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Uri Avnery
29. Juli 2017
Der Marsch der Torheit
Mein verstorbener Freund, Nathan Yellin-Mor, der politische Führer der
LEHI-Untergrundbewegung sagte mir einst, dass ein gewisser Politiker „kein
großer Denker und kein kleiner Dummer“ sei.
Ich erinnere mich, dass mir der Satz jedes Mal einfällt, wenn ich an Gilad Erdan
denke, unser Minister für Innere Sicherheit. Sein Anteil an den Ereignissen der
letzten Wochen, in denen der gesamte Nahe Osten beinahe explodiert wäre,
bestärkt dieses Urteil.
Einerseits erinnert mich Binjamin Netanyahu an das Sprichwort: „Ein cleverer
Mensch ist jemand, der weiß, wie er aus einer Falle wieder herauskommt, in die
ein kluger Mensch gar nicht erst hineingeraten wäre.“
Über Netanyahu hätte ich gesagt: „ Ein sehr kleverer, aber nicht sehr kluger
Mensch.“
ES GIBT zwei Wege, um historische Desaster zu betrachten. Der eine sieht sie als
Verschwörung übler Menschen, der andere sieht in ihnen Handlungen aus Torheit.
Es ist leicht, die erste
Auffassung zu verstehen. Letztendlich kann es nicht
sein, dass unser eigenes Leben von einem Haufen Narren abhängt, die von nichts
eine Ahnung haben.
Zum Beispiel könnte man leicht glauben, dass Binyamin Netanyahu einen geheimen
Befehl an einen Sicherheitsbeamten in der israelischen Botschaft in Amman
sandte, zwei Jordanier zu töten, um ihm (Netanyahu) zu ermöglichen, mit dem
König von Jordanien über die Entlassung des Mannes zu verhandeln als
Gegenleistung für die Entfernung der Metalldetektoren am Tempelberg in
Jerusalem. Pure Genialität.
Die andere Version ist bedeutend prosaischer. Sie besagt, dass fast alle
Menschen, die das Schicksal der Nationen und Länder bestimmen – Kaiser und
Könige, Staatsmänner und Generäle, Linke und Rechte – perfekte Narren sind. Eine
erschreckende Idee. Aber es war immer so und ist es noch immer. In der ganzen
Welt, vor allem aber in Israel.
Einer meiner Freunde sagte diese Woche: „Es besteht keine Notwendigkeit, Kameras
auf dem Tempelberg zu installieren,
wie man es getan hat.
Wir sollten die Kameras eher
im Kabinettsaal installieren, weil das die größte Gefahrenquelle für Israels
Zukunft ist.“
Amen!
BARBARA TUCHMAN, die amerikanisch-jüdische Historikerin, schuf den Satz „der
Marsch der Torheit“. Sie recherchierte mehrere historische Desaster und bewies,
dass sie aus purer Dummheit verursacht wurden.
Ein Beispiel: Der Erste Weltkrieg mit seinen Millionen Opfern, der das Ergebnis
einer Reihe unglaublicher dummer Handlungen war.
Ein serbischer Fanatiker tötete einen österreichischen Erzherzog, dem er
durch
Zufall wieder begegnete, nachdem der geplante
Attentatversuch auf ihn fehlgeschlagen war. Der österreichische Kaiser sah eine
Gelegenheit, um seine Tapferkeit zu zeigen und stellte dem kleinen Serbien ein
Ultimatum. Der russische Zar mobilisierte seine Armee, um die slavischen Brüder
zu verteidigen. Der deutsche Generalsstab hatte einen Plan, der vorsah, dass die
deutsche Armee, sobald die Russen mit der Mobilisierung ihrer unflexiblen Armee
begannen, in Frankreich eindringen und es zerschlagen würde, bevor die Russen
kampfbereit wären. Die Briten erklärten den Krieg, um die Franzosen zu
unterstützen.
Keiner dieser Akteure wollte einen Krieg – und am wenigsten einen Weltkrieg.
