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RACHEL
Uri Avnery,
4.Juni 2011.
ICH HATTE das unverdiente
Glück,58 Jahre lang mit Rachel Avnery zusammen zu leben. Am Samstag, den 21. Mai
nahm ich Abschied von ihr. Sie war im Tode genau so wunderbar, wie sie es im
Leben war. Ich konnte meine Augen nicht von ihr wenden.
Ich schreibe dies, um mir
zu helfen, das Unannehmbare anzunehmen. Ich bitte um Nachsicht.
WENN EIN Mensch mit einem
Wort gekennzeichnet werden könnte, dann war es bei ihr:
Empathie.
Sie hatte eine unheimliche
Fähigkeit, die Gefühle anderer nachzuempfinden. Ein Segen und ein Fluch. Wenn
jemand unglücklich war, so war sie es auch. Keiner konnte seine innersten
Gefühle vor ihr verbergen.
Ihre Empathie berührte
jeden, den sie traf. Sogar noch in den letzten Monaten. Ihre Pflegerinnen
erzählten ihr bald ihre Lebensgeschichten.
Einmal gingen wir uns einen
Film ansehen, der in einer kleinen slowakischen Stadt während des Holocaust
spielte. Eine einsame, alte Frau verstand nicht, was geschah, als Juden
zusammengetrieben wurden, um in die Todeslager deportiert zu werden, Nachbarn
mussten ihr helfen, zum Sammelpunkt zu kommen.
Wir kamen spät und fanden
im Dunkeln noch Plätze. Als das Licht am Ende anging, stand Menachem Begin
direkt vor uns auf. Seine rot geweinten Augen trafen sich mit Rachels Augen.
Seine Umgebung vergessend, ging Begin direkt auf sie zu, nahm ihren Kopf in
seine Hände und küsste sie auf die Stirn.
IN VIELERLEI Hinsicht
ergänzten wir einander. Ich neige zu abstraktem Denken, sie zu emotionaler
Intelligenz. Ihre Weisheit schöpfte sie aus dem Leben. Ich bin introvertiert;
sie ging auf die Menschen zu, obwohl sie ihre Privatsphäre schätzte. Ich bin ein
Optimist; sie war eine Pessimistin. In jeder Situation sah ich positive Chancen;
sie sah die Gefahren. Ich stand jeden Morgen fröhlich auf, bereit für die
Abenteuer eines neuen Tages; sie stand spät auf
mit dem Gefühl, dass der Tag nicht gut sein würde.
Unser persönlicher
Hintergrund war sehr ähnlich: in Deutschland in jüdisch-bürgerliche,
intellektuelle Familien geboren, die an Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit
glaubten, verbunden mit einem tiefen Pflichtbewusstsein. Rachel hatte all dies
in Hülle und Fülle. Sie hatte einen fast fanatischen Gerechtigkeitssinn.
Die ersten Wörter die
Rachel je sprach, nachdem ihre Familie vor der Gestapo nach Capri geflohen war,
waren „Mare schön“ italienisch für
Meer, schön auf deutsch.
Sie hat niemals Deutsch
lesen oder schreiben gelernt, hat die Sprache aber perfekt von ihren Eltern
sprechen gelernt – sie korrigierte sogar meine grammatikalischen Fehler im
Deutschen.
Rachel fehlte – leider –
die preußische Pünktlichkeit. Das war eine ständige Quelle für
Auseinandersetzungen zwischen uns. Ich fühle mich physisch unwohl, wenn ich
nicht pünktlich bin. Rachel war immer, aber auch immer, zu spät.
DREIMAL TRAF ich sie zum
ersten Mal.
1945 gründete ich eine
Gruppe, um die Idee einer neuen hebräischen Nation zu propagieren, die ein
Bestandteil der semitischen Region ist, wie die arabische Nation. Da wir zu arm
waren, um ein Büro zu mieten, trafen wir uns in den Wohnungen von Mitgliedern.
Bei solch einem Treffen kam
ein 14jähriges Mädchen herein, um zuzuhören. Sie war die Tochter des Vermieters.
Ich bemerkte nebenbei, dass sie sehr hübsch ist.
Fünf Jahre später traf ich
sie wieder, als ich eine bekannte Zeitschrift herausgab, mit der ich alles
verändern wollte, einschließlich Werbung: Mädchen anstelle des damals gewöhnlich
langweiligen Textes.
Wir brauchten für eine
Anzeige ein hübsches Mädchen. Aber es gab keine professionellen Models im neuen
Staat. Einer meiner Mitarbeiter hatte eine Theatergruppe. Er stellte mich einem
Mitglied dieser Gruppe mit Namen „Rachel“ vor.
