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Der Spielverderber
Uri Avnery
5.Oktober
2013
BENJAMIN
NETANjAHU erweckte mein Mitleid.
Aus meiner 10 jährigen Mitgliedschaft in der Knesset weiß ich, wie unerfreulich
es ist, vor einem leeren Saal zu sprechen.
Seine ewig
gestrigen Genossen – ein pathetischer Rest von Casinobesitzern und ausgebrannter
Zionisten des rechten Flügels – saßen auf der Galerie, und eine aufgeblasene
israelische Delegation saß im Saal. Doch unterstrichen sie nur die allgemeine
Leere. Deprimierend.
Wie
anders doch bei Präsident Hassan Rouhanis Empfang! Da war der Saal überfüllt;
der Generalsekretär und die andern Würdenträger eilten von ihren Sitzen, um ihm
am Ende zu gratulieren. Die internationalen Medien konnten nicht genug von ihm
bekommen.
Netanjahu
hatte auch Pech. Es war am Ende der Sitzung, jeder beeilte sich, nach Hause oder
zum Einkaufen zu gehen. Keiner war in der Stimmung, noch eine Lektion jüdischer
Geschichte zu hören. Genug ist genug.
Es kam noch
schlimmer. Die Rede wurde durch einen
die Welt erschütternden Vorfall total in den Schatten gestellt: die Schließung
der US-Bundesregierung. Der Zusammenbruch des gefeierten US-Systems der
Regierungsgewalt - etwas wie ein administrativer 9/11 -
es war ein faszinierender
Anblick. Netanjahu konnte nicht
konkurrieren.
VIELLEICHT GAB
es bei den Delegierten unseres Ministerpräsidenten ein klein wenig Schadenfreude
ihm gegenüber.
Bei seiner
Rede vor der UN-Vollversammlung im letzten Jahr nahm er die Rolle des Lehrers
der Welt an, benützte primitive Unterrichtshilfen am Rednerpult, zeichnete mit
roter Tinte eine Linie in die Zeichnung, die die
Bombe darstellte, als wäre es eine Darstellung für die 3.
Grundschulklasse
Seit Wochen
ist jetzt durch israelische Propaganda den
Weltführern erzählt worden, dass sie
kindisch naiv seien oder nur einfach dumm. Vielleicht wollten sie dies
nicht hören. Vielleicht wurden sie in ihrem Glauben bestärkt, dass die Israelis
(oder noch schlimmer: die Juden) arrogant, herablassend sind. Vielleicht war es
auch nur eine gönnerhafte Rede zu viel.
All dies ist
sehr traurig. Traurig für Netanjahu. Er hatte so viel Mühe in diese Rede
gesteckt. Für ihn ist eine Rede vor der UNO (oder dem USA-Kongress) wie eine
größere Schlacht eines berühmten Generals - ein historischer Augenblick. Er lebt
von einer Rede zur anderen, im Voraus jeden Satz
abwiegend und immer wieder übend, auch
die Körpersprache und den Tonfall, wie der vollkommene Schauspieler, der
er ist.
Und hier war
er, der große Shakespearianer und deklamierte „zu sein oder nicht zu sein“ vor
einem leeren Saal, unhöflich von einem einzigen schnarchenden Herrn in der
zweiten Reihe gestört.
KÖNNTE UNSERE
Propaganda weniger langweilig sein?
Natürlich
konnte sie.
Bevor
Netanjahu seine Füße auf amerikanischen Boden setzte, wusste er, dass die Welt
bei den Anzeichen der neuen iranischen
Haltung vor Erleichterung aufatmete. Obwohl er überzeugt sein mochte, dass die
Ayatollahs - wie gewöhnlich –
lügen, war es weise, als
Serienspielverderber zu erscheinen.
Er könnte
gesagt haben: „Wir heißen die neuen Töne aus Teheran
willkommen. Wir hörten mit großer Sympathie Herrn Rouhanis Rede. Zusammen
mit der ganzen Welt, die durch diese illustre Versammlung vertreten ist, haben
wir die große Hoffnung, dass die iranische Führung es ernst meint und dass durch
ernsthafte Verhandlungen eine faire und effektive Lösung gefunden werden kann.
„Doch können
wir nicht die Möglichkeit ignorieren, dass diese freundliche Offensive nur eine
Nebelwand ist, hinter der Herr Rouhanis interne Feinde weiter an der Atombombe
bauen, die uns alle bedroht. Deshalb erwarten wir von uns allen, äußerste
Vorsicht bei den Verhandlungen walten zu lassen…“
Es ist der
Ton, der die Musik macht.
STATTDESSEN
DROHTE unser Ministerpräsident noch
einmal – und schärfer als bisher – mit einem israelischen Angriff auf den Iran.
Er zog
einen Revolver schwingend hervor, der –
wie jeder wusste – leer ist.
Diese
Möglichkeit bestand nie wirklich, wie ich es wiederholt
bemerkt habe. Die Geographie, die Weltwirtschaft und politische Umstände
machen einen Angriff auf den Iran unmöglich.
Aber selbst,
wenn es zu irgendeiner Zeit real gewesen wäre, so steht es jetzt außer Frage.
Die Welt ist dagegen. Die US-Öffentlichkeit ist endgültig dagegen.
Ein Angriff
von Israel allein, angesichts einer resoluten amerikanischen Opposition, ist so
wahrscheinlich, als würde Israel eine Siedlung auf dem Mond errichten. Ziemlich
unwahrscheinlich.
