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Schrei, geliebtes Land!
Uri
Avnery, 23. Dezember 2017
JEDER DER
die Todesstrafe vorschlägt ist entweder ein völliger Dummkopf oder ein
unverbesserlicher Zyniker oder geistig gestört
- oder alles zusammen.
Es gibt
keine effektive Therapie für einen dieser defekten. Ich würde es nicht einmal
versuchen.
Ein
Idiot würde nicht einmal den unermesslichen Beweis der Schlussfolgerung
verstehen. Für einen Zyniker, dem Befürworter der Todesstrafe ist es ein
bewährter Stimmen-Fänger. Eine geistig gestörte Person wird allein am Gedanken
einer Exekution Vergnügen daran
haben. Es ist noch nicht so lange her, als Hinrichtungen eine allgemeine Form
der öffentlichen Unterhaltung waren.
Ich
wende mich an keinen von ihnen,
sondern an gewöhnliche vernünftige Bürger von Israel.
LASSEN SIE
mich anfangen, die Geschichte meiner eigenen persönlichen Erfahrung zu
wiederholen.
1936
begann die arabische Bevölkerung Palästinas
einen gewalttätigen Aufstand. Die Nazi-Verfolgung der Juden in
Deutschland trieb viele Juden nach Palästina (einschließlich meiner eigenen
Familie) und die lokalen Araber sahen, wie ihr eigenes Land ihnen unter ihren
Füßen weggezogen wurde. Sie begannen gewalttätig zu reagieren. Sie nannten dies
den Großen Aufstand, die Briten sprachen über „Unruhen“ und wir nannten
sie „die Vorfälle“.
Gruppen
junger Araber griffen jüdische und britische Fahrzeuge auf den Landstraßen an.
Wenn gefangen genommen, wurden
einige von ihnen von britischen
Gerichten an Galgen aufgehängt. Als die arabischen Angriffe nicht aufhörten,
begannen einige Zionisten vom rechten Flügel eine Kampagne
der „Vergeltung“ und schossen auf arabische Fahrzeuge.
Einer
von diesen wurde von den Briten gefangen genommen. Sein Name war Shlomo
Ben-Yosef, ein 25Jähriger illegaler Immigrant aus Polen, ein Mitglied der
rechten Jugend-Organisation Betar. Er warf eine Bombe auf einen arabischen Bus,
die aber nicht explodierte; und gab
einige Schüsse ab, die niemanden verletzten. Die Briten
sahen eine Gelegenheit, um ihre Unparteilichkeit zu beweisen.
Ben-Shlomo wurde zum Tode verurteilt. Die jüdische Bevölkerung war schockiert.
Selbst jene die total gegen eine
Vergeltung waren, plädierten für ein Gnadengesuch, die Rabbiner beteten. Langsam
näherte sich der Tag der Exekution.
Viele erwarteten im letzten Augenblick eine Begnadigung.
Sie kam nicht.
Das
Hängen von Ben-Youssef am 29. Juni 1938 verursachte in der ganzen jüdischen
Bevölkerung eine mächtige
Schockwelle. Es verursachte eine profunde Veränderung in meinem eigenen Leben.
Ich entschied mich, an seine Stelle zu treten. Ich schloss mich der Irgun an,
die extremste bewaffnete Untergrund-Organisation (In Israel). Ich war gerade 15
Jahre alt.
Ich
wiederhole diese Geschichte, weil die Lektion so bedeutsam ist. Ein
unterdrückerisches Regime,
besonders ein ausländisches, denkt immer, dass das Hinrichten von
Terroristen andere abschreckt, sich den Rebellen anzuschließen.
Dieser
Gedanke hängt mit der Arroganz des Herrschers
zusammen, der denkt, dass seine Untertanen geringwertigere menschliche
Wesen sind. Die reale folge ist immer das Gegenteil. Der hingerichtete Rebell
wird ein nationaler Held; für jeden hingerichteten Rebellen schließen sich
Dutzende andere dem Kampf an. Die Hinrichtung brütet Hass aus, der Hass führt zu
mehr Gewalt. Falls auch die Familie
bestraft wird, werden die Flammen
des Hasses sogar höher.
Das ist
einfache Logik. Aber liegt jenseits der Herrscher.
Nur ein
Gedanke: vor etwa 2000 Jahren wurde ein einfacher Zimmermann in Palästina durch
Kreuzigung hingerichtet. Man schaue sich die Folgen an.
IN JEDER
Armee gibt es eine Anzahl von
Sadisten, die sich als Patrioten geben.
Während
meiner Militärzeit schrieb ich einmal, dass in jeder Truppe
es wenigstens einen Sadisten und einen moralischen Soldaten gibt. Die
andern sind weder das eine noch das andere. Sie werden beeinflusst von einem von
ihnen, das hängt davon ab, wer von den beiden den stärkeren Charakter hat.
Letzte
Woche geschah etwas Schreckliches. Seit der Verkündigung des amerikanischen
Chef-Trottel zu Jerusalem
hat es in der Westbank und im Gazastreifen tägliche
Demonstrationen gegeben. Die Palästinenser im Gazastreifen
nähern sich dem Trennungszaun und werfen Steine
auf die Soldaten auf der israelischen Seite. Die Soldaten
werden angewiesen zu schießen. Jeden Tag werden Palästinenser verletzt,
alle paar Tage werden Palästinenser getötet.