Wir machten ein paar Fotos
am Strand, und ich nahm sie auf meinem Motorrad mit nach Hause. Wir fielen in
den Sand und lachten nur.
Beim dritten Mal war es im
selben experimentellen Theater. Dort erschien sie wieder, und irgendwann
versuchte sie, mein Alter zu erraten und versprach für jedes falsch geschätzte
Jahr einen Kuss. Sie tippte auf fünf Jahre zu jung und wir machten einen Termin
aus, um das Versprechen zu erfüllen.
Wir verabredeten uns von
Zeit zu Zeit. Einmal sollte ich sie um Mitternacht in einem Cafe treffen. Als
ich nicht ankam, ging sie, um mich
zu suchen. Sie fand eine Menge Leute vor meinem Büro. Es wurde ihr gesagt, ich
sei im Krankenhaus. Einige Soldaten hätten mich angegriffen und mir alle Finger
gebrochen.
Ich war hilflos. Rachel bot
sich an, mir für einige Tage zu helfen. Sie dauerten 58 Jahre.
Wir fanden, dass wir
zusammenleben könnten. Da wir religiöse Hochzeiten verachteten (zivile
Hochzeiten gibt es in Israel nicht), lebten wir fünf Jahre in „wilder Ehe“. Dann
wurde ihr Vater schwerkrank. Um ihn zu beruhigen, heirateten wir in Eile in der
privaten Wohnung eines Rabbiners. Wir liehen uns die Zeugen einer andern
Hochzeit aus und den Ring von der Frau des Rabbiners.
Es war das erste und letzte
Mal, dass wir einen Ring trugen.
58 JAHRE LANG las sie vor
der Veröffentlichung jedes Wort, das ich schrieb. Das war nicht einfach. Rachel
hatte strenge Prinzipien und hielt sich an sie. Einige meiner Seiten waren voll
roter Korrekturen. Zuweilen hatten wir ernste Diskussionen, aber am Ende gab
einer nach – gewöhnlich ich. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen wir uns
nicht einig werden konnten, schrieb ich, was ich wollte (und bedauerte es mehr
als einmal).
Sie strich alle
persönlichen Angriffe aus, die sie als ungerecht empfand. Auch Übertreibungen.
Jede logische Schwäche
– sie fand jeden Widerspruch, der mir entgangen war. Sie verbesserte mein
Hebräisch. Aber meistens fügte sie das Zauberwort „fast“ hinzu.
Ich neigte zum
Verallgemeinern. „Alle Israelis wissen…“, „Politiker sind zynisch…“ - Sie
veränderte dies in „Fast alle Israelis …“,“ die meisten Politiker sind …“ Wir
scherzten, dass sie meine Artikel mit „fast“ bestreute, wie ein Koch Salz über
die Suppe streut.
Sie schrieb nie selbst
einen Artikel. Noch gab sie Interviews. Auf solche Fragen hin antwortete sie:
„Wofür habe ich denn einen Sprecher geheiratet?“
IHR WIRKLICHES Talent lag
wo anders. Sie war die perfekte Lehrerin, eine Berufung, die sie 28 Jahre lang
ausübte.
Dazu kam es fast durch
Zufall: als sie
in der Armee diente und
einen Lehrkurs absolvierte.
Bevor der Kurs zu Ende war,
wurde sie praktisch von einem Grundschulleiter gekidnappt. Lange, bevor sie ihre
Lehrprüfung abgeschlossen hatte, war sie eine Legende. Eltern mit Verbindungen
ließen ihre Beziehungen spielen, um ihre Kinder in ihre Klasse zu bekommen. Es
gab einen Witz, dass Mütter ihre Schwangerschaft so planten, dass das Kind dann
sechs Jahre alt sein würde, wenn Rachel wieder in der ersten Klasse
unterrichtete. (Sie war nur einverstanden, die erste und zweite Klasse zu
unterrichten – als letzte Chance, den Charakter eines Kindes zu formen.)
Ihre Schüler schlossen
Kinder von berühmten Künstlern und Literaten ein. Vor kurzem rief uns ein Mann
mittleren Alters auf der Straße zu: „Lehrerin Rachel, ich war ihr Schüler in der
ersten Klasse, ich verdanke Ihnen alles!“
Wie machte sie das? Indem
sie die Kinder wie Menschen behandelte und bei ihnen die Selbstachtung
entwickelte. Wenn ein Junge nicht lesen konnte, gab sie ihm den Auftrag, für
Ordnung im Klassenzimmer zu sorgen. Wenn ein Mädchen von hübscheren
Klassenkameradinnen zurückgewiesen wurde, war sie in einem Spiel die gute Fee.
