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Die größte Schau auf Erden

 

Uri Avnery, 1. August 2012

 

UM DIE Eröffnungszeremonie der olympischen Spiele mit einem Wort zusammenzufassen: Kitsch.

Um die Eröffnungszeremonie der olympischen Spiele mit zwei Wörtern zusammenzufassen:

Ein wunderbarer Kitsch.

 

 

EHRLICHES EINGESTÄNDNIS: Ich bin  anglophil, einer der alles Englische mag.

 

Im Alter von 15 Jahren begann ich, für einen Anwalt zu arbeiten, der die Oxforduniversität besucht hatte. Im Büro wurde nur Englisch gesprochen. Also musste ich die englische Sprache erlernen und  verliebte mich hoffnungslos in die englische Sprache und  allgemein  in die britische Kultur.

 

Mancher mag sich  darüber wundern, da ich mich zur selben Zeit  einer terroristischen Organisation anschloss, deren Ziel es war, die Briten zu bekämpfen, um sie aus Palästina zu vertreiben.

 

Bald nach meinem 15. Geburtstag trat ich vor das Zulassungsgremium des Irgun. Ich wurde gefragt, ob ich die Engländer hasse. Geblendet von einem mächtigen Projektor, antwortete ich mit „nein“. Da ich die Bestürzung auf der anderen Seite des blendenden Lichts spürte, fügte ich hinzu, ich wolle unser Land  befreien, dazu müsse man doch die Briten nicht hassen.

 

Tatsächlich fühlten die meisten Irgunkämpfer so, denke ich. Der nominelle Chef-Kommandeur Vladimir (Ze’ev) Jabotinsky war  ausgesprochen anglophil. Er schrieb einmal, der Engländer sei in den Kolonien ein brutaler Unterdrücker, aber zu Hause sei der Engländer ein anständiger und liebenswürdiger Kerl. Als Großbritannien  Nazi-Deutschland den Krieg erklärte, ordnete Jabotinsky ein sofortiges Ende aller Irgun-Aktionen an. Irguns Militärkommandeur David Raziel wurde von einer Nazibombe getötet, während er den Briten im Irak beistand, als Pro-Nazis dort die Macht ergriffen hatten,

 

Sein Nachfolger Menachem Begin kam nach Palästina mit der polnischen Exilarmee, in der er als polnisch-englischer Übersetzer diente. In dieser Funktion hatte er oft Kontakt mit den britischen Behörden. Er erzählte mir einmal, wie er britischen Offizieren Dokumente ins King-David-Hotel brachte, in das Gebäude, das er später – als Irgun-Kommandeur -  zu sprengen befahl. Jahre später empfing ihn die Königin gnädig als Ministerpräsident von Israel.

 

Insgesamt  hatten wir  im Großen und Ganzen das Gefühl, dass wir Glück hatten, gegen das britische und nicht gegen ein französisches oder amerikanisches (geschweige denn ein israelisches) Besatzungsregime zu kämpfen.

 

 

NACH DIESEM Bekenntnis noch ein zweites: Ich bin kein Sportbegeisterter.

Tatsächlich habe ich an Sport kein Interesse.

 

Sogar als Kind war ich  der Schlechteste im Turnunterricht. Ein gutes Buch zog mich mehr an, als ein aufregendes Fußballspiel. Mein Vater nannte den Sport „Goyim-Naches“ -Vergnügen für Nicht-Juden. (Naches  auf Jiddisch kommt vom hebräischen Wort Nachat = Vergnügen, Zufriedenheit).

 

 

DOCH ZURÜCK  zur Olympiade - im Sommer der Finanzkrise produzierten die Briten etwas Einzigartiges: originell, aufregend, überraschend, bewegend, humorvoll. Ich lachte, als ihre Majestät aus dem Helikopter sprang; ich vergoss beinahe eine Träne, als die behinderten Kinder „God save the Queen“ sangen.

 

Doch schauen wir hinter den Pomp.  Haben die olympischen Spiele eine tiefere Bedeutung? Ich denke ja.

 

Konrad Lorenz, der österreichische Professor, der das Verhalten der Tiere erforschte, um das menschliche Verhalten von Grund auf zu verstehen, behauptete, dass der Sport ein Ersatz für Krieg sei.

