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Menschenjagd
Uri Avnery,
16. Juni 2012
“WIR WERDEN kein normales
Volk sein, bevor wir hier nicht jüdische Huren und jüdische Diebe haben,“ sagte
unser Nationaldichter Chaim Nachman Bialik vor etwa 80 Jahren.
Dieser Traum hat sich
erfüllt. Wir haben jüdische Mörder, jüdische Räuber und jüdische Huren
(obwohl die meisten Prostituierten in Israel von Sklavenhändlern
aus Osteuropa über die
Sinaigrenze importiert werden.)
Aber Bialik war auch
anspruchslos. Er hätte noch hinzufügen sollen: Wir werden kein normales Volk
werden, bis wir jüdische Neo-Nazis haben.
DAS ZENTRALE Thema in den
Nachrichten all unserer elektronischen und gedruckten Medien
ist heute die schreckliche Gefahr der „illegalen“ afrikanischen
Einwanderer.
Afrikanische Flüchtlinge
und Arbeitsuchende werden aus verschiedenen Gründen von Israel angezogen, keiner
der Gründe ist der glühende Glauben an den Zionismus.
Der erste Grund ist
geographisch. Israel ist das einzige Land mit einem europäischen Lebensstandard,
das von Afrika aus ohne Überquerung eines Meeres erricht werden kann. Afrikaner
können leicht Ägypten erreichen, und dann
müssen sie nur noch die Sinaiwüste durchqueren, um an die israelische
Grenze zu kommen.
Die Wüste ist die Heimat
der Beduinenstämme, für die das Schmuggeln eine uralte Beschäftigung ist. Ob das
libysche Waffen für die Hamas im Gazastreifen sind, ukrainische Frauen für die
Bordelle in Tel Aviv oder
Jobsuchende aus dem Sudan – für gutes Geld werden die Beduinen sie alle an ihr
Ziel bringen. Unterwegs könnten
sie für Lösegeld und die Frauen vergewaltigt
festgehalten werden sollen.
Die Afrikaner –
hauptsächlich von Nord- und Südsudan und Eritrea – werden vom israelischen
Arbeitsmarkt angezogen. Israelis haben schon seit langem aufgehört, niedrige
Arbeiten zu machen. Sie brauchen Leute, die in vornehmen Restaurants das
Geschirr abwaschen, die Wohnungen reinigen und
die schweren Behälter auf
den Märkten tragen.
Jahrelang wurden diese
Arbeiten von Palästinensern aus der Westbank und dem Gazastreifen gemacht. Nach
den Intifadas hat unsere Regierung dem ein Ende gesetzt.
Die Afrikaner besetzen jetzt deren Plätze.
Natürlich werden sie
- nach israelischer Sichtweise – mit Hungerlöhnen
bezahlt, aber genug, dass die Migranten noch Geld an ihre Familien
zurückschicken können. Kleine Dollar-Summen werden dort wie ein Vermögen
angesehen.
Um es möglich zu machen, Geld zu überweisen, führen die Migranten ein Hundeleben. Fast alle sind Singles, eingepfercht in alte, schmutzige Häuser in den Slums von Tel Aviv und anderen Städten, sie schielen nach den lokalen Mädchen, zur Erholung betrinken sie sich.
Die israelischen Bewohner
dieser Slums, die Ärmsten der Armen, hassen sie. Sie beschuldigen sie aller
möglichen Verbrechen, einschließlich Vergewaltigung, gewalttätigen Streits und
Mordes. Sie glauben auch, dass sie gefährliche Krankheiten, die in Israel fast
unbekannt sind, einschleppen, wie Malaria und Tuberkulose. Sie sind nicht wie
die Israelis nach der Geburt geimpft worden.
Alle diese Anklagen sind
natürlich weit übertrieben. Aber man kann die israelischen Slumbewohner
verstehen, die mit den armen Ausländern, mit denen sie keine Verbindung haben,
zusammen leben müssen.
Unter solchen Umständen
blüht Rassismus. Die Afrikaner werden leicht an ihrer Hautfarbe erkannt.
Die üblichen rassistischen
Slogans – „sie vergewaltigen unsere Frauen,“ „sie verbreiten unheilbare
Krankheiten“, „sie sind wie Tiere“
sind zahlreich, in Israel kommt noch einer hinzu: „Sie gefährden unsern
jüdischen Staat“.
