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Schottland am Euphrat

 

Uri Avnery, 20.9. 14

ZWEI LÄNDER  wetteiferten in dieser Woche um den ersten Platz in den Nachrichten der Welt: Schottland und der islamische Staat   im Irak und in Syrien.

Es könnte keinen größeren Unterschied  als zwischen diesen beiden Ländern geben. Schottland ist feucht und warm. Der Irak ist trocken und heiß. Schottland wird nach seinem Whisky genannt (oder umgekehrt), während für die ISIS-Kämpfer, Alkohol zu trinken, ein Kennzeichen der Ungläubigen ist, die (buchstäblich) ihren Kopf verlieren sollen.

Doch gibt es einen  gemeinsamen Nenner  beider Krisen:  sie markieren das nahende Ableben des Nationalstaates.

 

MODERNER NATIONALISMUS wurde wie jede große Idee in der Geschichte aus einer neuen Art von Umständen geboren: wirtschaftlich, militärisch, geistig u.a., die ältere Formen  überholen ließen.

Ende des 17.Jahrhunderts konnten bestehende Staaten nicht länger  mit Forderungen zurechtkommen. Kleine Staaten waren zum Scheitern verurteilt. Die Wirtschaft verlangte einen sicheren inländischen Markt, der groß genug für die Entwicklung moderner Industrien ist. Neue Massenarmeen benötigten eine Basis, die stark genug war, um Soldaten zu versorgen und  moderne Waffen  zu bezahlen. Neue Ideologien  schufen neue Identitäten.

Die Bretagne und Korsika könnten nicht  unabhängig existieren. Sie müssten viel von ihrer getrennten Identität aufgeben müssen und sich dem großen und mächtigen französischen Staat anschließen, um zu überleben. Das Vereinigte Königreich, die Vereinigung der britischen Inseln unter einem schottischen König wurde zu einer Weltmacht. Andere folgten. Jeder nach seinem eigenen Tempo. Zionismus war ein später Versuch, dies nachzuahmen.

Der Prozess erreichte  Ende des 1.Weltkrieges seinen Höhepunkt, als Reiche wie das Ottomanische Kalifat und Österreich-Ungarn aus einander brachen. Kemal Atatürk, der das islamische Kalifat in einen türkischen Nationalstaat umwandelte, war vielleicht der letzte große Ideologe der nationalen Idee.

Aber zu dieser Zeit war diese Idee schon alt geworden. Die Realitäten, die sie geschaffen hat, änderten sich schnell. Wenn ich mich nicht irre, war es Gustave Le Bon, der französische Psychologe, der behauptete, dass vor hundert Jahren jede neue Idee, die von den Massen angenommen werde,  zu dieser  Zeit schon wieder überholt sei. Der Prozess verläuft folgendermaßen: Jemand hat eine neue Idee. Es braucht eine Generation, bis sie  von den Intellektuellen angenommen wird. Es ist eine weitere Generation nötig, damit die Intellektuellen die Massen lehren. Mit der Zeit bekommt sie Macht, doch die Umstände haben sich  schon wieder verändert, und eine neue Idee ist erforderlich.

Die Realitäten ändern sich viel schneller als der menschliche  Geist.

Nehmen wir den europäischen Nationalstaat. Als er seinen Endsieg nach dem  1.Weltkrieg erreichte, hatte sich die Welt schon wieder verändert. Die europäischen Armeen, die einander mit  Maschinengewehren niedermähten, standen jetzt Panzern und Kampfflugzeugen gegenüber. Die Wirtschaft verbreitete sich weltweit .Die Luftfahrt verkürzte  große Entfernungen. Die moderne Kommunikation machte aus der Welt ein „Weltdorf“.

 

1926 lud ein österreichischer Edelmann, Richard Coudenhove-Kalergy zu einem pan-europäischen Kongress ein. Während Adolf Hitler, ein hoffnungslos altmodischer Denker, versuchte, dem Kontinent den deutschen Nationalstaat aufzuzwingen, propagierte eine kleine Gruppe von Idealisten die Idee einer europäischen Union, die sich nach einem weiteren  fürchterlichen (2.) Weltkrieg verbreitete.

Diese Idee, jetzt noch in ihren Anfängen, wird allgemein akzeptiert, aber sie ist schon überholt. Die multinationale Wirtschaft, die sozialen Medien, der Kampf gegen tödliche Epidemien, die Bürgerkriege und Genozide, die Umweltgefahren bedrohen den ganzen Planeten – all dies macht eine Weltregierung dringend nötig – doch dies ist eine Idee, deren Verwirklichung noch sehr, sehr weit entfernt ist.