Jeder von ihnen trug ein wenig Torheit bei. Gemeinsam starteten sie einen Krieg
mit Millionen Toten, Verwundeten und Behinderten. Am Ende waren sich alle einig,
dass die einzige Person, die die Schuld dafür trug, der
arme deutsche Kaiser war, der auch kein kleiner Narr
war.
DIESELBE Historikerin hätte
sicher gerne über die letzten Ereignisse auf dem
Tempelberg in Jerusalem geschrieben.
Drei palästinensische Fanatiker, Bürger Israels, töteten auf dem Tempelberg
zwei Grenzpolizisten, die Drusen waren. (Die Drusen
sind eine separate, halb-muslimische Sekte).
Irgendjemand, wahrscheinlich einer aus dem Polizeibereich, kam auf die
brilliante
Idee, dort Metalldetektoren zu installieren, um
solche Gräueltaten zu verhindern.
Nur drei Minuten Nachdenken hätte genügt, um zu
begreifen, dass das eine dumme Idee war. An einem guten Tag betreten
hunderttausende Muslime den Tempelberg, um in und vor der al-Aksa-Moschee, eines
der drei höchsten Heiligtümer des Islams (nach Mekka und Medina), zu beten.
Diese Massen durch die Detektoren zu schleusen, wäre dasselbe, wie einen
Elefanten durch ein Nadelöhr zu schleusen.
Es wäre einfach gewesen, die Waqf-Behörden anzurufen (Waqf
ist eine muslimische Stiftung), die die Verantwortung
für den Tempelberg haben. Diese hätten den Gedanken verworfen, weil das die
israelische Souveränität über die heilige Stätte behauptet hätte. Ebenso hätten
sie den König von Jordanien anrufen können, der formell für die Waqf zuständig
ist. Er hätte dem Nonsens ein Ende bereitet.
Stattdessen erfasste diese Idee Erdan, der sofort
begriff, dass diese Aktion ihn in einen Helden verwandeln würde. Erdan ist
46 Jahre alt und wurde in einem religiösen
Seminar erzogen. In der Armee diente er in keiner Kampfeinheit, sondern in einem
Büro. Die typische Karriere eines Politikers des rechten Flügels.
Erdan benahm sich wie ein Kind, das mit dem Feuer in der Nähe eines
Benzinkanisters
spielt. Die Metalldetektoren wurden montiert, ohne
die Waqf-Behörden und den König zu informieren. Im letzten Moment informierte er
Netanyahu, dessen Abreise ins Ausland kurz bevorstand.
Netanyahu hat viele teure Hobbys, aber sein liebstes ist, ins Ausland zu reisen
und die Größten der Welt zu treffen, um zu beweisen, dass er einer von ihnen
ist. Er wollte sich mit dem neuen Präsidenten von Frankreich treffen und danach
mit vier Führern aus Osteuropa, allesamt halbe Demokraten und zu einem Viertel
Faschisten.
Netanyahu war nicht in der Stimmung, um sich um den Nonsens von Erdan, einem
seiner Zwerge, zu kümmern, kurz bevor er die
Riesen der Welt
treffen würde. Ohne genau zu wissen, was er tat, bewilligte er die Detektoren.
Wann der General-Sicherheitsdienst (Shabak) gefragt wurde, ist nicht klar. Aber
dieses Gremium, das tief mit der arabischen Realität verbunden ist, warnte davor
– ebenso wie der
Militärnachrichtendienst. Aber wer sind sie schon, im
Vergleich zu Erdan und seinem Polizeikommissar, ein Kipa tragender Kommandeur,
der auch keine Leuchte ist.
IM AUGENBLICK, wo die Detektoren montiert wurden, explodierten die Ereignisse.
In den Augen der Muslime sah es nach einem israelischen Versuch aus, den Status
Quo zu verändern und Herren des Tempelbergs zu werden. Der Benzinkanister fing
Feuer.
