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Das
andere Israel
Uri Avnery, 10.10.09
GESTERN
FEIERTE unser Stammtisch mit Ada Yonath.
Dieser
„Stammtisch“ feierte gerade sein 50. Jubiläum. Er begann zufällig im „California“, dem Cafe, damals von Abie
Nathan gegründet, der später als
Friedenspilot bekannt wurde.
Später
trafen wir uns jahrelang im legendären Künstlercafe Cassith. Seitdem
dieses verschwunden ist – wie viele andere Tel Aviver
Wahrzeichen – wanderte der Stammtisch an verschiedene andere Orte und wurde
bekannt als die „Tafelrunde der Cassith-Exilanten“ –
das „House of Lords“, wie sie von einer Zeitung
genannt wurde.
Die
Stammgäste dieses Stammtisches kommen aus sehr verschiedenen Lebensbereichen:
ein früherer Direktor der israelischen Fernsehbehörde, mehrere bekannte
Journalisten, ein Linguist und Bibelexperte, ein Filmemacher, ein Mediziner,
eine Psychiaterin, ein Städteplaner, ein Industrieller, ein Übersetzer von
Literatur, eine Radioproduzentin. Und eine Naturwissenschaftlerin.
Die
Tafelrunde ist nicht politisch. Aber all ihre Stammgäste tendieren zufällig zur
Linken.
Seit
Jahren ist Ada Yonath unsere Kandidatin für den
Nobelpreis gewesen. Vor neun Jahren lud sie uns ein, ihre historische
Entdeckung anzusehen. Was die Chemie betrifft
wie auch alle anderen Naturwissenschaften ……da
bin ich ein total Unwissender. Deshalb verstand ich nicht, worum es da
eigentlich geht: die Struktur und die Funktion des Ribosom,
eines der Grundbausteine des Lebens. Es war kein Zufall, dass die Entdeckung in
Israel gemacht wurde. Ada hatte einen genialen Einfall, als sie bei ihren Experimenten versuchte, eine im
Toten Meer - dem tiefsten Punkt der Erdoberfläche -gefundene Mikrobe zu verwenden.
Während
der Jahre unterhielt sie uns mit amüsanten Geschichten über die häufigen wissenschaftlichen Konferenzen,
die sie überall auf der Welt besuchte, und über die haarsträubenden Intrigen an
der Spitze der wissenschaftlichen Welt. Einige ranghohe Naturwissenschaftler
versuchten, sich ihre Entdeckung anzueignen. Ich erfuhr, dass Adas
Entdeckungen ungeheuer wichtig sind, viel
bedeutender als so manche
Entdeckung der letzten Jahre, die für nobelpreiswürdig betrachtet
wurden. Sie betreffen die Grundlagen des
Lebens und sein Werden und sind so bedeutsam wie die Entdeckung des
menschlichen Genoms. Sie könnten die Tür für vollkommen neue Heilmethoden von
Krankheiten öffnen.
ICH
ERZÄHLE all dies nicht nur, um damit zu prahlen, dass Ada „eine von uns“ ist
und nicht nur, um an Adas Freude teilzunehmen, sondern um auf einen Punkt
hinzuweisen, der oft in den Debatten
über unsere Kriege und die Besatzung vergessen wird: es gibt noch ein anderes
Israel.
Dieses
Jahr gab es in Israel drei anerkannte Anwärter auf den Nobelpreis, die es bis in die
Schlussrunde schafften: außer Ada Yonath waren auch der Physiker Yakir
Aharonov und der Schriftsteller Amos Oz darunter. Für
ein kleines Land wie Israel ist das eine
eindrucksvolle Leistung.
Ada
Yonath könnte nicht israelischer sein: eine Sabra ( also eine Einheimische),
in Jerusalem geboren, die ihre ganze Ausbildung an israelischen Schulen
erhalten hat. Ihre Charakterzüge sind die für Israelis typischen: sie ist
direkt, hat einfache Manieren, sie mag keine Formalitäten, sie ist bereit, über
sich selbst zu lachen. Kein bisschen Arroganz oder Eitelkeit, aber eine
unglaubliche Kraft an Ausdauer.
