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Das Nessos-Gewand
Uri Avnery, 8. April 2017
IN EIN
paar Wochen wird Israel den 50. Jahrestag des Sechstagekrieges feiern.
Millionen von Wörtern, die meisten von ihnen ohne Bedeutung, werden, wie
gewöhnlich, ausgeschüttet.
Aber das Ereignis verdient mehr. Es ist ein einzigartiges Drama in der
menschlichen Geschichte. Nur ein biblischer Schreiber könnte ihm gerecht
werden. William Shakespeare könnt es versucht haben.
Ich vermute, dass die meisten der gegenwärtigen Einwohner Israels damals noch
nicht lebten und sicherlich nicht fähig sind, das zu verstehen, was sich
(damals) ereignete.
Lasst mich deshalb versuchen, das Drama zu erzählen, wie ich es sah.
ES BEGANN
am Unabhängigkeitstag, 1967, dem jährlichen Fest der offiziellen Gründung des
Staates Israel. Es war erst der 19. Jahrestag.
Der Ministerpräsident Levy Eshkol stand auf der Tribüne und salutierte die
Parade der Armee. Eshkol war so weit entfernt wie möglich von militärischen
Feierlichkeiten. Er war durch und durch eine Zivilperson, der Führer einer
Gruppe von Partei-Ältesten, die den autoritären David Ben-Gurion aus der
herrschenden Labor-Partei vier Jahre früher aus der Arbeiter-Partei
herausgeworfen hatte.
Mitten in den Feierlichkeiten gab jemand Eshkol ein Blatt Papier. Eshkol warf
einen Blick darauf und verhielt sich, als wäre nichts geschehen.
Es war eine kurze Botschaft. Die ägyptische Armee war auf die Sinai-Halbinsel
einmarschiert.
DIE ERSTE öffentliche
Reaktion war Unglauben. Was? Die ägyptische Armee? Jeder wusste, dass die
ägyptische Armee im entfernten Jemen zu tun hatte. Dort wütete ein
Bürgerkrieg und die Ägypter hatten nicht sehr erfolgreich interveniert.
Aber die nächsten Tage bestätigten das Unglaubliche. Gamal Abd-al –Nasser, der
ägyptische Präsident, sandte tatsächlich Teile seiner Armee in die Sinai-Wüste.
Es war eine klare Provokation gegenüber Israel.
Die Sinai –Halbinsel ist ein Teil von Ägypten. 1956 hatte Israel sie besetzt in
geheimer Absprache mit zwei überholten Kolonialmächten, Frankreich und
Großbritannien. Ben Gurion, damals Ministerpräsident hatte das Dritte
Israelische Reich erklärt (nach dem Davidischen und dem Hasmonäischen , vor
mehr als zwei Tausend Jahren) musste sich aber traurig zurückziehen.
Der US-Präsident Dwight Eisenhower und der sowjetische Präsident Nicolai
Bulgarin hatten beide ein Ultimatum gesandt und Israel hatte keine Wahl, als
zu gehorchen. Israel gab also alles zurück, das es erobert hat, bekam aber
zwei Trostpreise: der Sinai war demilitarisiert. UN-Truppen besetzten
Schlüsselpositionen. Die Ägypter mussten die Straße von Tiran öffnen, der
Ausgang des Golfes von Aqaba, von dem Israels kleine Exporte in den Osten
abhing.
Was hat Nasser, ein großer Redner, aber auch besonnener Staatsmann, veranlasst,
solch ein Abenteuer zu beginnen?
ES BEGANN
in Syrien, ein Konkurrent von Ägypten, was die Führung der arabischen Welt
betraf. Yasser Arafats Guerillas hatten Israel einige Male von der syrischen
Grenze überfallen und der israelische Stabschef hatte erklärt, dass die
israelische Armee nach Damaskus marschieren würden, falls dieser Unfug nicht
aufhört.
Nasser sah eine Möglichkeit, seiner Führung in der arabischen Welt wieder
Geltung zu verschaffen. Er warnte Israel, Syrien nicht anzugreifen und um seine
Ernsthaftigkeit zu betonen, sandte er seine Armee in den Sinai. Er sagte auch
den UN-Truppen, dass sie mehrere ihrer Positionen evakuieren sollen.