Sie war glücklich, wenn sie sah, dass die Kinder wie Blumen in der Sonne
aufblühten. Sie verbrachte Stunden damit, rückständigen Eltern zu erklären, was
ihre Kinder benötigten.
Während der Schulferien
sehnten sich ihre Kinder in die Schule zurück.
ES WAR ihr Ziel, ihren
Schülern menschliche Werte einzuflößen.
Da gab es die Geschichte
von Abraham und dem Begräbnisplatz für Sarah. Ephron, der Hittiter weigerte
sich, Geld anzunehmen. Abraham aber bestand darauf zu bezahlen. Nach einem
langen und wunderbaren Wortwechsel bringt Ephron dies zu Ende und sagt: „Dieses
Land ist 400 Silberschekel wert. Was ist das aber zwischen mir und dir?“
(Genesis 23) Rachel erzählte den Kindern, dass dies heute noch so bei den
Beduinen sei, wenn sie Geschäfte abschließen; es führt zu einem Handel auf
zivilisierte Weise.
Nach dem Unterricht fragte
Rachel die Lehrerin der Parallelklasse, wie sie diese Episode ihren Schülern
erklärte. „Ich sagte ihnen, dass dies eine typisch arabische Heuchelei sei. Sie
werden alle als Lügner geboren. Wenn er Geld wollte, warum sagte er es dann
nicht gleich?“
Ich möchte denken, dass
alle Kinder in Rachels Klassen – oder fast alle –
bessere Menschen geworden
sind.
Ich verfolgte ihre
pädagogischen Experimente, und sie meine journalistischen und politischen
Abenteuer. Grundsätzlich versuchten wir dasselbe: sie erzog Individuen, ich die
Allgemeinheit.
NACH 28 JAHREN hatte Rachel
das Gefühl, dass sie nicht mehr so wirken konnte, wie sie wollte. Sie glaubte,
ein Lehrer solle nicht weitermachen, wenn sein Eifer nachgelassen habe.
Der letzte Anstoß kam, als
ich 1982 die Frontlinie im belagerten Beirut überquert hatte und mich mit Yasser
Arafat traf. Es war eine Weltsensation. Mit mir waren zwei junge Frauen meines
Redaktionsstabes, eine Korrespondentin und eine Fotografin. Rachel fühlte sich
bei einem der aufregendsten Ereignisse meines Lebens ausgeschlossen und
entschied sich, die Richtung zu ändern.
Ohne es mir zu sagen, nahm
sie an einem Fotokurs teil. Wochen später legte man mir Fotos für eine Reportage
vor. Ich wählte die besten aus – und es stellte sich heraus, dass das die
Ihrigen waren. Das Geheimnis war gelüftet. Sie wurde eine begeisterte Fotografin
mit einem bemerkenswerten kreativen Talent - immer auf die Menschen
konzentriert.
ALS ANFANG 1993 Yitzhak
Rabin 215 islamische Aktivisten über die Libanongrenze deportierte, wurden
gegenüber seinem Büro Protestzelte aufgestellt. Wir zelteten dort 45 Wintertage
und -nächte. Rachel, die einzige Frau, war die ganze Zeit dabei. Es entstand
eine wunderbare Freundschaft zwischen ihr und dem extremsten islamischen Sheikh
Raed Salah. Er hatte große Achtung vor ihr. Sie scherzten miteinander.
In diesen Zelten gründeten
wir Gush Shalom. Für sie war die Ungerechtigkeit, die man den Palästinensern
antat, unerträglich.
Sie war die Fotografin all
unserer Veranstaltungen. Sie machte Bilder von Hunderten unserer
Demonstrationen, lief rund herum, machte Schnappschüsse von vorne und hinten,
manchmal in Wolken von Tränengas – obwohl ihr Arzt sie davor warnte. Zweimal
brach sie in der brennenden Sonne zusammen, während wir schwieriges Terrain
überquerten, um gegen die Mauer zu protestieren.
Als Gush Shalom einen
Finanzmanager benötigte, meldete sie sich freiwillig. Obwohl es ganz gegen ihre
Natur war, wurde sie eine peinlich genaue Verwalterin mit
preußischem Pflichtbewusstsein und arbeitete am Küchentisch bis spät in
die Nacht. Sie bevorzugte aber ihre inoffizielle Funktion – den menschlichen
Kontakt mit den Aktivisten zu halten, ihren Problemen zuzuhören. Sie war die
Seele der Bewegung.
SIE KONNTE auch sehr
aggressiv sein. Sie war weit davon
entfernt, ein blauäugiger Weltverbesserer zu sein, so verabscheute sie Lügner,
Heuchler und Leute, die Übles taten.