Ein
Fremder, der den täglichen Nachrichten über Israel folgt, kann sich die
Existenz dieses Israels, dem Ada angehört, nicht vorstellen. Auch in dieser Woche wurden die Nachrichten von
der Besatzung, der Brutalität, der Rohheit des offiziellen Israel beherrscht.
Die
Nachrichten über Adas Auszeichnung war wie eine Oase in der Wüste. Fast alle
anderen Nachrichten im Fernsehen, im Radio und in den Zeitungen befassten sich
mit Blutvergießen und Aufständen. Die
Schlacht um den Tempelberg (Haram al-Sharif), die
Zusammenstöße zwischen der Polizei und den Demonstranten in den arabischen
Vierteln Jerusalems, zusammen mit
Nachrichten über Morde, betrunkene Jugendliche, die einander zu Tode
stechen, einem alten Mann der seine schlafende Frau mit einem Hammer erschlägt, eine Gruppe Jungs, die eine Frau
mittleren Alters am hellerlichten Tage beraubt und
vergewaltigt hatten.
Und
über allem schwebt der Goldstone-Bericht über Verbrechen, die während des Gazakrieges
begangen wurden und den die israelische Regierung beinahe erfolgreich und mit
der großzügigen Assistenz von Mahmoud Abbas
ausgelöscht hätte.
DAS
THEMA, das in dieser Woche die Nachrichten beherrschte, war Jerusalem.
Alles
geschah ‚plötzlich’. Plötzlich stand der Tempelberg in Flammen, nachdem der Ramadanmonat ziemlich ruhig verlaufen war. Plötzlich rief
die islamische Bewegung in Israel die arabischen Bürger dazu auf, zur Al-Aqsa-Moschee zu eilen und sie zu retten. Plötzlich baten
ranghohe islamische Prediger dringend, die ganze muslimische Welt von 1,5
Milliarden Muslimen sich zur Verteidigung der Heiligen Stätten zu erheben. (Es geschah nichts).
Der
Polizeichef in Jerusalem hat eine
einfache Erklärung: die Muslime seien ‚undankbar’.
Wir
haben ‚ihnen erlaubt’, sicher während des ganzen Ramadan zu beten – und nun
zahlen sie es uns zurück. Diese koloniale Arroganz machte die Araber nur noch
wütender.
Nach
Meinung der israelischen Behörden habe sich nichts ereignet, das diesen
plötzlichen Aufruhr rechtfertigen könne. Das heißt, es ist eine arabische
Provokation, ein abscheulicher Versuch, aus dem Nichts einen Konflikt zu
schaffen.
Aber nach arabischer – und nicht nur nach
arabischer - Sichtweise sieht es ganz anders aus. Seit Jahren befindet sich die arabische Gemeinde in einem
Belagerungszustand. Seitdem Binyamin Netanyahu
Ministerpräsident wurde und Nir Barkat
Bürgermeister von Jerusalem, hat sich dieser Belagerungszustand vielfach
verstärkt. Beide Männer gehören zur radikalen Rechten, und beide betreiben eine Politik, die zur
ethnischen Säuberung führt.
Dies
findet seinen stärksten Ausdruck im systematischen Ausbau jüdischer Siedlungen mitten in den arabischen
Vierteln des annektierten Ostteils der Stadt,
die die Hauptstadt des
palästinensischen Staates werden soll, deren endgültiger Status aber Gegenstand von weiteren Verhandlungen werden soll.
Die
Vollstreckung ist einer Gruppe von
extremen Rechten anvertraut, die Ateret Cohanim (‚Krone der Priester’) genannt wird, finanziert vom
amerikanischen Bingokönig Irwin Moskowitz.
Nachdem sie einen überwältigenden Sieg errungen, den bewaldeten Jebel Abu Ghneim abgeholzt (Har Homa) und dort eine festungsartige
Siedlung gebaut haben, sind sie nun dabei, jüdische Viertel mitten in Sheikh Jarrah, Silwan, Ras al-Amoud und Abu Dis zu bauen und natürlich auch im
muslimischen Viertel der Altstadt selbst. Gleichzeitig versuchen sie, das Gebiet E1 zwischen Jerusalem und der
riesigen Siedlung Maale Adumin
zu bebauen.
