser Verteidigungsminister Moshe Yaalon, der
ein viel größeres Empire kontrolliert, diese Behauptung. Arabische Trauer kann
nicht mit jüdischer Trauer verglichen werden. Das hängt damit zusammen, dass
Juden das Leben lieben, während die Araber den Tod lieben.
Wenn unsere tapferen Soldaten (alle unseren Soldaten sind tapfer) ihr Leben
opfern, dann deshalb, weil sie das Leben unserer Nation lieben, während
arabische Terroristen Selbstmordmissionen begehen, um ins Paradies zu kommen.
Ihre Mütter ermutigen sie dazu. So sind Araber eben.
All diese Super-Patrioten sind zu jung, um sich daran zu erinnern, dass jüdische
Mütter in Palästina ihre Söhne und Töchter ermutigten, sich
den Untergrund-Organisationen anzuschließen, um gegen die britische
Besatzung zu kämpfen (ein Kampf fürs Leben des Volkes, natürlich) Vielleicht
dachten die britischen Polizisten genau so über die jüdischen Mütter und
vergassen dabei, dass nur wenige Jahre zuvor Millionen und Abermillionen weißer
christlicher Europäer sich den Armeen mit dem Segen der Mütter angeschlossen
haben und einander töteten. Um des Lebens und der Freiheit willen.
Wenn zwei so hochrangige Persönlichkeiten solch erschütternden Unsinn von sich
geben, kann es nur einen Grund geben: sie wiederholen die "Erklärungsbögen", die
täglich vom Amtssitz des Ministerpräsident an alle Regierungsminister und
hochrangigen Beamten verteilt werden. (In Israel mögen wir
das Wort „Propaganda“ nicht benützen - stattdessen auf hebräisch hasbara
„Erklärung“)
EIN WORT über die Kippa des Polizeichefs.
Als ich ein Jugendlicher in Tel Aviv war, sah ich kaum jemanden, der eine Kippah
trug. Auch nicht in der Schule (die ich im Alter von 14 verließ, um für den
Lebensunterhalt zu arbeiten) noch in der Irgun, noch in der Armee sah ich
einen Kameraden, der so eine Kopfbedeckung trug. Die jungen Leute
schämten sich, sie zu tragen.
Heutzutage tragen fast die Hälfte derer, die im Fernsehen erscheinen, stolz die
Kippa. Einige von ihnen tragen sie in einer Weise oder in einer Größe, dass die
Camera sie nicht sehen kann. Aber
Regierungsangestellte tragen sie wie eine Ehrenplakette, um zu zeigen, dass sie
wahre Gläubige der herrschenden Ideologie sind. Wie ein roter Stern in China
oder eine Krawatte in den US.
Während der letzten paar Monate hat Netanjahu neue Leute für verschiedene
bedeutendste Regierungsfunktionen ernannt. Der Polizeichef ist einer von ihnen.
Ein anderer ist der Generalstaatsanwalt („Juristischer Berater der Regierung“
genannt) der Regierungsbeamte mit großer Machtbefugnis. Ein anderer ist der neue
Chef des Shin Bet. Im Unterschied zu ihren Vorgängern tragen sie alle die Kippa.
Um die Bedeutung von ihr zu
erklären, muss man die jüdische Religion charakterisieren. Sie ist ganz anders
als die christliche Religion und dem Islam viel näher. Alles Reden über die
„jüdisch-christliche“ Tradition
gründet sich auf Ignoranz.
DAS HEBRÄISCHE Wort für Religion
ist „dat“. Wie das arabische Wort „din“ meint sie im Wesentlichen
„Gesetz“. Judentum besteht aus einer Reihe von Geboten (allein in der
Bibel sind es 613) die von Gott verhängt wurden. Dafür hat Gott uns
als sein Volk „auserwählt“ und uns das Heilige Land gegeben. Man kann
kein Jude sein, ohne zum jüdischen Volk zu gehören, dem
das Heilige Land auf immer gehört.
