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Zwei Finger

 

Uri Avnery, 2. Oktober 2010

 

EHUD OLMERT hob seine beiden Hände, die beiden Zeigefinger berührten sich beinahe, und er sagte: „Wir waren so nah!“

 

Er sprach über die Verhandlungen, die er persönlich mit Mahmoud Abbas geführt hatte, kurz bevor er selbst gezwungen wurde, das Amt des Ministerpräsidenten aufzugeben.

 

Das war der Höhepunkt der Rede, die er letzte Woche bei einem Treffen der „Genfer Initiative“ hielt. Bevor wir diese analysieren, ein paar Worte über den Gastgeber und über den Redner.

 

 

DIE GENFER INITIATIVE stieg auf wie ein Meteor in den frühen 2000er Jahren und  fiel ab wie ein Meteor.

 

 Es war eine ernsthafte Bemühung, ein  vollständiges und endgültiges Friedensabkommen mit dem palästinensischen Volk zu entwerfen. Sie kam, nachdem von Gush Shalom ein Entwurf vorbereitet worden war, und sie ähnelte ihm in vieler Weise. Aber es gab zwei große Unterschiede: Die Genfer Initiative hatte einen bekannten  palästinensischen Partner, und sie ging  weit mehr in Einzelheiten. Während der Gush Shalom-Entwurf nur die Prinzipien festlegte, ging die Genfer Initiative in die Details und umfasste 423 Seiten; außerdem lagen Karten bei.

 

Als dieser Entwurf bei einer eindrucksvollen Feier in Genf in Gegenwart  ranghoher internationaler Persönlichkeiten  veröffentlicht wurde (und ohne das „radikale“ israelische Friedenslager, das von den Initiatoren boykottiert worden war, um ihren Mainstream-Charakter zu betonen), war es ein internationales Ereignis.

 

Einige Monate lang war die Initiative im Zentrum der Weltaufmerksamkeit.  Viele Regierungen fanden sie interessant. Auch ich war ihretwegen aktiv – obwohl ich nicht eingeladen war. Ich sprach über sie mit einigen Staatsmännern, einschließlich des deutschen Bundespräsidenten und des deutschen Außenministers. Überall begegnete ich einer positiven Haltung. Jeder wusste sie zu schätzen und war sehr bereitwillig, hier zu helfen.

 

Und dann verschwand sie so schnell, wie sie gekommen war. Der Coup de grace kam von Ariel Sharon, dem Ministerpräsidenten, der aus seinem Hut ein Kaninchen  mit Namen „Trennung“ zog. Ihre Ausführung wurde von viel Theater und Melodrama begleitet, und die Welt vergaß die Genfer Initiative.

 

Was bleibt, ist eine Gruppe Unterstützer, eine Friedensvereinigung, eine unter vielen, die  Inserate veröffentlicht und Treffen einberuft. Olmerts Rede wurde bei solch einem Treffen  gehalten.

 

Inzwischen geschah mit der Initiative etwas Seltsames. Ihr geistiger Vater war Yossi Beilin, eine Person  mit einem produktiven – manche sagen zu produktiven – Geist. Beilin begann seine bewegte Karriere in der Labor-Partei als  Assistent von Shimon Peres. Als er dort scheiterte, schloss er sich Meretz an, wurde ihr Führer und führte sie zu einer  katastrophalen Wahlniederlage.

 

Seit  kurzem besteht eine seltsame Situation. Beilin ist noch immer der Vorsitzende der Genfer Initiative, aber jetzt ist er gegen ein volles Friedensabkommen, das dem Konflikt ein Ende setzen würde. Er behauptet, solch ein Abkommen sei unmöglich, und  deshalb  sollte das Ziel ein Interim-Abkommen sein  – das genaue Gegenteil der Genfer Initiative.

 

Das Oslo-Abkommen hat gezeigt, dass ein Interimabkommen nur die Fortsetzung des Konfliktes mit anderen Mitteln ist – nicht eine Vorbereitung für ein Endabkommen, sondern  eher ein Mechanismus  zu seiner Verhinderung. Der Initiator der Initiative ist so ihr Bestatter geworden.

 

 

VOM GASTGEBER zum Redner. Ehud Olmert ist heute der unpopulärste Politiker im Land

(ein Titel, den es für mehrere Kandidaten gibt).

