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Zwischen
Tel Aviv und Teheran
Uri Avnery, 27.6.09
HUNDERTTAUSENDE
iranische Bürger strömen auf die Straßen, um gegen ihre Regierung zu
protestieren! Was für ein wunderbarer Anblick! Der Journalist Gideon Levy
schrieb in Haaretz, er beneide die Iraner.
Und
tatsächlich, jeder, der in diesen Tagen versucht, Israelis in größerer Zahl auf
die Straße zu holen, wird grün vor Neid. Es ist sehr schwierig, selbst nur
Hunderte von Leuten zu Protesten gegen die Schandtaten oder die üble Politik
unserer Regierung zu bewegen – und nicht etwa, weil die Leute diese
unterstützen würden. Auf dem Höhepunkt des Gazakrieges
vor einem halben Jahr war es nicht einfach, zehntausend Demonstranten zu
mobilisieren. Nur einmal im Jahr gelingt es dem Friedenslager, hunderttausend
auf den Rabin-Platz zu bekommen – und dann nur, um der Ermordung Yitzhak Rabins zu gedenken.
Die
Atmosphäre in Israel ist eine Mischung von Gleichgültigkeit, Müdigkeit und dem
„Verlust des Glaubens an die Möglichkeit, die Realität zu verändern“, wie ein
Richter des Obersten Gerichtes sich in dieser Woche ausdrückte. Ein sehr
gründlicher Wandel wäre nötig, um Menschenmassen zu einer Demonstration für
Frieden zu motivieren.
FÜR
MIR-HUSSEIN MOUSAVI haben Hunderttausende demonstriert und Hunderttausende
haben für Mahmoud Ahmadinejad demonstriert. Das sagt
etwas über die Leute und über das Regime.
Könnte
sich jemand vorstellen, Hunderttausende würden sich auf Kairos Tahrir-Platz gegen die offiziellen Wahlergebnisse dort
versammeln? Die Polizei würde - lange bevor sich dort tausend Menschen
versammeln - das Feuer eröffnen.
Würde
es etwa tausend Menschen in Amman erlaubt sein, gegen Seine Majestät den König
zu demonstrieren? Schon die Idee wäre absurd.
Vor
einigen Jahren eröffneten die Saudi-Sicherheitskräfte in Mekka das Feuer auf
unkontrollierbare Pilger. In Saudi Arabien gibt es nie Proteste gegen
Wahlergebnisse – einfach darum, weil es keine Wahlen gibt.
Im
Iran jedoch gab es Wahlen und wie! Sie sind häufiger als in den USA, und die
iranischen Präsidenten wechselten öfter als die amerikanischen. Allein die
Proteste zeigen, wie ernst die Bürger dort die Wahlergebnisse nehmen.
NATÜRLICH
ist das iranische Regime nicht in dem Sinne demokratisch, wie wir Demokratie
verstehen. Es gibt einen Obersten Leiter, der die Spielregeln bestimmt.
Religiöse Körperschaften sortieren die Kandidaten aus, die sie nicht mögen. Das
Parlament kann keine Gesetze annehmen, die dem religiösen Gesetz widersprechen.
Und die Gesetze Gottes sind unveränderlich – höchstens kann ihre Interpretation
verändert werden.
All
dies ist den Israelis nicht ganz fremd. Von Anfang an hat das religiöse Lager
versucht, Israel in einen religiösen/ theokratischen Staat zu verwandeln, in
dem das religiöse Gesetz (Halacha genannt) über dem
Zivilen Recht steht. Gesetze, die vor Tausenden von Jahren auftauchten und die
als unveränderbar angesehen werden, würden den Vorrang vor den Gesetzen
erhalten, die von der demokratisch gewählten Knesset erlassen wurden.
Um
den Iran zu verstehen, müssen wir nur auf eine der bedeutenden israelischen
Parteien schauen: Shas. Auch diese hat einen Obersten
Leiter, Rabbiner Ovadia Josef, der alles entscheidet:
er bestimmt die Parteiführung; er wählt die Kandidaten für die Knesset aus; er
dirigiert die Parteifraktion, wie sie bei jedem einzelnen Punkt abzustimmen
hat. Bei Shas gibt es keine Wahlen. Und im Vergleich
zu den häufigen Wutausbrüchen des Rabbiners Ovadia,
ist Ahmadinejad ein Modell der Mäßigung.
WAHLEN
SIND in jedem Land anders. Es ist sehr schwierig, die Glaubwürdigkeit der
Wahlen des einen Landes mit der eines anderen zu vergleichen.
Am
einen Ende der Skala waren die Wahlen in der guten alten Sowjet Union. Dort gab
es den Witz: ein Wähler betrat den Wahlraum, erhielt von einem Beamten einen
geschlossenen Umschlag und wurde aufgefordert, diesen in die Wahlurne zu
werfen.
„Was,
darf ich nicht wissen, für wen ich stimme?“ fragte der Wähler.
Der
Beamte war geschockt. „Natürlich nicht! In der Sowjet Union haben wir doch
geheime Wahlen!“
Am
andern Ende der Skala sollte die Säule der Demokratie stehen, die USA. Aber vor
nur neun Jahren entschied der Oberste Gerichtshof die Ergebnisse der Wahlen.