Seit 2000 Jahren und mehr waren Juden über die ganze Welt zerstreut. Ihre
Verbindung zum Heiligen Land war rein geistiger Natur. Das jüdische
"Volk"
war eine religiöse Erfindung.
Dann kam der Zionismus. Er wurde Ende des 19.Jahrhundert gegründet. Fast alle
seine Begründer waren überzeugte Atheisten. Sie glaubten nicht an Gott, der die
Juden ins Exil geschickt hat.
Als ich jung war, sprach niemand in diesem Land über einen „Jüdischen Staat“.
Wir sprachen über einen „Hebräischen Staat“. Eine extreme Gruppe
(mit dem Spitznamen „Kanaaniter“) behauptete, dass wir eine neue
hebräische Nation sind, die nichts mit dem Judentum zu tun hat. Die meisten
meiner Generation dachten in
derselben Weise, wenn auch nicht mit diesen Worten.
Ich bin oft gefragt worden, warum ein entschiedener Militarist wie David Ben
Gurion, der erste Ministerpräsident und Verteidigungsminister, religiöse Schüler
vom Militärdienst befreite. Meine Erklärung ist ganz einfach: wie die meisten
von uns glaubte er, dass die jüdische Religion in diesem Land absterben würde.
Der Zionismus hat sie ersetzt. Der neue hebräische Pionier braucht all den
religiösen Unsinn nicht.
Dann kam der Krieg von 1967 und der Sieg wie ein Wunder, die Eroberung des
ganzen Landes bis zum Jordanfluss mit all den heiligen Stätten. Die jüdische
Religion war weit davon entfernt zu sterben. Die jüdische Religion kam plötzlich
wieder neu zum Leben. Nun breitet sie sich schnell aus, die Kippa kann überall
gesehen werden. Besonders unter den Siedlern.
Diese regenerierte Religion ist eng verbunden mit der extremen Rechten,
ultra-nationalistischen, die Araber hassende Ideologie. Dies ist die Welle, auf
der sich Netanjahu, ein nicht religiöser, nicht koscher essender,
super-nationalistischer Opportunist bewegt. Praktisch jeden Tag tauchen-
buchstäblich – neue national-religiöse Gesetze und Gesetzvorlagen auf.
Eine Gesetzesvorlage sagt, dass im Falle eines Zweifels Richter das jüdische
Gesetz („die Halacha) „befragen“ müssen. Diese alten Gesetze, einige davon 2500
Jahre alt, behandelt Frauen als minderwertig und verdammt Homosexuelle zur
Steinigung. Es hat nichts mit dem modernen Leben zu tun. Ein anderer
Gesetzentwurf erlaubt der Knesset-Mehrheit vom Parlament gewählte Mitglieder,
die den Staat nicht als „jüdisch und demokratisch“ anerkennen (das
könnte wie ein Oximoron klingen), rauszuwerfen. Schulbücher in säkularen
Schulen wird ein religiöser Beiklang gegeben (werden aber noch nicht verbrannt).
Unabhängige Lehrer werden entlassen. Der Minister für Bildung trägt
natürlich eine Kippa. Sechs Mitglieder des angesehenen Rates für höhere Bildung
haben ihr Amt aufgegeben, weil die Bemühung der Regierung dahin geht, den
illustren Körper mit nationalistischen und religiösen Aufwieglern voll zu
stopfen.
"Wo
ist die sog. Linke bei all diesem?" mag mancher wohl fragen. Sie sind
unsichtbar. Außer ein paar Übriggebliebenen als auch der belagerten arabischen
Fraktion sind sie still im Glauben, dass sie sich nach rechts (auch das Zentrum
genannt) bewegen müssen, um ihre Köpfe über dem heiligen Wasser
zu heben.
Ich werde nicht überrascht sein, wenn ich eines Abends den TV einschalte und
- siehe da – da ist Benjamin Netanjahus Kopf mit einer hübschen,
kleinen Kippa bedeckt.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)