Einer
der Demonstranten war Ibrahim
Abu-Thuraya, ein 29Jähriger Querschnitt-Gelähmter arabischer Fischer. Seine
Beine wurden vor neun Jahren amputiert nachdem er bei einem israelischen
Luftangriff auf Gaza verletzt wurde.
Er wurde
durch das unebene
Gelände zum Zaun hin geschoben, als ein Armee-Scharfschütze ihn zum Ziel
nahm und tötete. Er war unbewaffnet, nur
ein „Hetzer“.
Der
Mörder war kein gewöhnlicher Soldat, der ohne zu zielen, ihn im Nahkampf
erschossen haben mag. Er war ein Professioneller, ein Scharfschütze, der sein
Opfer identifizierte und sorgfältig
schoss und genau die Stelle traf.
Ich
versuche darüber nachzudenken, was im Gehirn des Schützen vor sich ging, bevor
er schoss. Das Opfer war nahe. Es
war absolut unmöglich, den Rollstuhl nicht zu sehen. Ibrahim stellte absolut
keine Gefahr für den Schützen oder jemand anders dar.
(Ein
grausamer israelischer Witz entstand unmittelbar: Den Scharfschützen wurde
befohlen, auf die unteren Körperteile der Demonstranten zu schießen.
Doch Ibrahim hatte keine unteren Körperteile mehr, der Soldat hatte
also keine Wahl außer auf den Kopf zu schießen)
Dies war
ein krimineller Akt, ganz einfach.
Ein abscheuliches Kriegsverbrechen.
Was tat die Armee? – ja meine Armee? Wurde er verhaftet?
Überhaupt nicht. Jeden Tag
wird eine neue Entschuldigung
gefunden, eine ist lächerlicher als die andere. Der Name
des Scharfschützen wird geheim gehalten.
Mein
Gott, was geschieht in diesem Land? Was tut die Besatzung uns an?
Ibrahim
ist natürlich über Nacht ein palästinensischer Nationalheld geworden. Sein Tod
wird andere Palästinenser anspornen, sich dem Kampf anzuschließen.
GIBT ES
keine Lichtstrahlen? Doch es gibt sie. Doch nicht viele.
Ein paar
Tage nach dem Mord an Ibrahim
Abu-Thuraya wurde eine fast komische Szene unsterblich.
Im
palästinensischen Dorf Nabi Saleh in der besetzten Westbank standen zwei
voll bewaffnete israelische Soldaten. Der eine
ist ein Offizier, der andere ein Unteroffizier. Eine Gruppe von
drei oder vier arabischen
Mädchen, etwa 15 oder 16 Jahre alt nähern sich ihnen. Sie schreien die Soldaten
an und machen ausfällige
Handbewegungen. Die Soldaten tun
so, als bemerkten sie sie nicht.
Ein
Mädchen Ahd Tamimi nähert sich einem Soldaten und schlägt ihn. Der Soldat, viel
größer als sie, reagiert nicht.
Das
Mädchen kommt noch näher und schlägt den Soldaten ins Gesicht.
Er wehrt sich mit seinen Armen. Ein anderes Mädchen nimmt die Szene mit
ihrem Smartphone auf.
Und dann
geschieht das Unglaubliche: beide Soldaten
gehen nach hinten und verlassen die Szene (Später wird bekannt, dass der
Cousin von einem diese Mädchens vor ein paar Tagen
in den Kopf geschossen wurde.)
Die
Armee war von der Tatsache
geschockt, dass die beiden Soldaten das Mädchen nicht erschossen haben. Man
versprach eine Untersuchung. Das Mädchen und ihre Mutter wurden
in jener Nacht in Gewahrsam genommen. Die Soldaten werden
zurechtgewiesen.
Für mich
sind die beiden Soldaten wirkliche Helden. Leider sind sie die Ausnahmen.
Jeder
Mensch hat das Recht, auf sein Land stolz zu sein. Meiner Meinung nach
ist es nicht nur ein grundsätzliches Menschenrecht sondern auch eine wesentliche
menschliche Notwendigkeit.
Wie kann
man aber auf ein Land stolz sein,
das mit menschlichen Leichen
handelt.
Im Islam
ist es sehr wichtig, dass der Tote so bald wie möglich beerdigt wird. Obwohl das
die israelische Regierung weiß,
hält sie die Leichen von Dutzenden von „Terroristen“
zurück, um sie als
Handel-Chips zu benützen gegen die
Rückgabe von jüdischen Körpern, die
von der andern Seite festgehalten werden.
Logisch?
Sicher. Widerlich? Ja.
Das ist
nicht das Israel, das ich zu gründen half und für das ich kämpfte.
Mein Israel würde die Körper
der Gefallenen den Vätern und Müttern zurückgeben. Selbst wenn das bedeutet,
einige Handel-Chips aufzugeben. Ist
der Verlust eines Sohnes nicht genug an Strafe?
Was
ist aus unserem allgemeinen menschlichen Anstand geworden?
(dt.
Ellen Rohlfs, von Verfasser autorisiert)