Der Wahnsinn der Entscheidung wurde sofort sichtbar. Jehova und Allah betraten
die Szene. Die muslimischen Gläubigen weigerten sich, durch die Detektoren zu
gehen. Die Massen begannen, auf den Straßen zu beten.
Der Ernst der Lage kam bald zum Vorschein. Muslime, sowohl israelische Bürger,
als auch solche aus den besetzten Gebieten, die einen Moment zuvor noch eine
gesichtslose Masse waren, entpuppten sich plötzlich als ein entschlossenes Volk,
bereit zum Kampf. Das war eine echte Leistung von Erdan. Bravo!
Die Detektoren entdeckten keine Waffen, aber sie enthüllten die Dimensionen
der Torheit der Regierung. Massendemonstrationen
fanden in Jerusalem, in den arabischen Stadtvierteln in Israel, in den besetzten
Gebieten und in den Nachbarländern statt. Am ersten Wochenende wurden sieben
Personen getötet und hunderte verletzt.
Das neue Idol hieß „Souveränität“. Die israelischen Behörden konnten die
Detektoren nicht entfernen, ohne die „Souveränität“ aufzugeben (und den
„Terroristen“ gegenüber konnte man nicht nachgeben). Die Waqf-Behörden konnten
nicht nachgeben, ohne die „Souveränität“ über das dritt-größte Heiligtum des
Islams zu opfern. Übrigens, keine einzige Regierung weltweit erkennt Israels
Souveränität über Ost-Jerusalem an.
Die Muslime befürchten, dass die Juden, wenn sie den Tempelberg übernähmen, den
Felsendom (die wunderschöne blaue und goldene Kuppel-Struktur) und die
al-Aksa-Moschee zerstören und den Dritten Tempel an ihrer Stelle errichten
würden. Das mag verrückt klingen, aber es gibt in Israel bereits Randgruppen,
die Priester ausbilden und Geräte für den Tempel herstellen.
Laut Barbara Tuchman, können Führer
der Torheit nur angeprangert
werden, wenn mindestens eine kluge Person sie
gewarnt hat. In unserem Falle war diese Person Moshe Dayan, der sofort nach der
Eroberung des Tempelbergs 1967 befahl, die israelische Flagge zu entfernen, und
den Soldaten verbot, ihn zu betreten.
NIEMAND WUSSTE, wie man wieder aus der Sackgasse herauskommen konnte.
Netanyahu unterbrach seine erfolgreiche Rundreise im Ausland nicht, um nach
Hause zu eilen und die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Warum sollte er? Wenn
er jedesmal nach Hause eilte, wenn einer seiner Lakaien eine Torheit begangen
hatte, wie könnten dann er und Sara'le, seine Frau, sich an der Welt erfreuen?
Und dann geschah ein göttliches Wunder. Gott selbst beteiligte sich an dem
Kampf.
Ein jordanischer Tischler arbeitete in dem Appartment eines israelischen
Sicherheitsbeamten in der israelischen Botschaft in Amann. Plötzlich griff er
den Beamten mit einem Schraubenzieher an und verletzte ihn leicht. Der Beamte
zog seinen Revolver und erschoss ihn.
Ohne guten Grund erschoss er auch den Eigentümer des
Appartments, einen jordanischen Arzt.
Es ist nicht klar, ob es sich bei dem Vorfall um eine Auseinandersetzung um Geld
handelte oder ob der Handwerker plötzlich entschied, ein „Märtyrer“ zu werden.
Es ist auch nicht klar, weshalb der Sicherheitsbeamte ihn erschoss, anstatt nur
ins Bein zu schießen oder eine der Kampftechniken anzuwenden, in der er
trainiert worden war.
