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Das Narrenschiff 2

 

Uri Avnery, 18.Dezember 2010

 

 

DER AUSDRUCK „ Narrenschiff“ wurde von einem Schweizer Theologen vor 515 Jahren als Titel eines Buches  verwendet, das die katholische Kirche seiner Zeit scharf kritisierte. Ihre Unmoral, die er voraussah, würde in eine Katastrophe führen. Und tatsächlich das geschah kurz danach, als ein Mönch mit Namen Martin Luther die Kirche spaltete und die große Reformation in Bewegung setzte.

 

Ich benützte diese Phrase in den 70ern, um die Ära zwischen den beiden Kriegen – dem Sechstagekrieg von 1967 und dem Yom Kippur-Krieg von 1973  - zu definieren. Es waren sechs Jahre, die Israel in einem Zustand närrischer Euphorie brachte. „Wir hatten es so gut wie nie.“

 

Die gegenwärtige Ära verdient den Titel „Narrenschiff 2“.

 

 

DER DEFINIERENDE  Slogan vom „Narrenschiff 1“ wurde von Moshe Dayan geprägt, der als 1. Offizier auf  der Brücke  des Schiffes diente, und zwar zur Rechten des Kapitäns Golda Meir.

 

Dayan, damals das Idol Israels und ein internationales Sex-Symbol , erklärte: „Wenn ich zu wählen hätte zwischen Sharm al-Sheikh ohne Frieden oder Frieden ohne Sharm al-Sheikh, würde ich Sharm al-Sheikh wählen.“

 

Im Rückblick klingt dies wie reiner Wahnsinn. Wer erinnert sich heute noch an Ophira, wie wir damals Sharm nannten? Nur die Israelis, die dorthin gehen, um faul in Hängematten in der Sonne zu liegen und sich vom Personal der ägyptischen Hotels verwöhnen zu lassen. Und natürlich die Familien der Soldaten, die im Yom Kippur-Krieg  dort starben.

 

 „Narrenschiff 1“ begann seine schicksalhafte Reise nach dem Sechs-Tage-Krieg, als sich das neue hebräische Empire vom Gipfel des Hermon bis zum glänzenden Meer bei Ras Muhammad, südlich von Sharm ausdehnte. Der überraschende Sechs-Tage-Sieg der israelischen Armee über drei arabische Armeen nach Wochen nervenaufreibender Ängste sah wie ein Wunder aus. Eine Flut von Siegesliedern, Siegesalben und Siegesreden überfluteten das Land. Der siegestrunkene Zustand schwappte in alle Teile der Öffentlichkeit, vom obersten Führer bis zum letzten (jüdischen) Bürger. Er benebelte die Gehirne, pervertierte die Logik und verhinderte jegliche vernünftige Diskussion.

 

Der Rausch schloss nicht einmal die akademischen Koryphäen und Armeegeneräle aus. Ariel Sharon erklärte, dass seine Truppen Tripolis, die libysche Hauptstadt, in einer Woche  erreichen könnte. Dies sah fast selbstverständlich aus.

 

Für jene, die nicht hier waren oder noch zu jung sind, um sich daran zu erinnern: im Lande herrschte eine Atmosphäre von  äußerstem Selbstvertrauen, das zu vollkommener Sorglosigkeit führte „Alles wird OK werden.“ Die Wirtschaft blühte. Die ersten Siedlungen fassten Fuß. Es gab keinen Druck auf Israel, um die besetzten Gebiete, die gerade erobert worden waren, zurückzugeben („Befreites Gebiet wird nicht zurückgegeben“) Die Arabische Liga, die sich in Khartum traf, erwies Israel eine immense Gunst, indem sie die drei Neins erklärte:  kein Frieden mit Israel, keine Anerkennung Israels, keine Verhandlungen mit Israel. Das mutige, kleine  Israel gewann die Sympathie der Welt. Es war gut, ein Israeli zu sein und an jedem Grenzübergang seinen israelischen Pass vorzuzeigen.

 

In dieser Woche lenkte Aluf Benn von Haaretz unsere Aufmerksamkeit auf eine eben veröffentlichte Aufzeichnung aus  der Präsident-Richard-Nixon-Bibliothek. Der Präsident pflegte alle seine Gespräche gehein auf Tonband aufzunehmen, und viele seiner Tonbänder sind nun öffentlich gemacht worden. Unter ihnen ist eine Aufnahme mit seinem Treffen von Golda Meir mit Nixon in der ersten Hälfte von 1973 – ein paar Monate vor dem Yom Kippur-Krieg.

 

Richard Nixon und Henry Kissinger enthüllten Golda, dass der ägyptische Präsident, Anwar Sadat bereit wäre, gegen Rückgabe des Sinai mit Israel Frieden zu schließen. Golda behandelte den Vorschlag mit Verachtung und sagte zu Nixon, dass die Ägypter keine Chance  gegenüber Israel hätten – und deshalb nicht wagen würden, es anzugreifen.