Alles in allem gibt es
jetzt 60 000 Afrikaner in Israel, denen noch 3000 Neuankömmlinge in jedem Monat
hinzugefügt werden müssen. Dann gibt es in Israel auch eine große Anzahl von
(legalen)Thais, die in der Landwirtschaft arbeiten, Chinesen und Rumänen, die in
der Bauindustrie arbeiten, Philippinen, die Kranken und Alten beistehen.
(Ein im Umlauf befindlicher
Witz: ein alter Palmachnik – Mitglied einer vorstaatlichen illegalen
militärischen Organisation – besucht ein Veteranentreffen und
ruft aus: „Wow, ich wusste gar nicht, dass so viele Philippinen in der
Palmach waren!“)
Mit Israels
jüdischer Bevölkerung, die
sich auf 6,5 Millionen beläuft und der arabischen Bürger von 1,5 Millionen, ist
es leicht, die Migranten als eine schreckliche Gefahr für
die Jüdischkeit des Staates darzustellen.
WIE EIN Sumpf, der Moskitos
anzieht, so zieht eine solche Situation Volksverhetzer und Aufhetzer an. Wir
haben genug davon.
Vor zwei Wochen brachen
Unruhen im Tel Aviver Hatikva-Viertel aus, einem der betroffenen Slums.
Afrikaner wurden angegriffen, Läden, die Afrikanern gehören, wurden geplündert.
Wie durch Zauber angezogen
erschienen in kürzester Zeit alle wohlbekannten faschistischen Agitatoren auf
der Szene, stachelten die Menge gegen die Afrikaner und die linken
„Sensibelchen“ an.
Die meiste Medienbeachtung
wurde einem Likud-Mitglied des Parlamentes, Miri Regev, gegeben.
Ihr genügten die üblichen Schimpfnamen nicht, sie schrie, dass die
Afrikaner „ ein Krebsgeschwür“ seien.
Dieser Ausdruck aus dem
Goebbelschen Lexikon schockierte viele im ganzen Land. Regev ist nicht
nur eine hübsche Frau, sondern auch eine frühere Chefsprecherin der israelischen
Armee (vom früheren Stabschef des verheerenden Libanonkrieges Dan Halutz
ernannt, an dessen Bemerkung man sich gut erinnert: wenn ich eine Bombe über
einem Wohnviertel fallen lasse, „spüre ich nur ein leichtes Rütteln am Flügel“)
Regev
erreichte mit ihrer Rede die Schlagzeilen
und wurde mit zahlreichen TV-Interviews belohnt, in denen man sie kennen
lernen konnte. Sie sprach wie einst
die Fischerfrauen. (Hier ist keine Beleidigung von Fischerfrauen beabsichtigt).
Sie war, um es unverblümt zu sagen, ekelhaft.
WAS DEN Ekel betrifft: ich
habe ein persönliches Hobby. Jede Woche wähle ich – streng für mich – die
ekelhafteste Person im israelischen öffentlichen Leben aus. Während der letzten
Wochen war mein Auserwählter Eli Yishai von der orientalisch-orthodoxen
Shaspartei.
Shas wird vollkommen von
einer Person dominiert: Rabbi Ovadia Josef. Er stellt ein und entlässt die
politische Führung der Partei. Sein Wort ist Gesetz. Als der letzte Führer wegen
Diebstahl ins Gefängnis kam, brachte Rabbi Ovadia Eli Yishai von nirgendwo her.
Als Innenminister diente
Yishai vor allem als Kanal für Regierungsgelder zu den Institutionen seiner
Partei. In allen anderen Funktionen hat er kläglich versagt. Es geht das starke
Gerücht um, dass bei seinem in
Kürze herauskommenden Bericht über den Brand im Carmelwald
der staatliche Rechnungsprüfer
empfehlen wird, ihn wegen krasser Inkompetenz
zu entlassen.
Für Yishai ist die anti-afrikanische Hysterie ein Geschenk seines Gottes. Nachdem er der Öffentlichkeit sagte hatte, dass die Migranten Kriminelle seien, die Krankheiten mit sich bringen und den jüdischen Staat gefährden, erklärte er ihnen den Krieg.