Dies erzürnte den UN-General-Sekretär, den Birmeser U Thant, der auch kein
sehr weiser Führer war. Er antwortete, dass wenn Nasser darauf besteht, würden
die UN-Truppen ganz Sinai verlassen. Da Nasser seine Forderung nicht ohne
Prestigeverlust zurückziehen konnte, verließen alle UN-Truppen den Sinai.
Dies schuf in Israel eine Panikstimmung. Alle Reservisten der Armee wurden
gerufen. Die Männer verschwanden von den Straßen. Israels Männerwelt wurde an
der ägyptischen Grenze konzentriert, taten nichts und wurden von Tag zu Tag
ungeduldiger. Die Angst in Israel von Tag zu Tag schlimmer. Der Zivilist Eshkol
erweckte kein Vertrauen als militärischer Führer. Um die Dinge noch schlimmer
zu machen, geschah etwas Kurioses. Um die Panik zu beruhigen, entschied Eshkol,
sich an die Nation zu wenden. Er hielt eine Rede im Radio (TV gab es noch
nicht), die er im Voraus geschrieben hatte. Bevor er sie verlas, gab er sie
seinem Hauptberater, der ein paar kleine Korrekturen machte, aber an einer
Stelle vergaß er das korrigierte Wort zu streichen.
Als Eshkol diese Stelle erreichte, zögerte er. Welche Version war nun die
Richtige? Es war, als ob der Minister Präsident (der auch Verteidigungsminister
war) stotterte, während das Schicksal der Nation an einem Faden hing.
ABER WAR das so?
Während die Panik um mich herum wuchs, ging ich herum wie ein Bräutigam bei
einer Beerdigung. Selbst meine Frau dachte, ich wäre ein bisschen verrückt.
Aber ich hatte allen Grund. Einige Monate vor dem Start der Krise, war ich in
einen Kibbuz eingeladen, um eine Rede zu halten. Wie gewöhnlich wurde ich danach
zu einem Kaffee mit einigen älteren Kibbuz Mitgliedern eingeladen. Dort
sagte mir ein Mitglied im Vertrauen, dass eine Woche vorher der
Armee-Kommandeur der Nordfront nach seiner Rede auch zum Kaffee eingeladen war
und den Veteranen anvertraute: „Jede Nacht, bevor ich ins Bett gehe, bete ich zu
Gott, dass Nasser seine Armee in den Sinai schickt. Dort werden wir sie
vernichten.“
Zu dieser Zeit war ich der Herausgeber eines Massen-Magazins, und auch ein
Mitglied der Knesset und der Vorsitzende der Partei, die mich ins Parlament
gesandt hatte. Ich schrieb einen Artikel „Nasser ist in eine Falle geraten“,
die nur den Eindruck stärkte, dass mit mir etwas nicht in Ordnung sei.
Aber Nasser realisierte bald , dass er tatsächlich in eine Falle geraten war.
Verzweifelt versuchte er heraus zu kommen – aber es war der falsche Weg. Er
äußerte blutrünstige Drohungen, erklärte die Schließung der Straße von Tiran
(Er schickte aber gleichzeitig im Geheimen einen zuverlässigen Kollegen nach
Washington, der den Präsident drängte, Israel zu stoppen. Wie alle arabischen
Führer in jener Zeit glaubte er ernsthaft, dass Israel nur gerade eine
amerikanische Marionette sei.)
Tatsächlich waren die Meeresstraßen nie wirklich geschlossen. Aber die
Ankündigung machte den Krieg unvermeidbar. Unter immensem öffentlichem Druck
hat Eshkol das Verteidigungsministerium aufgegeben und es an Mosche Dayan
gegeben. Mehrere der geachtetsten Generäle verlangten Eshkol zu treffen und
drohten abzutreten, wenn der Armee nicht sofort ein Angriff befohlen wurde.
Der Befehl wurde gegeben.