Sie mochte Ariel Sharon
nicht, auch nicht während der Jahre, als wir einander besuchten und über den
1973er Krieg sprachen.
Lili Sharon liebte sie und
Arik auch. Es gibt ein Foto von ihm, wo er sie mit seiner Lieblingsspeise
fütterte ( Essen war für sie unwichtig) Rachel ließ mich nie jemanden dies Foto
zeigen. Nach dem Libanonkrieg brachen wir die Verbindung ab.
Einmal bemerkte mich Dov
Weissglas, Sharons Vertrauter, in einem Restaurant, kam zu mir, um mir die Hand
zu reichen. Rachel mochte ihn gar nicht, wegen seiner gehässigen Bemerkungen
über die Palästinenser. Rachel ließ seine Hand in der Luft. Peinlich.
Wenn sie Menschen liebte,
zeigte sie es. Sie mochte Yassir Arafat,und er liebte sie. Wir besuchten ihn
mehrmals in Tunis und später in Palästina. Und er behandelte sie mit äußerster
Höflichkeit, erlaubte ihr, ihn nach Belieben zu fotografieren, überschüttete sie
mit Geschenken. Einmal schenkte er ihr eine Halskette und bestand darauf, sie
ihr selbst umzulegen. Doch mit seinen schlechten Augen fummelte er lange Zeit
herum. Es war ein wunderbarer Anblick. Aber sein offizieller Fotograf reagierte
nicht. Rachel war wütend.
Als wir als menschliches
Schutzschild für den in seinem Ramallahsitz belagerten Arafat dienten, küsste er
sie auf die Stirn und führte sie an der Hand zum Ausgang.
NUR WENIGE Leute wussten,
dass sie eine unheilbare Krankheit – Hepatits C – hatte. Diese lag wie ein
schlafender Leopard an ihrer Türschwelle. Sie wusste, dass er jede Minute
aufwachen und sie verschlingen konnte.
Die ungeklärte Infektion
wurde vor mehr als 20 Jahren entdeckt. Jeder Arzttermin hätte ein Todesurteil
sein können. Vor fünf Monaten brach sie zusammen. Es gab vorher viele Anzeichen,
die ich ignorierte, die sie aber klar sah.
Während dieser fünf Monate
verbrachte ich jede Minute mit ihr. Jeder einzelne Tag war ein Geschenk für
mich, obwohl sie immer tiefer sank. Wir wussten es beide, gaben aber vor, es sei
alles in Ordnung.
Sie hatte keine Schmerzen,
aber immer größere Schwierigkeiten zu essen, sich zu erinnern und gegen das Ende
auch zu sprechen. Es war herzzerreißend, zu sehen, wie sie um Worte kämpfte.
Zwei Tage lang lag sie im Koma und dann schlief sie, ohne das Bewusstsein wieder
zu erlangen, ohne Schmerzen ein.
Sie bestand darauf, dass
nichts getan wird, um ihr Leben künstlich zu verlängern. Es war ein
schrecklicher Augenblick, als ich die Ärzte bat, mit allen Bemühungen aufzuhören
und sie sterben zu lassen.
Auf ihren Wunsch hin wurde
ihr Körper – gegen die jüdische Tradition - eingeäschert. Ihre Asche wurde an
Tel Avivs Küste im Meer verstreut –
gegenüber dem Fenster, wo sie so oft zum Meer hinausgeschaut hatte. So die Worte
von William Wordsworth, den sie liebte und oft zitierte:
„But
she is in her grave, and oh
the
difference to me.”
EINMAL, in einem Moment der
Schwäche, der von einem Filmemacher ausgenützt wurde, beklagte sie sich, dass
ich nie gesagt hätte, „Ich liebe dich“. Das stimmt. Ich finde diese drei Wörter
unverbesserlich banal, vom Hollywood-Kitsch entwertet. Sicher entsprechen sie
nicht meinen Gefühlen ihr gegenüber – sie war ein Teil von mir geworden.
Als sie das Bewusstsein
verlor, flüsterte ich: „Ich liebe dich“. Ich weiß nicht, ob sie es noch hörte.
Nachdem sie gestorben war,
saß ich noch eine Stunde lang und betrachtete ihr Gesicht. Sie war wunderschön.
Ein deutscher Freund sandte
mir ein deutsches Sprichwort, das ich merkwürdig tröstlich finde:
„Seid nicht traurig, dass sie von uns ging,
freut euch, dass wir so lange mit ihr zusammenleben durften.“
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs., vom Verfasser autorisiert)