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Uri
Avnery, 25. Juli 2015
IM JAPAN
der guten alten Zeiten würde Benjamin Netanjahu jetzt Harakiri begangen haben.
Im
England jener Zeiten würde der König ihn als Gouverneur zur entferntesten Insel
im Pazifischen Ozean gesandt haben.
In
Israel muss seine Popularität steigen.
Weil in
unserm Land das alte Sprichwort eine neue Wendung erhält: Nichts hat so viel
Erfolg wie Misserfolg.
UND WAS
für einen Misserfolg! WAU!!!
Praktisch hat er dem Präsidenten der USA, dem Führer der freien Welt, dem
obersten Beschützer des Jüdischen Staates, den Krieg erklärt.
Es ist
noch nicht so lange her, dass man
gedacht hatte, dass dies unmöglich sei. Aber für Benjamin Netanjahu ist nichts
unmöglich.
Für
jemanden, der gerade vom Planeten Mars zu einem Besuch kommt, ist hier eine
kurze Liste über Israels Abhängigkeit von den USA: es bekommt von ihnen den
Hauptteil seiner schweren Waffen und muss sie nicht einmal bezahlen, es kann
sich darauf verlassen, dass sie
alle UN-Sicherheits-Resolutionen, die Israels Taten und Untaten verurteilen,
mit einem Veto belegen; es erhält jedes
Jahr von den US Milliarden Dollar, obwohl die israelische Wirtschaft blüht.
Da gibt
es noch eine Unterstützung, die oft übersehen wird. Da die Welt glaubt, beide
Häuser des US-Kongresses seien Israel unterwürfig, zahlen viele Länder Israel
für den Zugang zum Kongress. Man muss den Türhüter bestechen, um
hineinzugelangen.
Wenn ein
israelischer Ministerpräsident mit dem Präsidenten der US einen Streit beginnt,
sieht das wie reiner Wahnsinn aus – und tatsächlich ist es das auch.
Doch
Netanjahu ist nicht unvernünftig, auch wenn seine Aktionen dies suggerieren. Er
ist nicht einmal ein Tor.
Was also
- zum Teufel - denkt er, was er tut?
DAFÜR GIBT
es mehrere mögliche Erklärungen, die mir einfallen.
Die eine
verwöhnt die israelische Öffentlichkeit. Weit davon entfernt, einen neuen Juden
zu schaffen, wie es der Zionismus versprochen hat, dominiert der alte Jude in
Israel. Der alte Jude glaubt, dass die ganze Welt antisemitisch sei, und jeder
neue Beweis erfüllt ihn mit Genugtuung. Man sieht es,
die Gojim haben sich überhaupt nicht verändert.
Netanjahus Popularität wächst mit jeder neuen Manifestation ausländischer
Feindseligkeit. Wenn selbst die Amerikaner, die so lange vorgaben, ein Freund
Israels zu sein, uns an die antisemitischen Iraner verkaufen, dann brauchen wir
einen starken und standhaften Führer. Kurz gesagt – Netanjahu.
Eine
andere plausible Erklärung für Netanjahus Verhalten mag seine tatsächliche
Überzeugung sein, dass es kein US-Senator oder Abgeordneter jemals wagen würde,
AIPACS Befehle abzuschütteln, weil er weiß, dies würde das Ende seiner (oder
ihrer) politischen Karriere sein. Wie die größten Antisemiten glaubt Netanjahu,
dass die Juden die Welt oder wenigstens den US-Kongress beherrschen. Im
entscheidenden Augenblick wird der Kongress für AIPAC und gegen den
US-Präsidenten stimmen.
Eine
andere Erklärung könnte sein – so paradox es klingt – ein blinder Glaube an die
Integrität von Obama. Netanjahu denkt, dass er ihn auf den Kopf schlagen, ihm
ins Gesicht spucken und in den Hintern stoßen kann– und Obama würde cool, ja,
vernünftig reagieren und Israel weiter unterstützen – mit Ausnahme des
Iran-Abkommens. Er wird weiter Waffen und Dollars senden, die Resolutionen des
Sicherheitsrates mit einem Veto belegen, seine Anrufe aus Israel mitten in der
Nacht empfangen.
Man weiß
doch, wie diese Amerikaner sind. Unterwürfig. Besonders die Schwarzen.
