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Tachrir-Platz, Tel Aviv
Uri
Avnery, 23.April 2011
AMRAM MITZNA ist ein netter
Kerl. Er ist bescheiden und strahlt Glaubwürdigkeit aus. Er erinnert an den
verstorbenen Lova Eliav, den Generalsekretär der Labor-Partei, der die Partei
voll Empörung verlassen hat. Wie Eliav hat er eine Menge praktischer
Errungenschaften, die auf seine Initiative zurückgehen.
Eliav baute die Dörfer im Lakhishgebiet im südlichen Zentralisrael,
Mitzna verwaltete freiwillig die entfernte Stadt
Yerucham tief im Negev.
„Buji“ Hertzog ist auch ein
guter Kerl. Er ist Nachkomme einer
jüdisch-aristokratischen Familie im positiven Sinn des Wortes. Sein Großvater
war ein Oberrabbiner, sein Vater der Präsident Israels.
Er ist eine Person, deren Taten - als Wohlfahrtsminister - für sich
selbst sprechen – obwohl er eine seltsame Angewohnheit hat, nach jeder Aktion
seinen (amerikanischen) Freunden
davon zu erzählen, wie die Wikileaks-Papiere aufdecken. (Dies ist eine
Anspielung auf einen klassischen israelischen Witz: „Warum machen die
israelischen Männer immer so schnell Schluss? Weill sie
nicht warten können, um zu ihren Freunden rennen, um es ihnen zu
erzählen.“)
Amir Peretz ist ein
interessanter Charakter. Sein Hintergrund als Immigrant aus Marokko ist
eindrucksvoll. Er machte nur den Fehler seines Lebens, als er den Posten des
Verteidigungsministers verlangte und dann ein Chaos fabrizierte – aber
aus seinen Fehlern kann man lernen.
Shelli Yacimovich ist eine
selbstsichere Frau, eine überzeugte Feministin. Das soziale Elend der Armen und
Unterdrückten brennt in ihren Knochen, wie wir das im Hebräischen sagen. Sie
glaubt, es sei möglichi, eine
Partei zu haben, die sich ganz diesen Problemen widmet, wobei sie
im Augenblick unpopuläre und schwierige Probleme wie den Frieden
vergisst. Das ist ein Fehler – wer vor der palästinensischen Frage wegrennt, dem
rennt die palästinensische Frage nach. Aber sie wird lernen.
All diese Leute sind
Kandidaten für die Führung der Labor-Partei. Jeder könnte vielleicht ihrem
Verderben Einhalt gebieten, die
Stimmen halten, die sie bei den letzten Wahlen
erhalten hat und vielleicht
sogar ein paar Sitze dazu gewinnen.
Na und?
BEDAUERLICH
IST, dass dies fast nichts verändern würde. Die Macht würde in den Händen
der Rechten bleiben. Die Balance zwischen den Blöcken – den Rechten und Linken –
wäre nicht anders .
Diejenigen, die einst ihren
Glauben an einen Aufstieg von
Kadima setzen, haben jetzt erfahren, dass Kadima keine linke Partei ist, nicht
einmal eine Zentrumspartei, es sei denn, das Zentrum ist
ganz weit nach rechts
gerückt . Kadima ist Likud B, ganz einfach, von einer Frau angeführt, die in
einem Likudhaus aufgewachsen ist und der es anscheinend an jeglichem politischen
Instinkt fehlt. Ihre Partei schließt, außer parlamentarischen
Nullen, mehrere Rassisten ein, deren Platz zwischen Likud und Lieberman
ist, und einige Flüchtlinge der Labor-Partei, deren
Platz nirgendwo ist.