 

Die Natur hat den Menschen mit aggressiven Instinkten ausgerüstet. Als die Ressourcen auf der Erde knapp wurden, mussten Menschen – wie andere Lebewesen – gegen Eindringlinge kämpfen, um am Leben zu bleiben.

 

Diese Aggressivität ist so tief in unserm biologischen Erbe verwurzelt, dass es  ganz sinnlos ist, zu versuchen, sie zu eliminieren. Lorenz dachte: wir müssten  stattdessen ein Ventil dafür finden. Sport ist eine Antwort.

 

Und tatsächlich, wenn man auf die verschiedenen Manifestationen dieses menschlichen Zeitvertreibs  sieht, bemerkt man Ähnlichkeiten zum Krieg. Nationale Flaggen werden  von sieges-besessenen Mengen herumgetragen. Die Besiegten empfinden und benehmen sich wie Armeen nach einer verlorenen Schlacht.

 

In alten Zeiten  wurden Kriege oft durch Duelle ausgetragen. Jede Armee pflegte einen Kämpfer zu schicken, und der Kampf auf Leben und Tod zwischen den Beiden pflegte, das Problem zu entscheiden. Dies war so bei dem legendären Kampf zwischen David und Goliath. In den heutigen Sportarten kämpft oft ein einzelner Champion  für seine Nation auf dem Tennisplatz, im Judoring oder im Olympiapool.

 

Ein Nationalfußballteam wird  auf den Wellen des Patriotismus für die Ehre seines Landes in die Schlacht getragen. Jeder Spieler ist sich zutiefst der großen Verantwortung bewusst, die auf seinen Schultern  (oder in seinen Füßen) ruht. Ein geschlagenes Team sieht oft wie der bemitleidenswerte Rest aus Napoleons großer Armee aus, als sie aus Russland zurückkehrte.

 

In Europa, wo die nationale Souveränität  nach und nach ihre Bedeutung verliert, hat der Fußball ihren Platz eingenommen.  Wenn man eine Volksmenge  schreiend und die Nationalfahne schwenkend durch die Straßen irgend einer europäischen Stadt ziehen sieht, berauscht vom Nationalstolz (und vom Alkohol), dann weiß man, dass ein „bedeutender“ Wettkampf stattfindet.

 

Die weithin verurteilten englischen Fußball-Hooligans (nach einer  wilden irischen Familie in London benannt ) passen in dieses Bild. Patriotismus, Krieg und Gewalt wachsen auf demselben Baum.

 

Was das israelische Team betrifft, ist das Bewusstsein der nationalen Pflicht noch ausgeprägter.  Israels Sportler und Sportlerinnen siegen nicht für sich selbst, sie siegen für das jüdische Volk. Jeder  Sieg (einer der wenigen) ist ein nationaler Sieg, jede (leider so häufige) Niederlage ist eine Niederlage für Israel. So wird es  in unsern Medien dargestellt, so sehen es die Sieger und Verlierer selbst.

 

 

IN GEWISSER Hinsicht ist Sport nicht nur ein Ersatz für Krieg, sondern auch für Religion.

 

Beim Sport gibt es religiösen Eifer. Es genügt, vor Beginn des Spiels in die Gesichter der Fußballspieler zu sehen, wenn sie fast hingebungsvoll die Nationalhymne singen, damit uns die Heiligkeit der Gelegenheit bewusst wird - auch wenn ein britischer Spieler aus Jamaika kommen mag und ein französischer aus Algerien.

 

Selbst in der untertriebenen  britischen Eröffnungszeremonie wurden religiöse Untertöne deutlich. Die Fackel, die Fahne, die Hohen Priester; wie es eine englische Hymne ausdrückt   „Vorwärts christliche Soldaten“, als ob sie in den Krieg ziehen wollten. So auch die muslimischen Soldaten, auch die jüdischen  und wer auch immer.