Der ehemalige Premierminister Yitzhak Shamir, selbst kein kleiner Terrorist,
hatte einst verkündet, dass es keinem (arabischen) Terroristen erlaubt sein
sollte, die Terrorszene lebend zu verlassen. Und in der Tat, seitdem blieb
kaum einer mehr am Leben, weder ein Mädel mit
einer Schere, noch
ein Mann, der einen Schraubenzieher schwang. Sogar ein tödlich getroffener
Angreifer, der am Boden lag und verblutete, wurde noch in den Kopf geschossen.
(Der Schütze wurde diese Woche aus dem Gefängnis entlassen).
Jedenfalls war für Netanyahu und Erdan der Vorfall in Amann ein Geschenk des
Himmels. Der jordanische König stimmte zu, den Sicherheitsbeamten ohne
Untersuchung zu entlassen, im Gegenzug zur Entfernung der Metalldetektoren in
Jerusalem. Mit einem Seufzer der Erleichterung, der im ganzen Land zu vernehmen
war, stimmte Netanyahu zu. Kein Israeli konnte gegen die Entfernung der
Detektoren sein, als Gegenleistung zur Rettung eines unserer gallanten Jungen.
Es war keine Aufgabe der „Souveränität“, es war die Rettung eines Juden – ein
altes jüdisches Gebot.
Alle Mitarbeiter der Botschaft wurden nach Israel
zurückgeholt –
eine Stunde Fahrt – und Netanyahu
feierte ihre „Rettung“ – obwohl niemand sie bedroht hatte.
ZWISCHENZEITLICH geschah noch etwas anderes.
Netanyahu
fürchtet weder Gott, noch die Araber. Er
fürchtet sich vor Naftali Bennett.
Bennett ist der Führer der Partei, „Jüdische-Heimat“, Nachfolger der
National-Religiösen-Partei, einst eine sehr moderate Partei in dem Land. Nun ist
sie die extremste rechte Partei. Es ist eine kleine Fraktion, mit lediglich acht
Knesset-Mitgliedern (von 120); aber das reicht, um die Koalition zu brechen und
die Regierung zu stürzen. Netanyahu hat Todesangst davor.
Als ihm die Wut über die Detektoren zu Kopf gestiegen war, drang ein junger
Araber in die Halamish-Siedlung ein und tötete drei Mitglieder
einer Siedlerfamilie. Er wurde verwundet
und gefangen, wundersamerweise blieb er am
Leben und kam ins Krankenhaus.
Bereits ein paar Stunden später verlangten Bennett und seine Justizministerin,
dass der Mörder hingerichtet wurde. Es gibt in Israel keine Todesstrafe, aber
aus irgendwelchen Gründen wurde diese Strafe nicht vom Kodex der Militärgerichte
gestrichen. So verlangten Bennett und seine wunderschöne Justizministerin, sie
anzuwenden.
In der gesamten Geschichte Israels
wurden nur zwei Menschen hingerichtet. Einer war
Adolf Eichmann, einer der Holocaust-Architekten. Der andere war ein Ingenieur,
der der Spionage angeklagt war, (fälschlicherweise, wie sich später
herausstellte) in der ersten Woche des Staates.
Die Forderung nach der Todesstrafe ist unglaublich dumm. Jeder „Terrorist“
träumt davon, ein „Shahid“ zu werden – einer, der sein Leben für Allah opfert
und somit ins Paradies eingeht. Seine Hinrichtung würde seinen Traum erfüllen.
Und nichts erregt mehr nationale und internationale Emotionen als eine
Hinrichtung.
Die Anhänger der Todesstrafe und die Öffentlichkeit, die sie unterstützt, haben
etwas Krankhaftes an sich.
Wenn ihre Forderung akzeptiert würde – keine Chance – würde das einen großen
Sieg für die muslimischen Fanatiker bedeuten. Glücklicherweise widersetzen sich
alle israelischen Sicherheitsdienste strikt dieser Forderung.
Aber in einem
von der Torheit beherrschten Establishment entfacht
selbst dieser Irrsinn Aufmerksamkeit und Unterstützung.
(übersetzt von Inga Gelsdorf, vom Verfasser autorisiert)