Nun ist das ganze Land
mobilisiert. Jeden Tag steht die Zahl der deportierten Afrikaner über allen
Nachrichten. Yishais spezielle „Immigrantenpolizei“ wird fotografiert, wie sie
Afrikaner in die Polizeiwagen stößt. Yishai erscheint täglich im TV und rühmt
sich seiner Leistungen.
Auf sein Drängen hin
diskutiert die Knesset eine Gesetzesvorlage, die Gefängnisstrafen (fünf Jahre)
plus Geldstrafe von einer halben
Million Schekel ( etwa 100 000 Euro!!)
für jeden, der einen „illegalen“ Arbeiter beschäftigt, vorsieht. Zum
Glück wird dieses Gesetz noch bearbeitet und wird nicht bei den Frauen des
Verteidigungsministers (Ehud Barak) und des Generalstaatsanwalts (Yehuda
Weinstein) angewandt, die ertappt
wurden, illegale Migranten in ihren Häusern zu beschäftigen. (Ihre Ehemänner
wussten natürlich nichts davon.)
Am allermeisten gibt Yishai
mit der riesigen Menschenjagd an,
die jetzt in Gang kommt. Afrikaner ducken sich nun in ihren miserablen Wohnungen
und wagen nicht, auf die Straßen hinaus zu gehen. Nachts sind sie bei jedem
Geräusch hellwach, weil sie
fürchten, die Immigrationspolizei könne an ihre Türe klopfen.
Problematisch ist, dass die
meisten der 60 000 Afrikaner
aus Eritrea und dem Nordsudan kommen, wohin
die Migranten nicht zurückgeschickt werden können, weil der Oberste
Gerichtshof es verboten hat. Die Rückkehr in ihr Land würde ihr Leben in Gefahr
bringen. Das lässt nur die Bürger des neuen Staates Südsudan übrig, der mit der
Hilfe israelischer Militärberater und -waffen befreit worden ist. Sie werden
jetzt vor den Augen der Öffentlichkeit zusammen getrieben, um deportiert zu
werden.
Und was ist mit den
anderen? Die Regierung ist nun fieberhaft an der Arbeit, große Zeltlager in der
trockenen Negevwüste, in der Mitte von nirgendwo, aufzubauen, in denen
Zehntausende von Migranten drei
Jahre lang festgehalten werden sollen. Das können nur unmenschliche Bedingungen
sein. Da kein anderes Land bereit ist, sie aufzunehmen, werden sie dort
wahrscheinlich viel länger bleiben.
Bis jetzt
gibt es dort weder Wasser noch sanitäre Anlagen; Frauen und Kinder
(die in Israel geboren wurden und hebräisch sprechen) werden wohl
getrennt untergebracht werden. Im Sommer
mit Temperaturen, die leicht 40 Grad Celsius erreichen. Das Leben in den
Zelten wird die Hölle sein.
Yishai und seine Kollegen
haben ein Gespür für „gewaschene Sprache“: die Migranten werden „Infiltranten“
genannt, Deportation wird „Rückkehr“ genannt, die Gefängnislager werden
„Wohnlager“ genannt. Nicht Konzentrationslager, Gott bewahre.
MIR IST bewusst, dass in
verschiedenen anderen „zivilisierten“ Ländern die Migranten genau so schlecht
behandelt werden oder noch schlechter. Das beruhigt mich keineswegs.
Mir ist auch bewusst, dass
es ein wirkliches Problem gibt, das gelöst werden muss. Aber nicht auf diese
Weise.
Als Bürger eines Staates,
der sich selbst „jüdisch“ nennt oder gar der „Staat der Holocaustüberlebenden“,
ekelt mich das an.
Ich habe unzählige Male
über Nazi-Judenjagden gehört, als auch von amerikanischem Lynchpöbel und
russischen Pogromen. Das ist natürlich kein Vergleich, aber
die Bilder stecken in meinem Kopf. Ich kann mir nicht helfen.
Unsere Behandlung der
afrikanischen Flüchtlinge und Migranten haben nichts mit dem alten Konflikt mit
den Arabern zu tun. Sie kann nicht mit Argumenten gerechtfertigt werden, die mit
Krieg und nationale Sicherheit zu tun haben.
Dies ist
schlicht und einfach Rassismus.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)