 

In Israel rufen jüdische Sportler und Sportlerinnen oft den Allmächtigen bei ihren Kämpfen an . Sie umklammern von kabbalistischen Rabbinern gesegnete Amulette, beten und bitten um göttliche Gunst. ( Wenn zwei jüdische Teams beteiligt sind, ist nicht klar, wie die göttliche Vorsehung entscheidet, wem sie ihre Gunst schenkt. Es muss dem göttlichen Schiedsrichter einige Kopfschmerzen bereiten, wenn Juden gegen Juden spielen. )

 

Ich vermute, dass im alten Griechenland, wo die Olympiade begann, die Spieler  verschiedene Götter und Göttinnen anriefen und hofften,  den besten Gott für sich zu gewinnen. Im ausgedehnten byzantinischen Weltreich kämpften generationenlang die Sportler zweier Farben gegen einander.

 

Sport ist, wie er sich bei den olympischen Spielen darstellt, jetzt ein weltweiter Kult, (weniger  schädlich als die meisten, ohne den Mumpitz von einigen,) ein Kult, der vereinigt,  statt zu trennen. Alles zusammen: eine gute Sache.

 

 

DER VEREINIGENDE Faktor ist vielleicht das herausragende Charakteristikum dieses Ereignisses.

 

Hundert Millionen, vielleicht eine Milliarde Menschen rund um den Globus beobachteten dies,  jeder vertreten durch seinen Champion.

 

Das ist mehr als eine Kuriosität. Hoffentlich ist es ein Bild der Zukunft. 

 

Als man die Delegationen hereinkommen sah,  war das ein erhebendes Erlebnis. Fast alle Nationen der Erde waren vertreten, folgten einander in schneller Folge und schwenkten ihre bunten Fahnen. Während der folgenden Tage standen sie im Wettbewerb mit einander, trafen sich, achteten einander, alles in einem Geist der Kameradschaft. Sportler und Sportlerinnen der einen Nation bewunderten die Leistungen derjenigen aus anderen  Rassen; die Vorurteile verschwanden.

 

Es ist interessant, dieses internationale Treffen mit einem anderen Ort zu vergleichen, wo sich alle Nationen treffen: die Organisation der Vereinten Nationen. In einem Match zwischen beiden würden  die Olympiade leichtes Spiel haben.

 

Kann sich einer  ein olympisches Treffen vorstellen, bei dem einige Nationen ein offizielles Veto besitzen, um es gegen eine andere Nation anzuwenden? Kann man die integrierte Untätigkeit der UN mit der Hyperaktivität der Spiele vergleichen?

 

Für mich ist dies die Hauptattraktion des Ereignisses. Ich glaube stark an die Weltregierung. Ich bin überzeugt, dass sie eine absolute Notwendigkeit für das Überleben der Menschheit und des Planeten ist. Klimawandel, die Verbreitung von nuklearen Waffen, die globale Wirtschaft, weltweite Kommunikationen – all dies macht eine globale Zusammenarbeit nötig und möglich.

 

Ich bin ziemlich sicher, dass zum Ende des 21. Jahrhunderts es eine Art globaler Regierung geben wird, die sich auf eine globale Demokratie gründet. Die Olympischen Spiele sind ein gutes Beispiel für solch eine Realität. Alle Nationen sind vertreten, alle haben die gleichen Rechte und  - am wichtigsten – alle halten dieselben Regeln ein. Im Prinzip hat jeder Kämpfer dieselbe Chance, eine Goldmedaille zu gewinnen, wie jeder andere – egal, ob er zu dieser oder jener  großen oder kleinen Nation gehört.

 

Wäre es nicht großartig , wenn die ganze Welt nach denselben Richtlinien organisiert wäre?

 

 

FÜR EINEN Israeli war der Einzug der Delegation eine ernüchternde Erfahrung.

 

Wir neigen dazu, uns selbst als Mittelpunkt der Welt zu sehen, eine Macht jenseits unserer bescheidenen Größe. Doch hier würde unsere Delegation als eine unter vielen, eine der kleineren ohne den Glamour marschieren, den einige andere besitzen, ohne einen einzigen Sportler, den die ganze Menschheit kennt.

 

Ein guter Grund für Bescheidenheit – eine Tugend, deren wir uns gewöhnlich nicht rühmen können.

 

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser  autorisiert)