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Obama? Oh weh !  

 

Uri Avnery, 19.12.09

 

IN DIESER Woche erlebte ich eine Stunde  der Entspannung.

 

Ich war auf dem Nachhauseweg, nachdem ich William Polks neues Buch über den Iran abgeholt hatte. Ich bewundere die Weisheit dieses früheren Mitarbeiters des amerikanischen Außenministeriums. 

 

Ich ging an der Seepromenade entlang und hatte auf einmal den Wunsch, an den Strand hinunter zu gehen. Ich setzte mich auf einen Stuhl im Sand, trank eine Tasse Kaffee und rauchte eine arabische Wasserpfeife, den einzigen Rauch, den ich mir noch ab und zu gönne. Ein Strahl  der milden Wintersonne malte eine goldene Spur auf dem Wasser, und ein einsamer Surfer glitt über den weißen Schaum der Wellen.

 

Der Strand war fast leer. Ein Fremder winkte mir von weitem. Ein paar Jugendliche aus dem Ausland fragten mich, ob sie mal an meiner Pfeife ziehen dürften. Von Zeit zu Zeit wanderte mein Blick  zum entfernten Jaffa, das aus dem Meer ragt – es ist  ein wunderbarer Anblick.

 

 

EINEN AUGENBLICK lang war ich in einer Welt, die in Ordnung war, weit entfernt von den deprimierenden Nachrichten, die in der Morgenzeitung bestimmend waren. Und dann erinnerte ich mich, dass ich dies schon einmal vor vielen, vielen Jahren so empfunden hatte.

 

Es war vor 68 Jahren genau an derselben Stelle. Es war auch ein angenehmer Wintertag, vor mir eine stürmische See. Ich war nach einem ernsten Typhusanfall auf Krankenurlaub, lag hier auf einem Liegestuhl und ließ mich von einer milden Wintersonne wärmen. Ich fühlte, dass nach der schweren  Krankheit, die mich sehr mitgenommen hatte, meine Kräfte wieder zurückkamen. Ich vergaß den  weit entfernten Weltkrieg. Ich war 18 Jahre alt, und die Welt war in Ordnung.

 

Ich erinnere mich noch an das Buch, das ich damals las: Oswald Spengler, „Der Untergang des Abendlandes“, ein kolossales Werk, das ein völlig neues Bild der Weltgeschichte malte. Statt der damals akzeptierten Landschaft, in der eine grade Linie des Fortschritts aus der Antike ins Mittelalter  und von dort in die Moderne führt, malte Spengler eine Landschaft mit Bergketten, in der eine Zivilisation der anderen folgte; jede wurde geboren, wuchs, wurde alt und starb, etwa wie ein menschliches Wesen.

 

Ich saß und las und erlebte, wie mein Horizont sich erweiterte. Immer wieder legte ich den Band beiseite, um neue Erkenntnisse zu verarbeiten. Auch damals sah ich nach Jaffa hinüber – zu jener Zeit noch eine arabische Stadt.

 

Spengler behauptete, dass jede Zivilisation etwa  eintausend Jahre lebe, dann am Ende ein Weltreich gründe und dass danach eine neue Zivilisation ihren Platz einnehme. Seiner Ansicht nach  war die westliche Zivilisation dabei, ein deutsches Weltreich zu gründen, (Spengler war natürlich ein Deutscher), und die kommende  Zivilisation eine russische sei. Er hatte Recht, und er hatte Unrecht. Ein Weltreich war im Begriff zu entstehen, aber es war amerikanisch, und die nächste Zivilisation wird wahrscheinlich eine  chinesische sein.

 

 

UNTERDESSEN aber regiert Amerika die Welt, und das führt uns natürlich zu Barack Obama.

 

Ich hörte seiner Rede zu, die er beim Empfang des Friedensnobelpreises hielt. Mein erster Eindruck war, dass sie fast unverschämt war: zu einer Friedensfeier zu kommen und  dort einen Krieg zu rechtfertigen. Aber als ich sie ein  zweites und  dann noch drittes Mal las, fand ich einige unleugbare  Wahrheiten. Auch ich bin davon überzeugt, dass es Grenzen der Gewaltlosigkeit gibt. Gewaltlosigkeit hätte Hitler nicht gestoppt. Die Schwierigkeit  ist, dass diese Einsicht sehr oft als Vorwand für Aggressionen dient. Jeder, der einen stupiden Krieg beginnt – einen Krieg, der das Problem, weswegen er begonnen wurde, nicht lösen kann, – oder einen Krieg  mit  schändlichem Ziel, gibt vor, es gäbe keine Alternative.

 

Obama versucht,  dem afghanischen Krieg das „Keine-Alternative“-Abzeichen anzuheften –  dabei handelt es sich um einen derartig grausamen, überflüssigen und dummen Krieg, wie kaum je zuvor  - unseren eigenen drei letzten  militärischen Abenteuern ähnlich.

