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Der Ruf des Muezzin
Uri Avnery
26. November 2016
DER
ERSTE Muezzin stand während seines Exils in Mekka
auf dem Dach des Hauses des Propheten
Mohammad in Medina, und rief die
Anhänger/ Gläubigen zum Gebet. Er ging auch durch die Straßen und tat dasselbe.
Als der
Islam eine etablierte
Religion wurde, wurden Minaretts gebaut. Ihr ursprünglicher Zweck war,
die Moschee zu lüften: die heiße
Luft hinaus- und die kühlere
hineinzulassen. Der Muezzin kletterte auf das Dach und rief und erhob seine
Stimme zum „Azzam“!, dem Gebetsruf. Oft wurde ein Blinder
gewählt, so konnte er nicht in die Häuser unter ihm hineinschauen.
Das Wort
ist eng verbunden mit dem biblischen und modernen hebräischen Wort „hazzinu“
(„hört“).
Seit
kurzer Zeit machen Lautsprecher
diesen Job des Muezzin viel
leichter. Heutzutage kann er unten sitzen und ein Mikrophon benützen. Wenn ein
Tonband benützt wird, wird auch der
Muezzin überflüssig.
Immerhin
muss die Stimme des Muezzin
fünfmal am Tag kommen und die Gläubigen zum Gebet rufen, das eines der fünf
heiligsten Gebote des Islam ist.
Der
erste Ruf wird vor dem Morgengrauen gesandt.
Und da liegt der Hase im Pfeffer, wie Hamlet gesagt haben würde, falls
es in jener Zeit in Dänemark Minaretts gegeben hätte.
SEITDEM PALÄSTINA
von der Armee des Kalifen Omar im Jahr
636 a.D. erobert wurde, ist die Stimme des Muezzin fünfmal am Tag in den
meisten Städten und Dörfern gehört worden. (Einige arabische Dörfer blieben
christlich – dort klangen die
Glocken).
Nun,
nicht mehr, falls Yair Netanjahu seinen Willen durchgesetzt hat.
Yair
(25) ist der Kronprinz in Israels königlicher Familie. Er ist der Liebling
seiner durchsetzungsfähigen Mutter und geht mit vier Leibwächtern spazieren, die
vom Steuerzahler (z.B. mir) bezahlt werden. Er scheint eine nette, wenn auch
eine uninteressierte Person zu sein. Er liebt Nachtclubs und Luxus. Er schläft
auch gerne.
Aber wie
kann man in Jerusalem schlafen, wenn in der Nähe ein Muezzin einen um 4 Uhr
morgens aufweckt?
Das ist
nicht nur Yairs Problem. Viele Juden in Israel leben in der Nähe von Moscheen,
besonders in gemischten Städten wie Jerusalem, Haifa und Jaffa. Der Muezzin
weckt sie in der Mitte ihrer süßesten Träume auf, gerade dann, wenn das
schöne Mädchen dabei ist, nachzugeben (oder umgekehrt die Frau) Sie machen einen
wütend, aber sie wissen, dass sie nichts dagegen tun können)
Aber
Yair kann.
Er hat
seinen Vater veranlasst, eine Gesetzesvorlage vorzuschlagen, die die Anwendung
des Lautsprechers in allen
Gebetshäusern verbieten. Als die mächtige jüdisch-orthodoxe Fraktion
protestierte, da dies auch den Ruf zum Sabbath verbieten würde. Die
Gesetzesvorlage wurde verändert und erwähnt jetzt speziell die Moscheen. Dies
könnte vom Obersten Gerichtshof wegen Diskriminierung
gestrichen werden. Inzwischen
wird Yair aus seinem kostbaren Schlaf geweckt.
(Tatsächlich gibt es
in Israel schon ein Gesetz, das Geräusche vor 7 Uhr verbietet, doch wurde
es nicht anerkannt.)
ALL DIES KLINGT
lustig, ist es aber nicht. Es mag eine Farce sein, ist es aber nicht, doch
symbolisiert sie eine von Israels ernsthaftesten Problemen. Nur 75% der Israelis
sind Juden. 21% von ihnen sind Araber, meistens Muslime, einige sind Christen.
Der Rest sind jüdische (israelische)
Nichtjuden – z.B. Leute,
deren Vater jüdisch war, die Mutter aber nicht.
Welchen
Status hat diese große arabische Minderheit in einem Staat, der sich offiziell
und legal selbst als „jüdisch und demokratisch“ bezeichnet?
Die
Araber sind israelische Bürger mit
allen Rechten, die einem Bürger zustehen. Aber sind sie wirklich Israelis? Kann
ein Araber wirklich in einem „jüdischen“ Staat ein vollwertiger Bürger sein?
