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Die Krone und die Kohlen
Uri Avnery,
15.1.11
DER LIBANON steckt in einer
Krise. Was ist daran neu?
Seit der Gründung des
Staates vor 90 Jahren ist das Wort „Krise“ untrennbar mit seinem
Namen verbunden.
Aus israelischer
Perspektive hat diese Krise eine
doppelte Bedeutung.
Erstens gefährdet sie die
Ruhe an der nördlichen Grenze Israels. Jede interne Krise im Libanon kann leicht
zu einem Großbrand führen. Irgend jemand im Libanon mag eine Konfrontation
herbeiführen, um die Aufmerksamkeit von internen Dingen abzulenken. Irgend
jemand in Israel kann entscheiden, dass dies eine gute Gelegenheit sei,
irgendein israelisches Programm weiterzubringen.
Wenn ein dritter
Libanonkrieg ausbricht – Gott
verhüte es - droht
unsägliche Zerstörung auf beiden Seiten. Der zweite Libanonkrieg mag im
Vergleich dazu wie eine Picknick aussehen. Dieses Mal wären alle israelischen
Städte und Dörfer innerhalb der Reichweite von Hisbollahs Raketen. Während des
großen Feuers auf dem Karmel vor ein paar Wochen wurde klar, dass nichts für die
Verteidigung des Hinterlandes vorbereitet sei, abgesehen von einem
eindrucksvollen Arsenal von Reden und Erklärungen.
Aber diese libanesische
Krise ist auch auf einer ganz anderen Ebene bedeutsam. Sie beinhaltet eine
wichtige Lektion, die die existentielle Frage betrifft, mit der wir es gerade zu
tun haben: Israel in seinen Grenzen von 1967 oder Groß-Israel, das über all das
Land zwischen Mittelmeer und dem Jordan herrschen will.
Die libanesische Krise
ruft uns zu: Seht, wir haben euch gewarnt!
DIE LIBANESISCHE Krankheit
begann mit einer wichtigen Entscheidung, die an dem Tag, als der Staat
geschaffen wurde, getroffen wurde.
In den Augen
der Araber ist der Libanon ein Teil
Syriens. Groß-Syrien – al-Sham auf Arabisch – schließt den gegenwärtigen
syrischen Staat als auch den
Libanon, Palästina, Jordanien und den Sinai mit ein. Dies ist ein Grundlehrsatz
des modernen arabischen Nationalismus’.
Während der vierhundert
Jahre ottomanischer Herrschaft in der Region gab es keine wirklichen Grenzen
zwischen diesen Provinzen. Die verwaltungsmäßige Aufteilung wechselte von Zeit
zu Zeit, war aber unbedeutend. Man konnte problemlos von Haifa nach Damaskus
oder von Jerusalem nach Beirut
reisen.
Der Libanon ist ein Land
mit hohen Bergketten. Es ist eines der schönsten Länder der Welt. Diese
topographische Realität ermutigte verfolgte Minderheiten aus der ganzen Region,
dort nach einem Zufluchtsort zu
suchen. Sie richteten sich zwischen den Bergen ein, organisierten eine
Rundum-Verteidigung und hielten wild entschlossen an ihrer besonderen Eigenart
fest. Die sehr tolerante ottomanische Herrschaft gab jeder Gemeinschaft
weitreichende Autonomie ( das „Millet“-System).
So richteten
sich die Drusen in den Chufbergen ein, die christlichen Maroniten in den
zentralen Bergen und die Schiiten im Süden. Neben ihnen gab es andere
christliche Gemeinschaften (hauptsächlich griechisch-orthodoxe und
griechisch-katholische) und die
sunnitischen Muslime. Diese
letzteren waren besonders in den Küstenstädten – Tripoli, Beirut und Sidon –
konzentriert, - und
nicht durch Zufall -
etablierten die sunnitischen Ottomanen sie angesichts all dieser verschiedenen
Gemeinschaften dort als Wächter ihres Reiches.
DIE HISTORISCHE Veränderung
in den Annalen des Libanon geschah 1860. Bis dahin lebten die beiden großen
Gemeinschaften – die Maroniten und die Drusen – in angespannter Koexistenz. Es
gab viele Zusammenstöße zwischen ihnen, und eine Zeit lang errichteten drusische
Fürsten so etwas wie einen Ministaat in der Region. Aber die Beziehungen
zwischen ihnen waren erträglich.
1860 eskalierten die
lokalen Konflikte zu einer Katastrophe: die Drusen massakrierten die Christen.
Auch die Juden waren in Gefahr, und der britische Jude Moses Montefiori eilte
ihnen in seiner Kutsche zur Hilfe. Die Welt war schockiert –
das war eine Zeit, in der die Welt
von Massakern noch geschockt
wurde. Die Situation wurde
von den Franzosen ausgenützt, die schon immer ein begehrliches Auge auf
die „Levante“ geworfen hatten. Die Regierung in Istanbul war gezwungen, sie
als Beschützer der Christen im Libanon
anzuerkennen. Um die Christen zu schützen, wurde den libanesischen Bergen
ein autonomer Status innerhalb des Ottomanischen Reiches unter französischem
Protektorat verliehen.