 

DIE ÜBERALTERUNG des Nationalstaates hat ein paradoxes Nebenprodukt geschaffen: den Aufbruch des Staates in immer kleinere Einheiten.

Während die Welt zu immer größeren politischen und wirtschaftlichen Einheiten tendiert, um Stärke zu gewinnen, fallen Nationalstaaten auseinander. In der ganzen Welt verlangen kleine Völker Unabhängigkeit.

Dies ist nicht so lächerlich, wie es aussieht. Der Nationalstaat entstand, weil die Realitäten Gesellschaften von wenigstens einer gewissen Größe und Stärke brauchten. Aber  jetzt  bewegen sich alle bedeutenden Funktionen der Staaten zu viel größeren Vereinigungen. Warum braucht Korsika da noch Frankreich? Warum die Basken Spanien? Warum  benötigt Quebec Kanada? Warum nicht in einem kleineren Staat leben mit Menschen wie du, der die gleiche natürliche Sprache spricht?

Die Tschechoslowakei ist friedlich auseinander gebrochen.  So auch Jugoslawien- allerdings nicht so friedlich. So geschah es mit Zypern, Serbien, dem Sudan – und natürlich der Sowjetunion.

(Nebenbei bemerkt, betrifft dies auch die Idee der sogenannten Ein-Staaten-Lösung für unser kleines (? Ü) Problem in Israel/Palästina. Während der letzten drei Generationen hat die Welt nicht ein einziges Beispiel von zwei verschiedenen Völkern gesehen, die freiwillig zusammen in einem Staat leben wollen.)

Das schottische Referendum ist  eines der Eröffnungsszenen dieser neuen Epoche. Die Befürworter der Unabhängigkeit versprachen, dass Schottland sich der europäischen Union und der NATO anschließen könnte und vielleicht auch den Euro adoptieren würde. Warum sollte Schottland in der britischen Zwangsjacke bleiben?  Schließlich beherrscht Britannien die Meere nicht mehr? 

Die knappe Niederlage der schottischen Patrioten ändert nicht die Richtung der Entwicklung. Sie hält sie nur etwas auf.

 

NATIONALISMUS WAR eine europäische Idee.

Diese Idee streckte ihre Wurzeln nie  tief in die trocknen Felder der arabischen Welt. Selbst in den Hochzeiten des arabischen Nationalismus‘ war nie ganz klar, ob z.B. ein Damaszener sich selbst zuerst als Syrer oder als Muslim betrachtete, ob ein Beiruter sich zuerst als maronitischer Christ oder als Libanese ansah oder ob ein Kairoer sich zuerst als Ägypter, Araber oder als  Muslim fühlte.

Während des algerischen Unabhängigkeitskampfes beklagte sich einmal mir gegenüber ein zorniger Franzose vom politisch rechten Flügel: „ Bevor wir Nordafrika eroberten, war Algerien nie vereinigt! Wir schufen die algerische Nation!“ Er hatte ganz Recht, nur zog er die falschen Schlüsse. Genau dasselbe hörte ich viele Male von engagierten Zionisten über die palästinensische Nation.

Die modernen arabischen Nationen wurden von europäischen Kolonialherren erfunden. In letzter Zeit ist es Mode geworden, Mark Sykes und Georges Picot zu erwähnen, zwei mittelmäßige Bürokraten, der eine ein Engländer, der andere ein Franzose, die ein geheimes Abkommen zur Teilung des Ottomanischen Reiches beschlossen. Sie und ihre Nachfolger schufen die Staaten Syrien, den Irak, (Trans)Jordanien, Palästina etc.

Diese „Nationalstaaten“ waren  ausgesprochen künstlich. Die europäischen Planer hatten  gewöhnlich sehr wenige  Kenntnisse  der lokalen Umstände, Traditionen, Identitäten und der Kultur. Sie kümmerten sich auch nicht sehr darum. Der Irak mit seinen verschiedenen Komponenten wurde geschaffen,  britischen Interessen  zu dienen. Die seltsame östliche Grenze  des Jordan wurde für eine britische  Ölleitung von Mossul nach Haifa  gezogen. Der Libanon, als Heimat für die Christen gedacht, wurde angeschlossen und sollte auch  muslimisch sunnitische und schiitische Gebiete einschließen,  nur um es größer zu machen. Al-Sham (Syrien) wurde   Jordanien weg genommen, Palästina und der Libanon wurden zu Syrien.(Später verlor es auch Alexandria/Askenderun an die Türkei).

 

ALL DIESE imperialistischen Manipulationen widersprachen der muslimischen Geschichte und Tradition.