Es
sieht so aus, als wären dies sporadische Aktionen, initiiert von
respektheischenden Milliardären und machttrunkenen Siedlern. Doch dies ist eine
Illusion: hinter all dieser fieberhaften Aktivität lauert ein Regierungsplan
mit einem wohl überlegten strategischen Ziel. Man muss nur auf die Landkarte
schauen, um seinen Zweck zu verstehen: die arabischen Viertel sollen
eingekreist und von der Westbank abgeschnitten werden. Außerdem soll
Ostjerusalem nach Osten bis fast nach
Jericho erweitert werden. So wird die Westbank in zwei Teile geteilt, der
nördliche Teil mit Ramallah, Nablus, Jenin und Tulkarem und dem abgeschnittenen südlichen Teil mit Hebron und
Bethlehem.
Und
natürlich ist die Zielsetzung auch: das Leben der arabischen Bevölkerung in
Jerusalem unmöglich zu machen, damit sie ‚freiwillig’ die ‚für alle Ewigkeit
vereinigte Stadt, Israels Hauptstadt’ verlassen.
BEI
DIESER Strategie spielt noch etwas eine
zentrale Rolle. Es nennt sich ‚Archäologie’.
Seit
hundert Jahren hat jüdische Archäologie vergeblich die Existenz des davidischen Königreiches zu beweisen gesucht, um ein für
alle Mal unser historisches Recht auf diese Stadt festzulegen. Nicht eine Scherbe wurde als Beweis gefunden,
dass König David je existiert hat, geschweige denn ein riesiges Reich, das sich
von Ägypten bis Hamat
in Syrien erstreckte. Es gibt keinen Beweis für einen Exodus aus Ägypten, die
Eroberung von Kanaan, von David und seinem Sohn Salomo. Im Gegenteil: es gibt
nicht unwichtige Anzeichen insbesondere in den alten ägyptischen Berichten, die
zu beweisen scheinen, dass sich all das nie ereignete.
Für
diese verzweifelte Nachforschung sind bei Ausgrabungen die obersten Erdschichten der letzten 2000
Jahre entfernt worden: die Periode des byzantinischen Reiches, der islamischen
Eroberung, der Mamelukken und der Ottomanen. Die
Nachforschung hat einen eindeutigen
politischen Zweck, und die meisten israelischen Archäologen betrachten sich als
Soldaten im Dienste des nationalen Kampfes.
Der
Skandal, der sich jetzt am Fuße der Al-Aqsa abspielt,
ist ein Teil dieser Geschichte. Etwas Unerhörtes geschieht dort: die Grabung in
‚Davids Stadt’ (natürlich eine Propagandabezeichnung) ist derselben
ultra-nationalistischen religiösen Gesellschaft Ateret
Cohanim übergeben worden, die die provokativen
jüdischen Stadtteile in und um Jerusalem baut. Die israelische Regierung hat
diese wissenschaftliche Arbeit ganz offiziell dieser politischen Gruppe
anvertraut – die nicht nur irgend eine
politische Gruppe ist, sondern eine ultra-radikale. Die Grabung selbst wird von
Archäologen durchgeführt, die aber die Weisungen der Gesellschaft entgegen
nehmen.
Israelische
Archäologen, die auf die Integrität
ihres Berufes achten (es gibt noch einige), protestierten in dieser Woche, dass
die Grabung in völlig unsachgemäßer Weise
geschieht: unwissenschaftlich und in großer Eile, gefundene Artefakte
werden nicht genau und systematisch untersucht. Das einzige Ziel ist, so
schnell wie möglich Beweise zu finden, die den jüdischen Anspruch auf den
Tempelberg unterstützen.
Viele
Araber glauben, das Ziel sei noch bösartiger:
nämlich unter der al-Aqsa-Moschee zu graben,
um sie zum Einsturz zu bringen. Diese Befürchtungen wurden diese Woche durch eine Mitteilung in Haaretz
verstärkt, dass die Grabung unter arabischen Häusern durchgeführt wird und diese vom Einsturz bedroht seien.