Ich weiß
nichts über die militärische Machbarkeit. Könnte es geschehen? Könnte unsere
Luftwaffe dies ohne US-Hilfe und Unterstützung tun? Selbst, wenn die Antwort
positiv wäre, die politischen Umstände verbieten es. Tatsächlich scheinen unsere
militärischen Chefs an solch einem Abenteuer
überhaupt nicht interessiert
zu sein.
DER HÖHEPUNKT
der Rede war Netanjahus grandiose Erklärung: „Wenn wir alleine stehen müssen,
werden wir alleine stehen!“
Woran
erinnert mich dies? In den späten
40er-Jahren erschien in Palästina – und ich vermute im gesamten britischen
Empire – ein tolles Propaganda-Plakat. Frankreich war besiegt, Hitler war noch
nicht in die Sowjetunion eingefallen, die US war weit
davon entfernt, zu intervenieren. Das Poster zeigte den unerschrockenen
Winston Churchill und einen Slogan: „Nun gut, dann eben alleine!“
Netanjahu
konnte sich nicht daran erinnern, obwohl
sein Gedächtnis pränatal ist. Ich nenne es „ Umgekehrten Altzheimer“ – man
erinnert sich an Dinge, die sich nie ereigneten. (Er erzählte einmal lang und
breit, wie er als Junge mit einem britischen Soldaten in den Straßen Jerusalems
eine Diskussion hatte, obwohl der letzte britische Soldat das Land vor mehr als
einem Jahr, vor seiner Geburt, verlassen hatte)
Die
Phrase, nach der Netanjahu Ausschau hielt, wurde 1896
geschaffen: im Jahr als
Theodor Herzl sein epochales Werk „Der Judenstaat“ veröffentlichte. Ein
britischer Staatsmann prägte das Schlagwort „Splendid Isolation“, um die
britische Politik unter Benjamin Disraeli und seinem Nachfolger zu
charakterisieren.
Tatsächlich
stammte der Slogan aber aus Kanada, als ein Politiker über Britanniens
Isolierung während der napoleonischen Kriege sprach: „Niemals erschien die
‚Imperiale Insel‘ so großartig – sie
stand allein und
es gab eine ruhmreiche Einsamkeit!“
Sieht sich
Netanjahu selbst als eine Wiedergeburt von Churchill, der stolz und
unerschrocken gegen einen Kontinent
stand, der von den Nazis verschlungen
wurde?
Und
wo bleibt dabei Barack Obama?
WIR WISSEN wo.
Netanjahu und seine Gefolgsleute
erinnern uns ständig daran.
Obama ist der
moderne Neville Chamberlain.
Chamberlain
der Beschwichtiger. Der Mann, der mit einem Blatt Papier wedelte und
proklamierte: „Friede in unserer Zeit“
Der Staatsmann, der fast
Zerstörung über sein Land brachte.
Bei dieser
Version der Geschichte, von der wir jetzt Zeugen sind, ist es das Zweite
München. Eine Wiederholung des berüchtigten Abkommens 1938 zwischen Adolf
Hitler, Benito Mussolini, Edouard Daladier und Neville Chamberlain,
bei dem das Sudetenland, das zur Tschechoslowakei gehörte - aber von
Deutschen bewohnt war - zu
Nazi-Deutschland kam und so die
demokratische kleine Tschechoslowakei
ohne Verteidigung ließ. Ein halbes Jahr später fiel Hitler in die
Tschechoslowakei ein. Ein paar Monate später brach
der 2. Weltkrieg aus, als er in Polen einmarschierte.
Historische
Analogien sind immer gefährlich, besonders wenn sie von Politikern
und Kommentatoren mit nur oberflächlichem historischem Wissen benützt
werden.
Schauen wir
uns München an: in der Analogie wird Hitlers Platz von Ali Khamenai eingenommen
oder vielleicht von Hassan Rouhani. Tatsächlich? Haben sie die stärkste
militärische Maschinerie, wie sie Hitler damals schon hatte?
Und
sieht Netanjahu selbst aus wie Eduard Benes, der tschechische Präsident,
der vor Hitler zitterte?
Und Präsident
Obama, ähnelt er Chamberlain, dem Führer
eines geschwächten und praktisch unbewaffneten Großbritannien, in verzweifelter
Zeitnot für die Wiederbewaffnung? Ergibt sich Obama einem fanatischen Diktator?
Oder ist es
der Iran, der aufgibt – oder vorgibt, seine nuklearen Ambitionen aufzugeben? Der
auf seine Knie gebracht wird durch
die strengen amerikanisch diktierten internationalen Sanktionen?
(Übrigens
wurde die München-Analogie sogar
noch verrückter angewandt, als es kürzlich in Israel für das
amerikanisch-russische Abkommen zu Syrien ausgesprochen wurde. Dort übernahm
Bashar al-Assad die Rolle des siegreichen Hitler,
und Obama war der naive Engländer mit
dem Schirm. Doch war es Assad, der seine kostbaren chemischen Waffen aufgab,
während Obama nichts gab, außer dem Aufschub einer militärischen Aktion. War das
München?)
KOMMEN WIR
zurück zur Realität: Da gibt es gar nichts Großartiges
was die Isolierung Israels in diesen Tagen betrifft.
Isolierung
bedeutet Schwäche, Verlust von Macht, ein Schwinden der Sicherheit.
Es ist der Job
eines Staatsmannes, Verbündete zu finden, Partnerschaften aufzubauen, die
internationale Stellung seines Landes zu stärken.
Netanjahu
liebt in letzter Zeit, unsere alten Weisen zu zitieren:
„Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich?
Er vergisst
den zweiten Teil desselben Satzes zu erwähnen: „Und wenn ich allein bin, was bin
ich dann?“
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)