 

(Ich fand dies besonders  interessant, weil ich in derselben Zeit  in der Knesset sagte, dass die Ägypter einen Krieg beginnen würden, auch wenn sie keine Chance hätten, den Krieg zu gewinnen. Ich hatte diese Schlussfolgerung nach einem Treffen mit mehreren bedeutenden Ägyptern gezogen, die mich völlig davon  überzeugten, dass Ägypten nicht den status quo tolerieren könne, der die israelische Besatzung auf einem Teil ihres Landes festlegen würde. Sie sagten mir, dass Ägypten bereit wäre,  einen hohen Preis zu zahlen, nur um die Situation zu verändern und in Gang zu bringen,.

 

Golda verstand dies nicht. Sie war eine harte, aber primitive Frau, ohne Gefühle für andere; sie träumte nicht davon, die Gebiete für Frieden zurückzugeben. An die Palästinenser vergeudete sie  keine Gedanken ( „So etwas wie ein palästinensisches Volk gibt es gar nicht“)  Moshe Dayan legte die Fundamente für eine ewige Besatzung. Mitte 1973 sahen die beiden um sich und konnten keine Wolke  am Horizont entdecken – nicht einmal die geringste.

 

Aluf Benn sieht Ähnlichkeiten zwischen dem  Golda-Nixon-Treffen und den Netanyahu-Obama-Gesprächen. Darin stimme ich mit ihm überein.

 

 

HEUE SIND wir in einer ähnlichen Situation. Wir segeln wieder auf einem Narrenschiff – fröhlich und unbeschwert.

 

Wir hatten es niemals so gut. Unsere wirtschaftliche Situation ist hervorragend. Das gilt auch für  unsere Sicherheitssituation und  unsere politische Situation.

 

Die weltweite Wirtschaftskrise hat uns nicht berührt. Auf verschiedenen Gebieten wachsen und gedeihen unsere Exporte. Gerade jetzt wird uns erzählt, dass unser Handel mit Indien sich   mächtig erweitert und auch mit China gut geht. Die Umfragen zeigen, dass die meisten Israelis mit ihrer persönlichen wirtschaftlichen Situation zufrieden sind und eine noch rosigere Zukunft erwarten. Das ist weit entfernt von dem, was US- und europäische Bürger empfinden. Eine Person, deren wirtschaftliche Situation gut ist, sehnt sich nicht nach Veränderung macht keine Revolution.

 

So weit es die Sicherheit betrifft, ist unsere Situation nie besser gewesen. Die Selbstmordattentate haben aufgehört. Die palästinensischen Sicherheitsdienste arbeiten mit uns zusammen, um Angriffe auf uns zu verhindern. Die nördliche Grenze ist fast ruhig. Die gelegentlichen Vorfälle an der Gazagrenze sind  nicht beunruhigend. Wir arbeiten hart daran, dass die Welt sich gegen die Gefahren einer iranischen nuklearen Bombe erhebt. Aber die Israelis sind nicht  wirklich beunruhigt. Sie wissen, dass  selbst, wenn die Iraner ihre Bombe hätten, sie es nicht wagen würden, sie anzuwenden, weil Israel alle iranischen Städte und ihre wunderschönen historischen Denkmäler vom Angesicht der Erde auslöschen könnte.

 

Auf der politischen Ebene ist der Himmel die Grenze für unsere Errungenschaften. Bei verschiedenen Runden haben wir Barack Obama auf die Bretter geworfen. Die verzweifelt hastenden Hillary Clinton und George Mitchell sind einfach pathetisch. Der Siedlungsbau, der nie wirklich gestoppt wurde, geht noch schneller voran – mit Hilfe von Tausenden palästinensischer Arbeiter, die sonst keine andere Existenzgrundlage hätten.

 

Die israelische Regierung beherrscht Washington DC  als  je zuvor. Der neue Kongress ist - wenn  möglich - gegenüber Israel sogar loyaler als der alte. Gerade jetzt hat das  abtretende Unterhaus  einstimmig eine Resolution  verabschiedet, die die Ausrufung eines palästinensischen Staates ablehnt. Nach seiner überwältigenden Niederlage bei den Zwischenwahlen musste Obama anfangen, über seine Präsidentenwahlen in zwei Jahren nachzudenken. Man kann sich schwer vorstellen, dass er in diesen zwei Jahren es wagen würde, die mächtige israelische Lobby  zu provozieren, die sich jetzt nicht nur auf die jüdischen Organisationen, auf die Millionen evangelikaler Christen, sondern auch auf die Leute der Tea-Party verlassen kann (von denen viele Antisemiten sind  wie Nixon  - wie die Tonbänder enthüllten,  verachtete er die Juden und bewunderte die Israelis).