Israelische
Sprecher regen sich auf. Was für üble
Verleumdungen! Wer kann sich nur so etwas vorstellen?! Aber es ist kein
Geheimnis, dass in den Augen vieler national-religiöser Fanantiker die pure Existenz der beiden Moscheen – der
al-Aqsa und des Felsendoms - ein abscheuliches Unding ist. Vor Jahren
planten Mitglieder einer jüdischen Untergrundgruppe, den Felsendom zu sprengen;
dies wurde aber noch rechtzeitig aufgedeckt und die Betroffenen ins Gefängnis
gesteckt. Vor kurzem konnte man auf einer religiösen Website lesen: „Heute
steht dort ein übles Ding, ein großes Hexenwerk, das verschwinden
muss. Der Tempel wird anstelle dieses Furunkels stehen, der mit gelbem Eiter
bedeckt ist und jeder weiß, was mit einem Furunkel geschehen muss, man muss
seinen Eiter entfernen. Das ist unser Ziel, und mit Gottes Hilfe werden wir es
tun.“ Mit dem Eiter ist die goldene Kuppel des Domes gemeint.
Schon
werden Schafe für Opferzwecke im Tempel großgezogen.
Man
kann über diese Ergüsse lachen und behaupten, dass diese wie immer vom wahnsinnigen Rand der
Gesellschaft kommen. Das sagte man auch vor und nach dem Mord an Yitzhak Rabin. Aber für die Araber, die mit eigenen Augen
die täglichen Bemühungen sehen, die Oststadt zu judaisieren und die einheimische Bevölkerung zu
vertreiben, ist es kein Scherz. Ihre Ängste sind echt.
Da
die Millionen Bewohner der Westbank und des Gazastreifens keinen Zugang zum
Tempelberg haben – im Gegensatz zu allem Gerede über ‚religiöse Freiheit’ – hat
die islamische Bewegung im eigentlichen Israel den Schutz der beiden
Heiligtümer übernommen. In dieser Woche gab es einen Aufruf ,
diese Bewegung zu verbieten und ihren
Führer Sheikh Raed Salah ins Gefängnis zu werfen.
Sheikh
Ra’ed ist ein charismatischer Führer. Ich traf ihn
vor 16 Jahren, als wir beide 45 Tage und Nächte lang in einem Protestzelt
gegenüber dem Amtssitz des Ministerpräsidenten lebten, nachdem Rabin 415
islamische Aktivisten über die libanesische Grenze deportiert hatte. Der Sheikh
war damals eine freundliche und liebenswürdige Person, voller Humor, die auch
Rachel mit größter Freundlichkeit behandelte ( ohne
ihr die Hand zu geben, wie auch unsere orthodoxen Rabbiner). Ich lernte viel
von ihm über den Islam und beantwortete, so gut ich konnte, seine Fragen über
das Judentum. Heute ist er viel strenger und kompromissloser
.
ETWAS
SYMBOLISCHES liegt in der Zeitnähe der beiden Ereignisse: der Verleihung des
Nobelpreises und den Vorfällen auf dem Tempelberg. Beide Ereignisse stellen die
beiden Optionen dar, denen Israel gegenüber steht.
Wir
müssen uns entscheiden, was wir sind: das Israel von Ada Yonath
oder das Israel von Ateret Cohanim.
Ein Israel, das seine Kultur, die
Wissenschaften, die High-tech, Literatur, Medizin und Landwirtschaft hegt
und pflegt, das in der ersten Reihe der fortschrittlichen menschlichen
Gesellschaft auf eine bessere Zukunft zugeht, oder ein Israel der Kriege, der
Besatzung und Siedlungen, ein fundamentalistischer Staat, der in die
Vergangenheit zurückschaut.
Im
Gegensatz zu den Schwarzsehern glaube
ich, dass diese Schlacht noch nicht entschieden ist. Israel ist weit davon
entfernt, ein monolithischer Block zu sein, wie er in Karikaturen erscheint. Es
ist eine vielfältige Gesellschaft mit vielen Facetten und Möglichkeiten. Die eine führt zum Krieg und
die andere zu Frieden und Versöhnung.
Der
Friedensnobelpreisträger Barack Obama kann einen großen Einfluss bei dieser Wahl
haben.
Wurde
ihm diese Auszeichnung nicht schließlich
als Vorschusszahlung für zukünftige Taten verliehen?
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert)