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Der Mann , der sprang

Uri Avnery, 30. Dezember 2017

KEINER BESCHREIBT den Ausbruch des palästinensisch-israelischen Konfliktes besser als der Historiker Isaak Deutscher.

Ein Mann lebt in einem Haus, das zu brennen anfängt. Um sein Leben zu retten, springt er aus dem Fenster.  Er landet auf einem Vorübergehenden auf der Straße unten und verletzt ihn schwer.  Zwischen den beiden  bricht eine  ernste Feindseligkeit  aus. Wer ist schuld?

Natürlich kann keine Parabel die Realität genau wiedergeben. Der Mann, der aus dem brennenden Haus sprang, landete nicht zufällig auf diesem besonderen Vorübergehenden. Der Vorübergehende wurde ein lebenslanger Invalide. Aber im Ganzen gesehen ist diese Parabel besser als jede andere, die ich kenne.

Deutscher lieferte kein Antwort auf die Frage: wie kann der Konflikt gelöst werden? Sind die beiden verurteilt, sich einander auf immer zu bekämpfen? Gibt es eine Lösung?

DER GESUNDE Menschenverstand würde sagen: Natürlich gibt es eine.  Die verletzte Person kann nicht in ihren früheren  Zustand zurückgebracht werden.  Der Mann, der die Verletzung verursachte, kann nicht in sein früheres Haus, das durch Feuer zerstört wurde, zurückkehren.  Aber …

Aber der Mann kann – und muss – sich bei seinem Opfer entschuldigen. Das ist das Mindeste. Er kann – und muss – ihm  eine Entschädigung zahlen. Das ist es, was  die Gerechtigkeit fordert.  Dann können sie – sogar – Freunde werden. Vielleicht sogar  Partner.

Stattdessen verletzt der Mann weiter das Opfer. Er überfällt das Haus des Opfers und wirft es hinaus. Die Söhne des Opfers versuchen, den Mann zu vertreiben. Und so geht es weiter.

Deutscher selbst, der vor den Nazis aus Polen nach England floh, erlebte die Fortsetzung der Geschichte nicht mehr. Er starb wenige Tage nach dem Sechs-Tage-Krieg.

Statt sich unendlich zu streiten, wer Recht und wer Unrecht hat, wie wunderbar wir   und wie abscheulich die andern sind, sollten wir eher über die Zukunft nachdenken.

Was wünschen wir?  In welcher Art eines Staates wollen wir leben? Wie beenden wir die Besatzung und was kommt danach?

Israel ist geteilt unter die „Linken“ und die „Rechten“. Ich mag diese Begriffe nicht – sie sind offensichtliche Fehlbenennungen. Sie wurden in der französischen Nationalversammlung vor mehr als zweihundert Jahren durch das zufällige Sitzen der Parteien damals im Sitzungssaal geschaffen, wie sie vom Redner aus gesehen wurden.  Benutzen wir sie der Einfachheit halber trotzdem.

Die wirkliche Teilung besteht aus denen, die das Volk dem Land vorziehen und jenen, die das Land dem Volk vorziehen. Was ist heiliger?

In den frühen Tagen des Staates machte ein Witz die Runde: Gott rief Ben-Gurion  und sagte ihm: Du hast großartige Dinge für mein Volk getan, wünsche dir etwas und ich werde dir den Wunsch erfüllen.

Ben Gurion antwortete:  „Ich wünsche mir, dass Israel ein jüdischer Staat wird, dass er alles Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan umfasst und dass es ein gerechter Staat ist.“

„Das ist sogar für mich zu viel“, sagte Gott. „Aber ich werde dir von den drei Wünschen zwei  erfüllen.“

Seit damals haben wir die Wahl zwischen einem jüdischen  und einem gerechten Staat in einem Teil des Landes oder einen jüdischen im ganzen Land, der aber nicht gerecht sein wird,  oder einen größeren und gerechten Staat, der nicht jüdisch ist.

Ben Gurion  muss in seinem Grab weinen.

WELCHES  SIND also die Lösungen, die von den zwei  größeren Parteien in der israelischen Politik vorgeschlagen werden?

Die „Linke“ hat jetzt ein klares Programm. Ich bin stolz darauf, daran beteiligt gewesen zu sein. Es sagt mehr oder weniger.

a)     Ein Staat  Palästina wird  neben dem Staat Israel entstehen.

b)     Zwischen den beiden Staaten wird Frieden sein, der sich auf ein Abkommen gründet, das offene Grenzen bietet  und nahe gegenseitige Beziehungen,

c)     Es wird  - soweit nötig und nach Absprache– gemeinsame Institutionen geben.

d)    Die vereinigte Stadt von Jerusalem wird  die Hauptstadt beider Staaten sein, West-Jerusalem die Hauptstadt Israels und Ost-Jerusalem die Hauptstadt Palästinas.

e)     Es wird einen begrenzten abgestimmten  eins zu eins-Austausch von Land geben

f)       Es wird eine begrenzte, symbolische Rückkehr von Flüchtlingen nach Israel geben , alle andern Flüchtlinge werden großzügige Entschädigung erhalten und in den Staat Palästina zurückkehren oder dort bleiben, wo sie jetzt sind.

g)      Israel wird  hauptsächlich ein jüdischer Staat sein mit Hebräisch als  seiner ersten offiziellen Sprache und offen  für jüdische Einwanderung  - entsprechend ihren Gesetzen.

h)    Beide Staaten werden sich gemeinsamen regionalen Institutionen anschließen.

Dies ist ein klares Bild der Zukunft.  Die begeisterten Zionisten und die Nicht-Zionisten können dies beide  mit ganzem Herzen  akzeptieren.

WELCHES IST DAS Programm der „Rechten“?  Wie sehen ihre Ideologen die Zukunft?

Die einfache Tatsache ist die, dass die Rechte keine Vorstellung der Zukunft, kein Programm, ja nicht einmal einen Traum hat. Nur vage Gefühle.

Das kann ihre Stärke sein. Gefühle sind eine starke Kraft im Leben von Nationen.

Was die Rechte wirklich wünschen würde, ist die endlose Fortsetzung der gegenwärtigen Situation: die militärische Besatzung der Westbank und Ost-Jerusalem und die indirekte Besatzung des Gazastreifens, verstärkt durch die Blockade.

Die kalte Logik sagt, dass dies eine unnatürliche Situation ist, die nicht auf Dauer bleiben kann. Früher oder später muss sie institutionalisiert werden. Doch wie?

Es gibt zwei Möglichkeiten und nur zwei: einen Apartheid-Staat oder einen bi-nationalen Staat. Das ist so offensichtlich, dass selbst der fanatischste Rechte dies nicht leugnen kann.  Keiner versucht dies.

Es gibt eine vage Hoffnung, dass die Araber in Palästina irgendwie Schluss machen und weggehen. Das wird nicht geschehen. Die einmaligen Umstände von 1948 werden und können sich nicht wiederholen.

Ein paar gut situierte Palästinenser werden tatsächlich nach London oder Rio de Janeiro gehen, aber die demographische Situation  wird sich nur geringfügig  verändern. Die Masse des Volkes wird  bleiben, wo es ist -  und   wird mehr werden.

Schon jetzt leben zwischen dem Meer und dem Fluss im Groß-Israel der Träume entsprechend der letzten Volkszählung (Juli 2016)  6 510 894  Araber und  6 114 546 Juden. Die arabische  Geburtenrate wird kleiner werden, wie auch  die  jüdische (außer   bei den Orthodoxen).

Wie würde das Leben in einem israelischen Apartheid-Staat aussehen? Eines ist sicher:  es würde keine Massen von Juden anziehen. Die Kluft zwischen jüdischen Israelis und Juden in den USA und anderen Ländern würde langsam und unaufhaltsam breiter werden.

Früher oder später würde die entrechtete Mehrheit sich erheben, die Weltmeinung würde Israel verurteilen und boykottieren und das Apartheidsystem würde auseinanderbrechen. Was würde bleiben?

Was bleiben würde, ist das, was fast alle Israelis fürchten: der bi-nationale Staat.  Eine Person – eine Stimme. Ein Land, das sehr anders ist als Israel. Ein Land, aus dem  viele israelische Juden auswandern, entweder langsam oder schnell.

Dies ist keine Propaganda, sondern eine einfache Tatsache. Falls es irgendwo einen Ideologen von rechten Flügel gibt, der eine Antwort  auf dies hat, der möge jetzt aufstehen, bevor es zu spät ist.

ICH KANN der Versuchung nicht widerstehen, den alten Witz noch einmal zu erzählen:

Eine betrunkene britische Dame stand mit einem Glas Whisky in der Hand auf dem Deck der Titanic und sieht, wie sich der Eisberg nähert. „Ich habe um etwas Eis gebeten“, ruft sie aus. „Aber dies ist lächerlich!“

(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)