 

Obama kann sagen, was er will: in einem wirklichen Test muss er jede UN-Resolution, die der israelischen Regierung nicht gefällt,  mit einem Veto belegen. Er hat keine andere Wahl. Und er wird auch die israelische Armee mit all den Flugzeugen, die sie wünscht – und mit noch mehr – versorgen.

 

 

JENE, die Illusionen über Netanyahu hatten – Israelis und andere – sind nüchtern geworden. Er will weder Frieden noch einen „Friedensprozess“ noch überhaupt eine Bewegung in Richtung Frieden.

 

Für Netanyahu ist Frieden ein Vulgärausdruck. Und nicht nur weil er eine extreme rechte Koalition hat, voller Rassisten und Ultra-Nationalisten, die gerne Gastgeber für Faschisten aus aller Welt sind. Und nicht nur aus Angst vor den Siedlern, deren politische Schlagkraft täglich wächst. Sondern weil Netanyahu selbst nicht will, , dass er in die Geschichtsbücher  als Mann eingehen wird, der Teile des jüdischen Heimatlandes aufgegeben und  den  Arabern gegeben hat.

 

Trotz all der Unterschiede gibt es eine Menge Ähnlichkeiten zwischen Netanyahu und Golda Meir. Es gibt zwar keinen 2. Moshe Dayan – Ehud Barak sieht wie ein Stück Holz aus, verglichen mit  seinem charismatischen einäugigen Vorgänger. Aber Avigdor Lieberman wäre nur zu glücklich, wenn er dieses Vakuum ausfüllen könnte.

 

Alles ist in Ordnung. Es gibt nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste. Dieses Mal produziert die Euphorie keine Ernte mit Siegesalben und Ruhmesliedern, aber eine Flut rassistischer Gesetze, über die die Apartheid Südafrikas stolz gewesen wäre, und  Erklärungen von Rabbinern, die sich rühmen, unsere „rassische Reinheit“ zu bewahren (wir müssen den Ort nicht erwähnen, woher dies kommt).

 

Diese Euphorie führt zu Taten, deren einziges Ziel es anscheinend ist,  zu provozieren und zu demütigen. Ein hervorragendes Beispiel ist in dieser Woche bekannt geworden, dass Israel dabei ist, das „Seven Arches“ („Sieben Bogen“)- Hotel auf der Spitze des Ölberges zu vergrößern. Es ist ein Hotel, das der jordanischen Königsfamilie gehört und das  vom Treuhänder von feindlichem Besitz enteignet wurde. Das sieht aus wie die Tat eines Kindes, das eine kostbare Vase auf den Boden wirft und schreit:  „Hahaha, was könnt ihr mir schon tun?“

 

 

„ NARRENSCHIFF 1“ ging im Yom Kippur-Krieg unter. 2600 junge Israelis, die Blüte einer Generation, ertrank mit ihm. Die  „unfähigen“ Ägypter überquerten den Suez-Kanal und  durchbrachen die glorreiche Bar-Lev-Linie, den Stolz der israelischen Armee. Man kann sogar die genaue Minute bestimmen, als die Euphorie starb: am Fernsehen sahen wir live Dutzende von israelischen Soldaten  mit geröteten Augen angsterfüllt und gedemütigt auf dem Boden kauern, bewacht von syrischen Soldaten mit Schnurrbärten. Das war das Ende des mystischen israelischen Supermannes.

 

„ Narrenschiff 2“ wird auch untergehen. Wir können nicht voraussehen wie. Wird es ein Krieg sein, der unsere Städte und Dörfer  verwüstet?  Wird es eine islamische Revolution in den arabischen Ländern sein? Wird sich die Weltpolitik dramatisch ändern?

 

Es gibt einen bedeutsamen Unterschied zwischen  Schiff 1 und Schiff 2 : Damals liebte uns die ganze Welt, heute verabscheuen uns viele in aller Welt. Das Manifest der 26 führenden, früheren europäischen Staatsmänner fordert von ihren Nachfolgern, dass sie die Politik gegenüber Israel verändern - das ist kein gutes Omen. Wenn die unvermeidliche Krise kommt, wird die öffentliche Weltmeinung nicht mehr auf unserer Seite sein, sie wird auf Seiten der Palästinenser stehen.

 

Jemand schrieb diese Woche, dass Amerikas Unterstützung Israels ein Fall von „ unterstütztem Selbstmord“ sei. Nach israelischem Gesetz ist eine Unterstützung eines Selbstmords“ ein Verbrechen. Selbstmord als solcher jedoch ist nach unseren Gesetzen erlaubt.

 

Diejenigen, die die Götter zerstören wollen, schlagen sie zuerst mit Blindheit. Hoffen wir, dass wir unsere Augen öffnen, bevor es zu spät ist.

 

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser  autorisiert)