Die Labor-Partei könnte
rehabilitiert werden. Einige Parteien ähneln dem Phönix und könnten aus dem Grab
zurückkommen. Aber Labor ist ein alter Vogel ohne Federn. Während des größten
Teils ihrer Existenz war sie die Regierungspartei, und sie hat sich nie von
davon erholt. Selbst in der Opposition benimmt sie sich und redet wie eine
Regierungspartei, der die Regierung gestohlen worden ist. Sie hat keine Kraft
mehr, um sich zu erneuen, zu rebellieren, vorwärts zu stürmen. Sie war und
bleibt ein Verein professioneller Funktionäre. Solch eine Partei macht keine
Revolutionen.
Unter der Führung von einem
dieser Kandidaten wird sie nicht die große Kluft im israelisch- politischen
System ausfüllen. Sie wird nicht zu einem israelischen Tachrir-Platz
inspirieren. Es wird keine Revolution beginnen, ohne die Israel weiter rigoros
zum Abgrund marschiert.
DIE LEUTE, die sich auf dem
Tachrir-Platz versammelten, waren keine Überbleibsel von alten Parteien. Sicher
waren auch die da – die Wafdisten, die letzten Nasseristen, die Kommunisten, die
Muslimbruderschaft. Aber sie gaben nicht den Ton an, sie zündeten nicht die
Flamme an, die den Himmel über der ganzen arabischen Welt
aufhellte.
Auf dem Platz erschienen
völlig neue Kräfte aus dem Nirgendwo. Bis zum heutigen Tag haben sie keinen
Namen, außer dem Datum des ursprünglichen Ereignisses – 25. Januar. Aber jeder
weiß, woher sie kamen und wie sie aussehen. Aus Mangel einer besseren
Bezeichnung werden sie „die junge Generation“ genannt. Sie sind ein Haufen
voller Hoffnungen und hoher Ziele, die alle Lebensbereiche berühren. Sie sind
entschlossen, ein „anderes Ägypten“ zu schaffen, völlig anders als das Ägypten
von gestern.
NATÜRLICH GIBT es fast
keine Ähnlichkeit zwischen Ägypten und Israel. Der ägyptische Aufstand
könnte uns höchstens als Metapher, als Symbol dienen. Aber das Prinzip
ist dasselbe: der Wunsch nach einem „anderen Israel“, nach der zweiten
israelischen Republik.
Die Schaffung einer neuen
politischen Bewegung ist ein
Schöpfungsakt. Es gibt kein Rezept dafür,
wie z.B. „Man nehme 2 orientalische Juden, 1 Russe, einen halben
Rabbiner, rühre gut um…“ . so geht es nicht. Es wird auch nicht so gehen: “Man
nehme die Labor-Partei, füge einen Löffel voll Meretz hinzu und mische mit einem
halben Glass Kadima…“
Eine neue Bewegung
der Art, wie wir sie benötigen, muss aus dem Nirgendwo herkommen. Aus der
Vision und Entscheidung einer Gruppe junger Führer mit einer neuer
Weltanschauung, die zu den
Bedürfnissen von Israels Zukunft passt.
Eine Gruppe, die in neuer Weise denkt und die Dinge in einem neuen Licht
sieht, in einer neuen Sprache spricht.
Dies geschieht einmal in
einer Generation, wenn überhaupt. Wenn es geschieht, wird es von weit her
sichtbar.
IM AUGENBLICK gibt es
wenigstens ein Dutzend Gruppen in Israel, die diese Revolution planen.
Vielleicht hat eine von ihnen Erfolg. Vielleicht auch nicht und der Funke wird
erst zu einem späteren Zeitpunkt
entzündet werden. Wie der junge jüdische Rabbiner aus Nazareth sagte: „Man wird
sie an ihren Früchten erkennen.“
Für jede Gruppe, die dieses
Wunder vollbringen könnte, scheinen mir einige Dinge absolut wesentlich.
Die neue Weltanschauung und
muss alle Sphären des öffentlichen Lebens umfassen. Wohlfahrt ohne Frieden ist
Unsinn, Frieden ohne grundsätzliche Veränderung der Werte wird nicht zustande
kommen; die unsterblichen Ideale von Freiheit, Gerechtigkeit und
Demokratie müssen für jeden für
alle Lebensgebiete gelten.