 

Direkt von Anfang seiner politischen Karriere an schwebte eine Wolke des Verdachtes über seinem Kopf, und im Lauf der  Zeit  wurde sie  immer dicker. Im Augenblick stehen ein halbes  Dutzend Strafverfahren und polizeiliche Untersuchungen gegen ihn an: Bestechungen, Betrug, Fälschungen u.a. Es ist nicht unmöglich, dass er im Gefängnis landet, wo er von  mehreren seiner Kollegen begrüßt werden wird, einschließlich seines früheren Finanzminister.

 

Als ob dies noch nicht genug wäre, führt Olmert gegen seine früheren Minister, besonders gegen Barak eine bittere Kampagne durch, indem er mehrere Anklagen gegen sie schleudert. Eine der schwerwiegendsten - in seinen Augen – ist:  Barak hätte versucht, die Operation Cast Lead abzukürzen.

 

Mitten in all diesem Durcheinander hatte Olmert die Zeit und Energie gefunden, seine Rede für das Treffen der Genfer Initiative vorzubereiten. In ihr beschreibt er seine Bemühungen, mit den Palästinensern Frieden zu schließen. Mit Hilfe  seiner beiden Zeigefinger behauptet er,  der Frieden  sei sehr nahe gewesen, und  ein vollständiges und endgültiges Abkommen  hätte jetzt erreicht werden können. Somit nahm er eine Position ein, die weiter links steht als die des berühmten Linken Yossi Beilin.

 

Vom politischen Standpunkt aus gesehen, hatte die Rede praktisch wenig Gewicht. Die Öffentlichkeit ist viel mehr an seinen gefälschten Konten interessiert und den  mit Dollar vollgestopften Umschlägen, die er empfing. Der Teil seiner Rede, in der er Barak bearbeitete („Ehud gegen Ehud“), ließ den Teil, der dem Frieden gewidmet war, vergessen.

 

 

DOCH IST es wert, dem Aufmerksamkeit  zu schenken, was er  zu sagen hatte. Besonders da es von einer Person kommt, die in einem rechten Milieu aufwuchs und deren ganze Karriere sich in rechts gerichteten Parteien  abspielte.

 

Eine halbe Stunde lang sprach er fließend, ohne Unterlagen zu benützen, und befasste sich mit dem Kernproblem der Verhandlungen mit den Palästinensern.

 

Was die Grenzen betrifft, wäre ein Abkommen fast erreicht worden, behauptete Olmert. Die Grenze würde sich auf die Grüne Linie ( vor 1967) gründen mit einem Gebietstausch, damit die großen Siedlungsblöcke bei Israel bleiben könnten.

 

In dieser Sache, so scheint es wenigstens, komme man allmählich zu  einem Konsens . Aber nur dem Prinzip nach, weil zwei große Felsblöcke den Weg zu einem Abkommen blockieren.

 

Die  nah an der Grenze liegenden Siedlungen  werden keine großen Schwierigkeiten bereiten. Der Etzion-Block, Modi’in-Illit und Alfei Menasche liegen fast auf der Grenze und können mit israelischem Land ausgetauscht werden.

 

Aber zwei Siedlungen, die tief auf palästinensischem Gebiet liegen – Ariel und Maaleh Adumin – stellen ganz andere Probleme dar. Ariel liegt 20km von der Grünen Linie entfernt, nahe am Rückgrat der Westbank (die Nablus-Jerusalem-Straße).  Zusammen mit der Straße, die Ariel mit dem eigentlichen Israel verbindet,  schneidet es tief in  palästinensisches Gebiet hinein..

 

Wenn Maale Adumin mit Jerusalem verbunden wird, dass  ein zusammenhängendes Gebiet entstehen würde, schneidet es die Westbank fast in zwei Teile. Der Verkehr zwischen Nablus und Hebron wäre gezwungen, einen sehr großen Umweg zu machen.

 

Die Evakuierung dieser beiden großen Siedlungen würde ein Riesenproblem sein. Ihre ständige Existenz würde ein noch größeres Problem darstellen. Vielleicht könnten kreative Lösungen gefunden werden: unter palästinensischer Herrschaft bleiben oder als kleine Enklaven innerhalb des palästinensischen Staates. Manche denken an Verbindungen wie Tunnel, Brücken oder besondere Straßen, wie jene, die einmal Westberlin mit Westdeutschland verband.