Mit dem Zusammenbruch des
Ottomanischen Reiches am Ende des 1. Weltkrieges wurde
die Region zwischen den beiden Siegermächten – Großbritannien und
Frankreich – aufgeteilt.
In einem zynischen Verrat
ihres erklärten Zieles („nationale Selbstbestimmung“) übernahmen die Franzosen
Syrien (einschließlich des Libanon), während die Briten Palästina,
Transjordanien und den Irak übernahmen. Die Araber wurden nicht um ihre Meinung
gefragt. Als der Emir Feisal (der Bruder von Abdallah) ein syrisches Königreich
in Damaskus errichtete, wurde er brutal von den Franzosen verjagt. Eine spätere
nationale arabische Revolte gegen die Franzosen, seltsamerweise von den Drusen
angeführt, wurde mit großer Grausamkeit niedergeschlagen.
Die Muslime, die die
überwältigende Mehrheit im vereinigten Syrien darstellten, hassten die
französischen Eroberer und hassten sie bis zum letzten Tag ihrer
Herrschaft in Syrien, als die Briten sie im Laufe des 2. Weltkrieges ( und zwar
mit Hilfe „illegaler“ jüdischer Kräfte in Palästina vertrieben. Es war bei
dieser Kampagne, dass Moshe Dayan
eines seiner beiden Augen verlor und sein Markenzeichen, die Augenbinde, gewann
.)
DAS HAUPTZIEL der
französischen Herrschaft vom ersten Tag an war, die libanesischen Berge zu einem
soliden französischen Dominium zu machen, das sich auf die christliche
Bevölkerung gründet. Sie entschieden, den Libanon von Syrien abzutrennen und zu
einem separaten Staat zu machen. Diese Trennung verursachte unter den Muslimen
einen riesigen Sturm – aber ohne Wirkung.
Dann stellte sich die
wichtige Frage, die noch heute ihren Schatten über den Libanon wirft: Sollten
die Christen mit einem kleinen Staat
zufrieden sein, in dem sie eine entscheidende Mehrheit darstellen, oder
sollten sie einen großen Staat bevorzugen und
umfangreiche muslimische Gebiete annektieren. Dies wurde auf Französisch
„le Grand Liban“ - der Groß-Libanon
genannt.
Jeder Israeli kann dieses
Dilemma leicht erkennen.
Es gibt eine jüdische
Legende, die besagt, dass dem Pharao erzählt wurde, dass ein neugeborenes
Baby mit Namen Moses dafür bestimmt wurde,
König zu werden. Um es zu testen, bot Pharao dem Baby nebeneinander eine
goldene Krone und einen Haufen glühender Kohlen an. Das Baby streckte seine Hand
in Richtung der Krone aus, aber Gott sandte einen Engel, der die Hand in
Richtung der Kohlen schob. Pharao war
zufrieden, und Moses war gerettet.
Die Christen im Libanon
wurden auch vor die Wahl gestellt – und sie wählten die Krone.
Die Franzosen willigten in
ihre Forderungen ein und schlossen dem Libanon die muslimischen Städte Tripoli,
Beirut, Sidon und Tyros, das Bekaa-Tal und den ganzen schiitischen Süden an.
Alle Bewohner dieser „umstrittenen Gebiete“ – wie sie genannt wurden –
einschließlich der Schiiten, opponierten heftig dagegen, aber vergeblich. Jede
Opposition wurde brutal von den Franzosen
niedergeschlagen.
SOGAR SCHON bei der
Gründung von Groß-Libanon stellten die Maroniten eine Minderheit der Bevölkerung
dar. Alle Christen zusammen, einschließlich aller verschiedenen Konfessionen,
waren eine knappe Mehrheit. Es war klar, dass die Muslime mit ihrer höheren
Geburtsrate in absehbarer Zukunft die Mehrheit im christlichen Staat sein würde.
Dies geschah natürlich. Die
Muslime gaben ihren Traum, das Rad zurückzudrehen, auf. Sie forderten nicht
mehr, die „umstrittenen Gebiete“
ihrem syrischen Heimatland zurückzugeben. Aber sie begannen, gegen die
Vorherrschaft der Christen im Libanon zu kämpfen. Im Laufe der Zeit wurden die
Christen gezwungen, Teile ihrer Privilegien an andere Gemeinschaften abzugeben.
Eine unumstößliche kommunale
Teilung wurde eingesetzt: der
Präsident ( mit weitreichender Exekutivmacht) war immer ein Christ, der
Ministerpräsident ein sunnitischer Muslim und so weiter ….Aber innerhalb kurzer
Zeit reflektierte diese Teilung auch nicht mehr die demographische Realität.