ABER DA
kann es noch eine andere Erklärung geben, die alle andern übertrumpft.
Den
US-Präsidenten, seine Regierung und seine Partei beleidigen, bedeutet, dass
Netanjahu mit unserer Zukunft spielt. Dies bringt uns zum Weltherrscher des
Glücksspiels, dem König von Las Vegas, dem Fürst von Macao, zu Sheldom Adelson.
Adelson
verbirgt nicht seine Unterstützung Netanjahus, dem Mann, der Familie und der
Partei. Er gibt große Summen Geldes für eine hebräische Tageszeitung aus, die
gratis an Israelis verteilt wird, ob sie es wollen oder nicht wollen. Es ist
jetzt die größte Zeitung in Israel und
persönlich Netanjahu, dem Mann, und
seiner Frau gewidmet. Sie hat keinen anderen Zweck.
Doch
Sheldon Adelson scheint kein wirkliches Interesse an Israel zu haben. Er lebt
nicht hier, auch nicht zeitweilig. Was bekommt er also dafür?
Adelson
hat Netanjahu aus einem einzigen Grund gekauft: um einen seiner Strohmänner im
Weißen Haus zu platzieren. Es ist ein Ziel, von dem ein anderer Multi-Milliardär
nicht einmal träumen kann.
Um
dieses Ziel zu erreichen, benötigt Adelson die Republikanische Partei als
Leiter. Er muss ihren Kandidaten für die Präsidentschaft auswählen, Hillary
Clinton besiegen und die Wahlen gewinnen. Um bei all diesen Aufgaben Erfolg zu
haben, muss er die gewaltige Macht der pro-Israel-Lobby über den US-Kongress
mobilisieren und Präsident Obama fertig machen.
Der
erste Schritt auf diesem langen Marsch ist es, das Iran-Abkommen zu vereiteln.
Netanjahu ist nur gerade ein Zahnrädchen in diesem großen Entwurf. Aber ein sehr
wichtiges Zahnrädchen.
Sieht
dies wie eine Karikatur im „Stürmer“ aus, dem berüchtigten antisemitischen
Nazi-Blatt, oder noch schlimmer, wie eine Seite aus den ‚Protokollen der Weisen
von Zion‘, der bekannten antisemitischen Fälschung? Es ist das klassische
antisemitische Bild: der hässliche Finanzjude, der um die Weltherrschaft kämpft.
Für
einen Israeli steckt in diesem Bild etwas Ekelhaftes. Die zionistische Vision
wurde aus der totalen Ablehnung dieser Karikatur geboren. Die Juden würden mit
Effektengeschäften und Geldverleih
aufhören. Juden würden im Schweiß ihres Angesichtes das Land pflügen, produktive
Handarbeit leisten, alle Arten
parasitärer Spekulationen zurückweisen. Dies wurde
als solch hohes Ideal angesehen, dass es sogar die Vertreibung der
einheimischen arabischen Bevölkerung rechtfertigte.
Und hier
sind wir nun: ein Staat, der den Befehlen eines internationalen Kasino-Moguls
folgt, dessen Beschäftigung vielleicht die unproduktivste im Kosmos ist.
Traurig.
GIBT ES
eine tapfere Opposition gegen diesen Kurs in Israel? Nein, buchstäblich keine.
In
meinem langen Leben in Israel habe ich niemals etwas gesehen, das einer totalen
Abwesenheit von Opposition so nahe ist, wie wir sie jetzt haben.
Wenige
Stimmen in Haaretz, einige einsame Äußerungen vom extremen linken Rand – und das
war es dann schon.
Abgesehen von diesen (einschließlich Gush Shalom), nichts außer donnerndem
Applaus für Netanjahu oder
schrecklicher Friedhofsstille.
Das
Abkommen ist „schlecht“. Nein, nicht nur schlecht, sondern „katastrophal“.
Nicht nur katastrophal, sondern „eines der
schrecklichsten Desaster in der ganzen Geschichte des jüdischen Volkes“. Etwas
das sich einem „Zweiten Holocaust“ nähert. (Ich hab dies nicht erfunden.)
Netanjahus oberflächliche Argumente werden als heilige Wahrheiten akzeptiert,
wie die Äußerungen der anderen großen jüdischen Propheten. Keiner bemüht sich,
die entsprechende Frage zu stellen: Warum?