 

Diese Lösung wird vor allem von der Art der Grenze zwischen Israel und Palästina abhängen. Wenn sie eine offene Grenze sein wird mit freier Bewegung für Personen und Waren, wird alles leichter sein. Soweit sich der Verkehr  frei zwischen Gaza und Hebron durch israelisches Gebiet bewegen wird, müsste er sich auch zwischen Ariel und Kfar Saba durch palästinensisches Gebiet bewegen können. Doch ist es unsicher, ob die Palästinenser damit einverstanden sein würden.

 

 

NACH OLMERT könnte das Jerusalem-Problem entlang den Linien gelöst werden, die Präsident Clinton fest gelegt hat: was jüdisch ist, kommt zu Israel, was arabisch ist, kommt zu Palästina.

 

Dies wird eine  weitere große Konzession von Seiten der Palästinenser  notwendig machen, da einige jüdische Stadtteile als Siedlungen jenseits der Grünen Linie gebaut worden sind. Für die Bereitschaft, ihnen zu erlauben, sich Israel anzuschließen, müssten die Palästinenser eine sehr große Kompensation erhalten.

 

Aber die Hauptsache ist, dass Olmert schließlich „das vereinigte Jerusalem als ewige Hauptstadt Israels“ begraben hat. Er hat die Teilung Jerusalems direkt auf den Tisch gelegt ohne List wie Barak in Camp David und ohne  Beilins kreative Tricks.

 

 

ABER DER größte Durchbruch in Olmerts Rede war an der Flüchtlingsfront.

 

Olmert  war damit einverstanden, dass Israel zugeben sollte,  es habe  seinen Teil des Problems geschaffen und schlug Abbas einen umfassenden Plan für die Wiederansiedlung aller Flüchtlinge  vor, einschließlich der Rückkehr einiger Zehntausend nach Israel

 

Die Bedeutung dieses Punktes kann nicht übertrieben werden. Das Flüchtlingsproblem hat tiefe emotionale Auswirkungen. Es berührt direkt die Wurzel des israelisch-palästinensischen Konfliktes. Bis jetzt hat jede israelische Regierung unsere Verantwortung abgeleugnet und sich geweigert, über die Rückkehr auch nur eines einzigen Flüchtlings zu reden ( abgesehen von einigen mickrigen „Familienzusammenführungs“fällen.)

 

Meiner Meinung nach ist die von Olmert vorgeschlagene Zahl weniger bedeutsam als sein Einverständnis,  überhaupt Flüchtlinge aufzunehmen. Nach einem Witz stimmt eine ehrbare Dame zu,  für eine Million Dollar mit einem Gentleman zu schlafen; „ jetzt wo wir uns über das Prinzip einig sind, müssen wir nur noch über den Preis verhandeln“, sagte der ….

 

Falls es bei der Verhandlung nicht mehr darum geht, „ob“ Flüchtlinge zurückkommen, sondern  „wie viele“,  kann zweifellos ein Abkommen erreicht werden. (Gush Shalom schlug damals  vor, jedes Jahr 50 000 zurückzubringen. Die Genfer Initiative schlug eine komplizierte Formel vor, bei der es um einige zehntausend geht).

 

 

WARUM IST dies so wichtig? Wenn sich Olmerts Popularität der Null nähert, warum ist es dann  überhaupt interessant, was er sagt?

 

Olmert ist ein Optimist und hat eine Menge Selbstvertrauen. Er ist davon überzeugt, dass er aus all seinen Problemen irgendwie herauskommt und in die politische Arena  zurückkehrt. Er glaubt wirklich, dass er  wieder Ministerpräsident werden kann.

 

Keiner leugnet, dass er  ausgeprägte politische Instinkte hat. Wenn eine Person mit solchen Ambitionen ein Abkommen vorschlägt, heißt das, dass er davon überzeugt ist, dass diese Positionen jetzt von der großen Mehrheit akzeptiert werden.

 

Deshalb schlage ich vor, Olmerts zwei Finger sehr genau zu beobachten.

 

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser  autorisiert)