Schlimmer , Israel ist eine kleine, doch mächtige Insel im muslimischen Meer.
Israel hat mit zwei arabischen Staaten Friedensabkommen – mit Ägypten und
Jordanien – aber es ist von den
arabischen Massen nie wirklich anerkannt worden. Mehrere arabische Staaten sind
seit 1948 rechtlich noch immer mit Israel im Kriegszustand.
Noch
schlimmer, Israel beherrscht und unterdrückt ein ganzes arabisches Volk, die
Palästinenser, ein Volk, das aller Rechte beraubt wurde,
der nationalen als auch der
Menschenrechte. Die Araber innerhalb Israels betrachten sich selbst als ein Teil
dieses palästinensischen Volkes.
Seit kurzem nennen sie sich
„palästinensische Bürger Israels“.
Viele
Länder haben eine nationale Minderheit und jedes setzt sich mit diesem Problem
auf seine Weise auseinander. Allein die Situation der arabischen
- pardon palästinensischen – Minderheit ist einmalig.
Während
der ersten Jahre Israels hatte man gehofft, dass die „israelischen Araber“ (ein
Ausdruck, den sie verachten) als Brücke zwischen der israelischen und der
arabischen Welt dienen würde. Einer meiner arabischen Freunde lehnte dies
höflich ab. Er sagte, „Eine Brücke ist etwas, auf dem die Leute herum trampeln.“
So lange
wie David Ben Gurion an der Macht war, wurden die arabischen Bürger einer
„Militärregierung“ unterworfen, ohne deren Genehmigung sie ihre Stadt oder ihr
Dorf nicht verlassen oder etwas anderes tun durften. Dies wurde durchgeführt, um
sie als Spitzel ihrer arabischen Landsleute zu benützen.
Nach
einer langen Schlacht von vielen von
uns, hob das Regime dies 1966 auf. Doch das Grundproblem der arabischen
Minderheit war damit nicht gelöst.
IN
EINEM Land
mit einer großen nationalen Minderheit, steht die Mehrheit einer Wahl gegenüber:
entweder allen Bürgern in jeder Hinsicht, gleiche Rechte übertragen oder einer
Minderheit einen speziellen nationalen Status mit einigen Maßnahmen von
Autonomie gewähren.
Israel
tat, was es immer tut, wenn es vor solch einer Wahl stand: es wählte nicht. Die
Frage blieb offen.
Kann es
in einem Staat, der sich selbst als „jüdisch und
demokratisch“ bezeichnet wirklich gleiche Rechte geben? Natürlich nicht.
Das bedeutendste Gesetz, das „Gesetz der Rückkehr“ gewährt jedem einzelnen Juden
in der Welt automatisch das Recht, in Israel einzuwandern. Im Gegensatz zum
gegebenen Eindruck steht dies Gesetz nicht allein – es ist verbunden mit
mehreren anderen Gesetzen. Ein jüdischer Immigrant wird
automatisch ein Bürger (wenn er dies nicht ausdrücklich ablehnt) Mehrere
materielle Rechte, gewöhnlich nicht bekannt, sind auch mit diesem verbunden.
Die
Araber haben natürlich keines dieser Rechte. Der riesige bewegliche und
unbewegliche Besitz, der von den
750 000 arabischen Flüchtlingen
zurückgelassen, wurde, während sie im Krieg von 1948 flohen oder vertrieben
wurden, wurde ohne Kompensation,
enteignet.
FALLS ES
keine reale Gleichheit gibt, wie steht es mit den anderen
Alternativen? Ihnen den
offiziellen Status einer Art Autonomie geben? Nicht-Juden, die die Bürgerschaft
annehmen wollen, müssen eine lange Prozedur durchstehen.
Es ist
ironisch, dass der offizielle Ahne des Likud
Vladimir (Zeev) Jabotinsky, ein brillanter Zionist vom rechten Flügel
ist, der in seiner Jugend der Autor des „Helsingfors-Papier“
war, das einen detaillierten
Status für alle Minderheiten im zaristischen Russland vorschlug. Dieser Plan
bildete auch die Grundlage für Jabotinskys Thesen seiner Doktorarbeit: er
schlug die Autonomie für jede nationale Minderheit vor, selbst dann, wenn
sie kein Land hatte (wie die Juden).
Dies
könnte ein ausgezeichneter Plan für die palästinensische Minderheit in Israel
sein, aber der Likud würde natürlich nicht einmal davon träumen, dies zu
akzeptieren. Wie die Antisemiten im zaristischen Russland, betrachten die
heutigen Israelis des rechten Flügels die nationale Minderheit als ein Potential
oder eigentlich als fünfte Kolonne, so dass jede Art von Autonomie für sie eine
Gefahr für den Staat darstellt.