Jedes muslimische Kind lernt in der Schule von den großen muslimischen Reichen, die sich vom Norden Spaniens bis an die Grenze von Burma erstreckten, von den Toren Wiens bis  zum Süden von Jemen; es sollte dann einen Blick auf die Landkarte werfen, um dort die Mini-Länder wie Jordanien und den Libanon entdecken. Das ist demütigend.

Zuerst gab es Bemühungen, die Araber unter den Schirm des Nationalismus‘ zu vereinigen. Die Ba’ath-Partei  kämpfte (wenigstens theoretisch), um einen einzigen pan-arabischen Staat zu schaffen , und der Glaube wurde von dem Helden der Massen, dem ägyptischen Gamal Abd-al-Nasser, einem säkularen Militärdiktator, aufgenommen. Ein pan-arabischer Staat  hätte auch etwas mehr Gleichheit zwischen den reichen Ölstaaten wie Saudi-Arabien und den armen Ländern wie Ägypten  schaffen können. Nasserismus schuf eine neue Ideologie. Pan-arabischer Nationalismus wurde „Kaumi“, lokaler Patriotismus wurde „Wotani“ genannt. Die Gemeinschaft aller Muslime war die „Umma“.

 (Dasselbe Wort „umma“ bedeutet im Hebräischen das Gegenteil: einer modernen Nation. Die Israelis  sind so verwirrt wie ihre Nachbarn. Wir müssen unsere Priorität wählen. Sind wir in erster Linie Juden, Hebräer oder Israelis? Was genau bedeutet „der Nationalstaat des jüdischen Volkes“, wie er von Benjamin Netanjahu propagiert wird?)

DIE RIESIGE Attraktion der  Bewegung, die sich jetzt „Islamischer Staat“ nennt,  ist es das, dass sie eine einfache Idee vorschlägt: weg mit all diesen verrückten Grenzen, die von westlichen Imperialisten für ihre eigenen Zwecke  gezogen wurden, und schaffen wir den klassischen  pan-muslimischen Staat: das Kalifat.

Dies scheint wie das Gegenteil des Aufbruchs der europäischen Staaten – aber es bedeutet dasselbe:  die totale Zurückweisung des Nationalstaates.

Als solches gehört er zur Vergangenheit und zur Zukunft.

Er  glorifiziert die Vergangenheit. Muhammed und seine  direkten Nachfolger („Kalif“ bedeutet Nachfolger)  sind als makellose Personen idealisiert worden, die Verkörperung aller Tugenden, die Besitzer göttlicher Weisheit.

Dies ist sehr weit von der historischen Wahrheit entfernt. Alle drei unmittelbaren Nachfolger des Propheten wurden ermordet. Wegen des Streites über die Nachfolge teilte sich der Islam in Sunniten und Schiiten und  blieb so bis zum heutigen Tag (und jetzt mehr denn je). Aber Mythen sind stärker als die Wahrheit.

Doch während sich diese an die Vergangenheit klammert, ist die Islamische Staatsbewegung (vorher ISIS, der islamische Staat des Irak und al-Sham) sehr modern. Mit einem Schlag reinigt sie den Tisch vom Nationalstaat und seinen Abkömmlingen. Sie hat eine klare und einfache Idee, die von Muslimen überall leicht verstanden wird.  Sie scheint weithin überzeugend zu sein.

DIE WESTLICHE Antwort ist  komischerweise  unangemessen.

Leute wie Barack Obama und John Kerry und ihre  entsprechenden Gegenstücke in ganz Europa sind fast unfähig, zu verstehen, worum es hier geht. Mit der traditionellen europäischen Verachtung für die „Eingeborenen“ sehen sie außer den köpfenden Terroristen nichts anderes. Sie scheinen wirklich zu glauben, eine revolutionäre neue Idee löschen zu können, indem sie mit arabischen Diktatoren und korrupten Politikern eine Koalition bilden, Rebellen bombardieren  und den Job beenden, indem sie lokale Kapitalisten beschäftigen.

Das ist ein lächerliches Missverständnis der neuen Realität. Bis jetzt hat  IS mit nur einer Handvoll fanatischer und grausamer Militanten riesige Gebiete erobert.

WAS IST die Antwort?

Offen gesagt: ich weiß es nicht. Aber der erste Schritt für den Westen als auch für die Israelis wäre, ihre Arroganz abzuwerfen und zu versuchen, das neue Phänomen, dem sie sich gegenüber sehen, zu verstehen.

Wir stehen nicht „Terroristen“ gegenüber – das magische Wort, das alle Probleme zu lösen scheint, ohne das Gehirn zu strapazieren. Sie stehen einem neuen Phänomen gegenüber.

Die Geschichte befindet sich im Prozess    

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs. vom Verfasser  autorisiert)