 

Obamas Beobachtungen verdienen eine Überlegung. Sie müssen und sollten debattiert werden. Aber es war merkwürdig, sie bei der Gelegenheit einer Friedenspreisverleihung zu hören. Es wäre passender gewesen, sie in West Point, der militärischen Akademie, zu hören, wo er eine Woche zuvor gesprochen hatte.

 

(Ein deutscher Humorist erwähnte, dass Alfred Nobel, der den Preis eingeführt hatte, den Dynamit erfunden habe. „Das ist die richtige Reihenfolge“, sagte er , „Zuerst sprengt man alles in die Luft, und dann macht man Frieden.“)

 

 

ICH HÄTTE erwartet, dass Obama  seine Rede  dazu nützen würde, eine wirklich weltweite Vision  auszubreiten anstelle von traurigen Reflexionen über die menschliche Natur und die Unvermeidbarkeit von Kriegen. Als Präsident der USA hätte er bei solch einem festlichen Anlass, bei der die Menschheit zuhört, die Notwendigkeit  einer neuen Weltordnung betonen sollen, die im Laufe des 21.Jahrhunderts entstehen müsse.

 

Die Schweinegrippe ist ein Beispiel, wie ein fatales Phänomen sich innerhalb von Tagen über den ganzen Globus ausbreiten kann; Eisberge, die am Nordpol schmelzen, lassen Inseln im Indischen Ozean verschwinden; der Crash auf dem Wohnungsmarkt in Chicago lässt Hunderttausende von Kindern in Afrika  vor Hunger sterben; die Zeilen, die ich in diesem Moment schreibe, werden in den nächsten Minuten  Honolulu und Japan erreichen.

 

Der Planet ist eine einzige Entität geworden -  vom politischen, wirtschaftlichen, militärischen, ökologischen, kommunikativen  wie medizinischen Standpunkt aus. Ein  politischer Führer, der gleichzeitig ein Philosoph ist, sollte Wege für eine verbindliche Weltordnung aufzeigen, eine Ordnung, die Kriege als Problemlöser in die Vergangenheit verbannt, tyrannische Regime in jedem Land verhindert und  den Weg in eine Welt ohne Hunger und Epidemien vorbereitet. Nicht morgen und sicher auch nicht in unserer Generation, aber als ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt.

 

Obama  denkt sicher darüber nach. Aber er vertritt  leider ein Land, das  so viele Aspekte einer  verbindlichen Weltordnung blockiert. Für eine Weltmacht ist es normal, gegen eine Weltordnung zu sein, die ihre Macht einschränkt und sie an Weltinstitutionen weitergibt. Deshalb sind die USA gegen den  Internationalen Gerichtshof, die weltweiten Bemühungen, den Planeten zu retten, und  die Abschaffung aller Atomwaffen. Deshalb sind  sie gegen  eine reale Weltregierung anstelle der UN, die fast ein  Instrument der US-Politik geworden ist. Deshalb lobt Obama die NATO, einen militärischen Arm der USA, und  verhindert eine aufkommende, wirklich effektive internationale Militärkraft.

 

Die norwegische Entscheidung, Obama mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen, grenzt ans Lächerliche. In seiner Oslo-Rede  bemüht sich Obama  nicht einmal  post factum eine plausible Rechtfertigung für diese Entscheidung zu geben. Schließlich ist dieser Preis nicht für Philosophen, sondern für Aktivisten gedacht.  Nicht für Worte, sondern für Taten.

 

 

ALS ER zum Präsidenten gewählt wurde, rechneten wir mit einigen Enttäuschungen. Wir wussten, dass kein Politiker  wirklich so perfekt wie Obama, der Kandidat,  aussehen  und reden konnte. Aber die Enttäuschung ist viel größer und viel schmerzlicher, als  wir erwarteten.

 

Es betrifft praktisch alle Gebiete. Den Irak hat er noch nicht verlassen, schon steckt er  mit beiden Beinen tief  im afghanischen Sumpf – ein Krieg, der  länger und noch stupider  zu werden droht als der Vietnamkrieg. Jeder, der nach einem Sinn in diesem Krieg sucht, wird  dies vergeblich tun. Er kann nicht gewonnen werden. Tatsächlich ist nicht klar, wie ein Sieg in diesem Kontext aussehen soll. Er wird gegen den falschen Feind geführt , gegen das afghanische Volk, anstelle gegen die El Qaida-Organisation. Es sieht so aus, als würde man ein Haus verbrennen, um die Mäuse darin loszuwerden.

 

Er versprach, das Guantanamo-Gefängnis und andere Folterlager  zu schließen – sie führen alle ihr Geschäft weiter.

 

Er versprach, den Massen von Arbeitslosen in seinem Land zu helfen, aber  schüttet das Geld weiter in die Taschen der Topmanager,  die wie immer unersättliche Raubtiere sind.

 

Sein Anteil an der Lösung der Klimakrise  ist hauptsächlich verbal, wie  sein Engagement  in bezug auf die Zerstörung der Massenvernichtungswaffen.