Bibelanhänger mögen einige Belustigung in den Worten des
Pharao (Exodus1) über die Kinder Israels finden: „Als dort ein Krieg
ausbrach, mischten sie sich auch unter unsre Feinde und kämpften gegen sie.“ Auf
Grund einer seltsamen Wendung sind wir jetzt Pharaoh und die
Araber sind die neuen Kinder Israels.
IN WELCHER
Situation befinden sich jetzt also die arabischen Bürger Israels?
Es ist
weder eine Situation von wirklicher Gleichheit – wie israelische Propagandisten
behaupten - noch ist es eine
schreckliche Situation des Leidens
und der Unterdrückung, wie sie von Israelhassern gemalt wird. Die tatsächliche
Situation ist bei weitem komplizierter.
In
dieser Woche war ich auf dem Supermarkt in Tel Aviv. Ich legte einige Artikel in
meinen Korb und ging zum Bezahlen an die Kasse.. Ich wurde von einer gut
aussehenden jungen Kassiererin
bedient, die perfektes Hebräisch sprach und die außerordentlich höflich war. Als
ich wegging, war ich etwas überrascht,
zu hören, dass sie Araberin war.
Vor
einiger Zeit war ich im Krankenhaus (Ich vergaß warum)
in Tel Aviv. Der Oberarzt der
Abteilung war arabisch. Auch
viele der Krankenpfleger. Im
Gegensatz zum Image/Bild des wilden, ungestümen Arabers, stimmt man gewöhnlich
darin überein, dass arabische Pfleger und Pflegerinnen viel freundlicher seien
als ihre jüdischen Kollegen.
Ich
respektiere den Richter des Obersten Gerichtes, der auch im Komitee sitzt, das
Richter ernennt. Er ist Araber.
Araber
sind tief in die israelische Wirtschaft eingebunden. Ihr durchschnittliches
Einkommen mag geringer sein als das jüdische, besonders seitdem viel weniger
arabische als jüdische Frauen arbeiten. Aber der israelische
Lebensstandard ist viel höher als in jedem arabischen Land.
Ich
denke, dass arabische Bürger viel mehr „israelisiert“ sind, als die meisten von
ihnen realisieren. Nur wenn sie z.B. Jordanien besuchen, fühlen sie, dass sie
anders (überlegen) sind.
Während
sie sich keiner Autonomie erfreuen, gibt es tatsächlich ein
„Überwachungs-Komitee“, das alle arabischen Gemeinden und Gesellschaften vereint
und es gibt eine Arabische Fraktion, (die drittgrößte Fraktion in der Knesset).
Das ist
die eine Seite des
Ledger??. Die andere Seite ist das ganze Gegenteil: arabische Bürger
spüren jeden Tag, dass sie anders sind als Juden,
dass man auf sie herabschaut und sie diskriminiert. Nicht einmal die jüdische
Linke träumt davon, mit der arabischen Fraktion eine Regierungskoalition zu
bilden.
Es gibt
eine verborgene Debatte innerhalb der arabischen Gesellschaft in Israel. Viele
Araber glauben, dass ihre Fraktion sich mehr mit ihrer Situation in Israel
befassen sollte, während sich die Fraktion selbst viel mehr mit der Situation
ihrer Brüder und Schwestern in den besetzten palästinensischen Gebieten
befasst.
Es gibt
ein wohl bekanntes jiddisches Sprichwort: „ es ist nicht leicht, ein Jude zu
sein. Im jüdischen Staat, „Es ist
nicht leicht, ein Araber zu sein.“
ALL
DIESE
Dilemmas sind irgendwie symbolisch durch
das vorgeschlagene Gesetz über den muslimischen Gebetsruf.
Natürlich könnte das Problem durch eine gemeinsame Diskussion und
gegenseitiges Verständnis gelöst werden.
In allen arabischen Städten und Dörfern wollen die Leute den Gebetsruf hören,
selbst wenn viele nicht aufstehen, um zur Moschee zu gehen. In den
benachbarten Orten mit einer nicht-muslimischen Bevölkerung
könnten die Lautsprecher durch Übereinkunft abgestellt oder ihre
Lautstärke gedrosselt werden.
Aber vor dem Einreichen der Gesetzesvorlage gab es überhaupt keine
Konsultationen.
Wenn
also Yair um 4 Uhr am Morgen geweckt wird, könnte er vielleicht die nächste
Stunde darüber nachdenken, wie man ein Verständnis zwischen Juden und ihren
arabischen Nachbarn herstellen könnte.