Viele „Pragmatiker“
behaupten, das Gegenteil sei
wahr . Gott bewahre, die Dinge zu vermischen. Wenn man über Frieden
redet, werden die Fürsprecher der Wohlfahrt
den Raum verlassen. Wenn du für die Rechte der Minderheiten eintrittst,
werden die Leute der Mehrheit Tschüss sagen. Das stimmt, wenn man an die
nächsten Wahlen denkt, nicht, wenn man an die nächsten Generationen denkt.
Jeder der nur daran denkt,
bei den nächsten Wahlen die meisten
Sitze zu gewinnen, wird keine Geschichte machen. Sprinter, die nur kurze
Strecken laufen, bringen nicht die Medaille, die wir brauchen. Sie fordert
Marathonläufer. (Man erinnere sich an Menachem Begin : er verlor bei neun
Wahlen, bevor er beim Großen Wandel
1977 gewann. Was erreichten Yigael Yadin oder Tommy Lapid mit ihren kurzlebigen
Siegen?)
Eine Bewegung, die aus dem
Nirgendwo auftaucht, eine Bewegung, die die Zukunft in sich trägt, kann nicht in
der Sprache von gestern reden. Sie muss eine neue Sprache mit sich bringen –
eine neue Terminologie, neue Slogans. Solch eine Sprache entsteht nicht in einem
PR-Büro. Diejenigen, die die Sprache ihrer Vorgänger kopieren, sind verurteilt,
auf den Pfaden ihrer Vorgänger zu gehen.
Die neue Sprache muss so
sein, dass sie den Verstand – und noch wichtiger: die Herzen aller Bürger
berühren kann. Noch eine Ashkenazi-Partei wird es nicht schaffen. Die neue
Bewegung muss den tiefsten Winkel
der jüdischen und arabischen, orientalischen und „russischen“, der weltlichen
und religiösen (wenigstens
einige von ihnen) Seelen berühren,
auch die Seelen der schon lange hier Lebenden und der Neuangekommen, der gut
Etablierten und die der Armen. Jeder, der im voraus
eine dieser Gemeinschaften aufgibt, ist zum Scheitern verurteilt.
VIELE KLUGE und erfahrene
Leute werden hier mitleidig lächeln. Das ist eine Utopie, werden sie sagen.
Nette Träume. Das wird nicht geschehen.
Solche Leute gibt es nicht, auch nicht solche Visionen, kein „Feuer in
den Knochen“. Höchstens gute Leute
mit dem Blick auf einen Sitz in der nächsten Knesset.
Sie mögen Recht haben. Aber
dieselben Leute hätten gelächelt , wenn ihnen jemand vor
fünf Jahren erzählt hätte,
dass die amerikanischen Wähler
einen afrikanisch-amerikanischen Präsidenten, dessen mittlerer Name Hussein ist,
wählen würden. Das hätte absolut absurd geklungen.
Ein schwarzer Präsident? Weiße Wähler? In den USA?
Dieselben Leute wären in
Gelächter ausgebrochen, wenn ihnen jemand vor nur einem Jahr erzählt hätte, dass
eine Million Ägypter sich auf dem Zentralplatz von Kairo versammeln und das
Gesicht ihres Landes verändern würde. Was ? Ägypter? Diese faulen und passiven
Leute? Ein Land, das in all seinen
5000 Jahren dokumentierter
Geschichte hat nicht einmal ein halbes Dutzend Revolutionen gemacht hat?
Lächerlich!!
Nun, es gibt Überraschungen
in der Geschichte. Manchmal, wenn
die Bedürfnisse es verlangen, können Völker sich selbst überraschen. Es kann
hier geschehen. Wenn es passiert, wird es jene von uns nicht überraschen, die an
unser Volk glauben.
Der Rabin-Platz ist
allerdings nicht der Tachrir-Platz. Oder doch???
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs, vom Verfasser …..