 

Die Rhetorik hat sich zwar verändert. Die  salbungsvolle Arroganz der Bush-Zeit ist  ersetzt worden durch einen versöhnlicheren Stil, und  es sieht so aus, als suche  er nach einem fairen Abkommen. Dies sollte  anerkannt werden – aber nicht zu sehr.

 

 

ALS ISRAELI  bin  ich natürlich an seiner Einstellung zu unserm Konflikt interessiert. Als er gewählt wurde, hat er  große, ja, übertriebene Hoffnungen geweckt. Der Haaretz-Kolumnist Aluf Ben hat es in dieser Woche so ausgedrückt: „Er wurde für eine Kreuzung zwischen dem Propheten Jesaja, Mutter Theresa und Uri Avnery gehalten.“ Ich fühle mich geschmeichelt, mich in solch erhabener Gesellschaft wieder zu finden, aber ich muss  ihm zustimmen: die Enttäuschung ist so groß wie  die Hoffnungen.

 

In der langen Oslo-Rede widmete Obama   uns ganze 16 Wörter: „Wir sehen im Nahen Osten, wie sich der Konflikt zwischen Arabern und Juden zu verschärfen scheint.“

 

Nun,  zunächst einmal ist es kein Konflikt zwischen Arabern und Juden. Es ist ein Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis. Das ist ein großer Unterschied, und wenn  man ein Problem lösen will, muss man zunächst ein klares Bild davon haben und in seinen Definitionen genau sein.

 

Und was noch wichtiger ist: dies ist die Bemerkung eines Zuschauers;  eines, der in seinem Sessel sitzt und fernsieht; eines Theaterkritikers, der eine Vorstellung ansieht. Sollte ein Präsident der USA den Konflikt wirklich in dieser Weise betrachten?

 

Wenn sich  der Konflikt tatsächlich  verschärft,  dann müssen auch  die USA und Obama persönlich  angeklagt werden. Sein Einknicken beim Siedlungsproblem und sein totales Nachgeben gegenüber der Pro-Israel-Lobby in den USA hat unsere Regierung ermutigt, zu glauben, sie könne alles tun, was sie will.

 

Anfangs war Binyamin Netanyahu über den neuen Präsidenten beunruhigt. Aber die Furcht hat sich aufgelöst, und  jetzt  behandelt er  Obama und dessen Leute mit Herablassung, die an Verachtung grenzt. Die mit der letzten Regierung gemachten Abkommen werden ganz offen gebrochen. Präsident George Bush erkannte die „Siedlungsblocks“ an für den Gegenzug, alle anderen  Siedlungen auf Dauer einzufrieren und die ab März 2001 errichteten Außenposten aufzulösen. Doch es wurde nicht nur kein einziger Außenposten abgebaut, in dieser Woche hat die Regierung  Dutzenden von Siedlungen außerhalb der Blocks, einschließlich der schlimmsten Kahane-Nester den Status von „bevorzugten Gebieten“ gewährt. Aus einem von diesen haben Schlägertypen in dieser Woche  einen Brandanschlag auf eine Moschee verübt.

 

Das „Einfrieren“ ist ein Witz. In diesem  absurden Theater übernehmen die Siedler die Rolle in einer Vorstellung  gewalttätiger Opposition, die  von der Regierung eingeladen und bezahlt wird. Die Polizei verwendet gegen sie kein Pfeffergas, Tränengas, Gummigeschosse und Gummiknüppel, wie sie es  jede Woche gegen israelische  und palästinensische  Demonstranten tut, die gegen die Besatzung protestieren. Sie führen auch keine nächtlichen Aktionen in den Siedlungen durch, um Aktivisten zu verhaften – wie sie es jetzt in Bilin und anderen palästinensischen Dörfern tut.

 

In Jerusalem ist die Siedlungsaktivität natürlich in vollem Schwung. Palästinensische Familien werden - während die Siedler jubeln - aus ihren Häusern geworfen. Und die wenigen israelischen Demonstranten, die gegen die Ungerechtigkeit protestieren, werden in Krankenhäuser und Gefängnisse geschickt. Die  mit diesen Aktivitäten befassten Siedlergruppen erhalten aus den USA Geld-Geschenke, die von den Steuern abgezogen werden können – auf diese Weise zahlt Obama  indirekt genau für die Handlungen, die er verurteilt.

 

 

WÄHREND EINER Stunde der Entspannung in milder Wintersonne am Strand gelang es mir, die deprimierende Situation bei Seite zu schieben. Bevor ich  nach einem Spaziergang von zehn Minuten mein Zuhause erreichte, kam alles zurück und landete mit voller Wucht wieder auf mir. Für Liegestühle ist jetzt fürwahr keine Zeit. Vor uns liegt noch ein Kampf, und um ihn zu gewinnen, müssen wir all unsere Kräfte mobilisieren.

 

Und Obama? O weh !

 

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, Christoph Glanz,  vom Verfasser autorisiert )