Die
Sonne geht am Morgen auf. Die Flüsse münden ins Meer. Der Iran wird eine
Atombombe bauen und sie über uns abwerfen, auch wenn sie dadurch auf sich eine
historische Katastrophe bringt. Die Mullahs sind Nazis. Das Abkommen ist ein
weiteres Münchner Abkommen. Obama ist ein neuer Neville Chamberlain, nur
schwarz.
Keiner
macht sich die Mühe, diese Behauptungen nachzuprüfen. Die Dinge sind so
selbstverständlich. Der Tag ist Tag
– die Nacht ist Nacht.
ICH HABE
in meinem Leben viele Situationen von fast einmütiger öffentlicher Meinung
erfahren, besonders in Kriegszeiten. Aber in meinem ganzen Leben habe ich nie
die Erfahrung solch einer Situation totaler Einmütigkeit, totaler Abwesenheit
von Zweifeln und Fragen, gemacht wie jetzt.
Diese
Situation ist nicht ohne Absurditäten. Zum Beispiel: der iranische Oberste
Führer ist offensichtlich mit seinen eigenen Extremisten konfrontiert, die ihn
anklagen, sich dem amerikanischen Satan zu verkaufen. Um sie zu befrieden, muss
er behaupten, dass der Vertrag ein gewaltiger Sieg für die Islamische Republik
ist, dass er die US (und Israel) auf ihre Knie gebracht habe. Die riesige
Propagandamaschine von Netanjahu nimmt dies auf, zitiert es und verkauft es als
absolute Wahrheit. Jeder weiß, dass die Iraner immer lügen, aber dieses Mal
sagen sie es, wie es ist.
Yair
Lapid, der Führer einer zusammengeschrumpften „Zentrums“-Partei, jetzt in der
Opposition (Die Orthodoxen erlaubten Netanjahu nicht, ihn in die Regierung zu
nehmen) denunziert das Abkommen als historisches Desaster für das jüdische Volk.
Er fragt laut, warum wird Netanjahu nicht gezwungen, nach seinem Versagen
abzutreten, um dieses Desaster zu verhindern?
Umso mehr, als es fähigere Führer gibt, die bereit sind, seinen Platz zu
übernehmen und den Kampf zu führen, ein Mann mit Namen Yair Lapid.
Da ist
tatsächlich etwas Paradoxes in Netanjahus Situation, wenn das Abkommen solch ein
historisches Desaster ist, „eines der schlimmsten in der jüdischen Geschichte“,
warum macht er in seinem Job weiter?
UM EINEN
Ministerpräsidenten von seinem Amt abzusetzen, braucht man eine Opposition, um
seinen Platz zu nehmen. Tatsächlich ist dies die Hauptaufgabe der Opposition.
Nicht
hier.
Der
Führer der Opposition (ein offizieller Titel in Israel) verurteilt das Abkommen
in genau so starken Ausdrücken wie Netanjahu selbst. Er hat angeboten, in die
USA zu gehen, um beim Kampf dagegen mitzuhelfen. Sein Konkurrent Yair Lapid, der
Sohn eines Super-Nationalisten, ist sogar noch extremer als er. Der Führer der
dritten Oppositionspartei ist Avigdor Lieberman; verglichen mit ihm, ist
Netanjahu ein linker Weichling. Da
gibt es natürlich noch eine vierte Oppositionspartei – die Vereinigte Arabische
Partei - aber wer hört auf sie?
Man
könnte vermuten, dass Israel – konfrontiert mit solch einem historischen
Desaster – von Debatten wimmeln würde.
Aber wie kann man eine Debatte führen, wenn alle einer Meinung sind? Ich habe
nicht eine einzige Diskussion im TV gesehen, noch eine in den Zeitungen, noch im
Internet. Hier und da ein kleines Flüstern über Zweifel, aber eine Debatte ?
Nirgendwo!
Tatsächlich kann man in Israel tagelang glücklich leben und überhaupt keine
Andeutung einer historischen Katastrophe hören. Der Preis des Hüttenkäses weckt
mehr Emotionen.
Also
bewegen wir uns glücklich auf das
Desaster zu – es sei denn, einer von Sheldons Handlangern betritt mit Hilfe von
Bibi das Weiße Haus.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, von
Verfasser autorisiert)