Um eine israelische
Ausdrucksweise zu verwenden: Der Libanon behauptete, ein „christlicher und
demokratischer Staat“ zu sein. Aber
eigentlich war es nie ein demokratischer Staat und hörte auch auf, ein
christlicher Staat zu sein.
Die kurze Geschichte des
Libanon besteht fast nur aus einem Kampf zwischen den Gemeinschaften, die gegen
ihren Willen wie Katzen in einem Sack vereinigt wurden. Man kann eine Menge
darüber aus dem kürzlich erschienenen ausgezeichneten Buch ( auf Englisch) von
Patrick Seale lernen: „Der Kampf um arabische Unabhängigkeit“.
Der Kampf erreichte einen
seiner Höhepunkte im großen Bürgerkrieg, der 1975 begann. Die Syrer überfielen
das Land, um (wie ironisch) die
Christen gegen die Muslime zu
verteidigen, die durch die PLO
verstärkt wurden, die eine Art Ministaat im Süden des Landes errichtet hatten,
nachdem sie aus Jordanien vertrieben worden waren.
In dieses Durcheinander
tappten die Führer Israels ohne die geringste Ahnung über die komplexe Situation
des Landes. Sharon fiel 1982 in den Libanon ein, um die PLO zu vernichten
und um die Syrer – ihre Feinde – zu vertreiben. Die IDF machten mit den
Maroniten ein Abkommen, ohne sich darüber im klaren zu sein, dass sie viel
besser waren, wahllose Massaker
(Sabra und Shatila) auszuüben, als wirklich zu kämpfen. 18 Jahre und Hunderte
getöteter Soldaten waren nötig, bis sich
die israelische Armee
endlich aus dieser Falle zurückzog.
Die israelische
Intervention hatte nur eine anhaltende Wirkung, und zwar eine völlig
unerwartete. Die Schiiten im Südlibanon, die unterdrückteste Gemeinschaft im
Lande, die von beiden, den Christen und den Sunniten aufs äußerste verachtet
wurde, wachten plötzlich auf. In ihrem langen Guerillakrieg gegen die
israelische Armee wurden sie eine bedeutende politische und
militärische und schließlich eine entscheidende
Kraft im Libanon. Wenn die Hisbollah tatsächlich das ganze Land
übernehmen sollte, dann schuldet sie Ariel Sharon auf dem zentralen Platz in
Beirut ein Denkmal.
DIE GEGENWÄRTIGE Krise ist
eine Fortsetzung aller früheren Krisen. Aber während der 90 Jahre der Existenz
des Libanonstaates haben große Veränderungen stattgefunden. Die Christen sind
jetzt eine sekundäre Kraft geworden; die sunnitischen Muslime haben auch
gesehen, wie ihre politische Bedeutung schwindet. Nur die Schiiten haben
gewonnen.
Die augenblickliche Krise
begann mit der Ermordung von Rafik al-Hariri, dem sunnitischen
Ministerpräsidenten, dessen Platz von seinem Sohn Saad-al Din Rafiq al-Hariri
übernommen wurde (Das Wort
„assassination“ (politischer Mord)
kommt übrigens von der mittelalterlichen schiitischen Sekte der
Hashishi’in.) Eine
internationale Untersuchung wurde ins Rollen gebracht, hauptsächlich, um Syrien,
den Feind der USA, zu schädigen, aber die Spuren führten in
Richtung Hisbollah. Um dem
Bericht zuvor zu kommen, brachte die Hisbollah und ihre Verbündeten
(einschließlich eines wichtigen christlichen Generals) in dieser Woche
die Koalitionsregierung, von der sie ein Teil sind, zu Fall. Saudi Arabien und
Syrien, bis vor kurzem Todfeinde, vereinigten die Kräfte, um eine Katastrophe zu
vermeiden, die sich leicht über die ganze Region ausbreiten könnte. Sie boten
einen Kompromiss an – aber die USA befahlen ihrem Mann, Hariri, diesen
zurückzuweisen.
Die Amerikaner ähneln
den Israelis– und
übertreffen sie sogar
- mit ihrer Arroganz und Ignoranz, die an Unverantwortlichkeit grenzt.
Ihre Intervention in dieser Woche, von der eine
frivole Geringschätzung der unglaublichen Komplexität, die Libanon heißt,
ausgeht, kann einen Bürgerkrieg und/oder einen Großbrand auslösen, der Israel
mit hineinzieht.
All dies hätte verhindert und 90 Jahre Leiden hätten vermieden werden können, wenn die Christen damals mit ihrem Teil des Landes zufrieden gewesen wären. Als sie die Option Groß-Libanon wählten - sehr ähnlich dem „Groß-Israel“ – so verurteilten sie sich selbst und ihr Land zu 90 Jahren Krieg und Elend, ohne dass ein Ende in Sicht ist.
Im entscheidenden
Augenblick lenkte kein Engel ihre Hand von der goldenen Krone zu den brennenden
Kohlen. Nun stehen wir Israelis vor einer sehr ähnlichen Wahl.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)