AM ZWEITEN
Tag des Krieges wurde ich in die Knesset gerufen. Ich war an einer Grippe
erkrankt, aber stand auf und fuhr nach Jerusalem. Mein leuchtend weißer Wagen
schien wie ein Meteor in der Masse der Panzer, die auch nach Jerusalem eilten.
Aber die Soldaten ließen mich durch und überschütteten mich mit scherzhaften
Kommentaren.
Die Knesset war unter Beschuss von der nahen jordanischen Artillerie. Wir
stimmten hastig für das Kriegs-Budget (Ich stimmte dafür und bereute es
nicht, wie zwei andere Abstimmungen – doch das ist eine andere Geschichte.)
Dann eilten wir schnell in den Schutzraum.
Dort flüsterte mir ein hochrangiger Freund ins Ohr „ Alles ist fertig. Wir
haben die ägyptische Luftwaffe am Boden zerstört.“ Und so war es auch. Der
wirkliche Gründer der israelischen Luftwaffe, Ezer Weitzman, hatte seit Jahren
für diesen Tag geplant und die Luftwaffe für diesen einen Job gestaltet.
Das Folgende ist Geschichte. In sechs unglaublichen Tagen zerstörte die
israelische Armee leicht drei arabische Armeen und Teile von einigen mehr,
die ohne Luftdecke blieben. Das Land war in einem Freudentaumel. Siegeslieder
und Sieges-parties wurden überall gefeiert. Alle Vernunft wurde zum Teufel
gejagt.
AM FÜNFTEN
Tag des Krieges veröffentlichte ich einen „offenen Brief“ an den Minister
Präsidenten und bat ihn, sofort eine Volksabstimmung unter den Palästinensern
in den Gebieten anzuordnen, die wir gerade erobert hatten. Es solte ihnen die
Gelegenheit gegeben werden zu wählen, ob sie in das jordanische Königreich
zurück wollten, oder von Israel annektiert werden oder einen palästinensischen
nationalen Staat errichten wollten.
Ein paar Tage nach dem Kriegsende lud mich Eshkol zu einem privaten Treffen ein
und nachdem er meine Ideen über einen palästinensischen Staat, Seite an Seite
mit Israel, zugehört hatte, fragte er mich freundlich: „Uri, was für eine Art
von Kaufmann bist du? Wenn jemand ein Geschäft machen will, fängt er damit an,
das Maximum zu verlangen und das Minimum anzubieten, und langsam nähert man sich
einem Kompromiss Du willst, dass wir alles im Voraus anbieten?“
Also wurde den Palästinensern nichts angeboten. 50 Jahre später sitzen wir mit
der Besatzung fest. Israel hat sich vollkommen verändert; der verachtete Rechte
Flügel hat fast die absolute Macht übernommen, Siedler wandern in der Westbank
herum und Gaza ist in ein isoliertes Ghetto verwandelt worden. Israel ist in
einen kolonialen Apartheid-Staat verwandelt worden.
FALLS ICH
religiös wäre, würde ich es in dieser Weise erklären: vor vielen Jahren hat Gott
sein erwähltes Volk, Israel, aus dem Heiligen Land ins Exil gesandt, als
Strafe für seine Sünden. Vor 130 Jahren entschied sich ein Teil des Volkes
von Israel ohne Gottes Erlaubnis ins Heilige Land zurückzukehren. Jetzt hat Gott
das Volk von Israel wieder gestraft, indem er ihm einen wunderbaren Sieg
schenkte und diesen Sieg in einen Fluch verwandelte, der in eine Katastrophe
führt.
Zu diesem Zweck lieh sich Gott eine Idee von seinen griechischen Kollegen. Er
verwandelte die besetzten Gebiete in ein Nessosgewand.
Nessos, der Centauros, wurde vom Held Herkules getötet. Doch bevor er starb,
bedeckte er sein Gewand mit einem tödlichen Gift. Als Herkules es anzog, klebte
es an seiner Haut und er konnte es nicht mehr ausziehen. Als er dies versuchte,
tötete es ihn.
(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)