Die Verlierer, die für Al Gore gewählt hatten, sind bis heute davon überzeugt,
dass die Wahlergebnisse gefälscht worden waren.
In
Saudi Arabien, Syrien, Jordanien und jetzt offensichtlich auch in Ägypten geht
die Regierung vom Vater auf den Sohn über oder von einem Bruder auf den
anderen. Es ist eine Familienangelegenheit.
Unsere
eigenen Wahlen sind mehr oder weniger sauber, selbst wenn nach jeder Wahl Leute
behaupten, dass in orthodox-jüdischen Vierteln auch die Toten mitwählen. 3,5Millionen Bewohner der besetzten
palästinensischen Gebiete hatten auch demokratische Wahlen, die der frühere
Präsident Jimmy Carter als beispielhaft beschrieb, deren Ergebnis zu
akzeptieren aber Israel, die USA und Europa sich weigerten, weil sie mit dem
Ergebnis nicht einverstanden waren.
Es
scheint also, als ob die Demokratie eine Angelegenheit der Geographie sei.
WURDEN
DIE Wahlergebnisse im Iran gefälscht? Tatsächlich weiß dies keiner von uns in
Tel Aviv, Washington oder London. Wir haben keine Ahnung, weil keiner von uns –
einschließlich der Chefs der Geheimdienstagenturen – wirklich weiß, was sich in
diesem Land abspielt. Wir können nur unsern gesunden Menschenverstand benützen,
der sich auf die wenigen erhaltenen Informationen stützt.
Hunderttausende
von Wählern sind ehrlich davon überzeugt, dass die Wahlergebnisse eindeutig
gefälscht wurden. Sonst wären sie nicht auf die Straße gegangen. Aber das ist
unter den Wahlverlierern ein ganz normales Gefühl. Während des Wahlkampagnenrausches
glaubt jede Partei, sie sei im Begriff zu gewinnen. Wenn dies nicht geschieht,
dann ist sie sicher, dass die Ergebnisse gefälscht wurden.
Vor
einiger Zeit strahlte der ausgezeichnete 3 Sat-Fernsehkanal der BRD eine höchst interessante
Reportage über Teheran aus. Die Reportercrew fuhr auf der Hauptstraße vom
Norden der Stadt in den Süden, und unterwegs hielt sie häufig an, besuchte
Leute in ihrem zu Hause, betrat Moscheen und Nachtclubs.
Ich
erfuhr so, dass Teheran zum größten Teil wenigstens in einer Hinsicht Tel Aviv
ähnelt: Im Norden wohnen die Reichen und Wohlhabenden, im Süden die Armen und
Unterprivilegierten. Die im Norden imitieren die USA, besuchen besonders
angesehene Universitäten und tanzen in Clubs. Die Frauen sind emanzipiert. Die Leute
im Süden sind traditionell, verehren die Ayatollas
und die Rabbiner und verabscheuen die Schamlosigkeit und den korrupten Norden.
Mousavi ist der Kandidat des Nordens, Ahmadinejad der des Südens. Die Dörfer und kleinen Städte –
die bei uns „Peripherie“ genannt wird – identifizieren sich mit dem Süden und
distanzieren sich vom Norden.
In
Tel Aviv wählte der Süden den Likud, die Shas und
andere Parteien des rechten Flügels. Der Norden wählte Labor und Kadima. Bei unsern Wahlen vor ein paar Monaten gewann so
die Rechte einen klaren Sieg.
Es
scheint, dass etwas sehr Ähnliches im Iran geschehen ist. Es ist deshalb ganz
vernünftig, anzunehmen, dass Ahmadinejad wirklich
gewonnen hat.
Das
einzige westliche Institut, das vor den Wahlen eine ernst zu nehmende
Volksbefragung im Iran durchführte, kam zu Ergebnissen, die nahe an den
offiziellen Ergebnissen lagen. Man kann sich kaum große Fälschereien
vorstellen, die Millionen von Stimmen betreffen, bei denen Tausende vom
Wahllokalpersonal beteiligt gewesen sein sollen. Mit andern Worten: es ist also
völlig glaubwürdig, dass Ahmadinejad wirklich
gewonnen hat. Falls es Fälschungen gegeben hat – und es gibt keinen Grund, dies
nicht zu glauben – haben sie wahrscheinlich nicht das Ausmaß erreicht, dass das
Endergebnis verändern könnte.
Es
gibt einen einfachen Test für den Erfolg einer Revolution: hat der
revolutionäre Geist die Armee durchdrungen? Seit der Französischen Revolution
war keine Revolution erfolgreich, wenn die Armee das bestehende Regime weiter
unerschütterlich unterstützte. Die Revolution im Februar 1917 und die
Oktoberrevolution in Russland hatten beide Erfolg,
weil die Armee in einem Zustand der Auflösung war. 1918 geschah in Deutschland
ziemlich dasselbe. Mussolini und Hitler gaben sich große Mühe, die Armee nicht
herauszufordern und kamen mit ihrer Hilfe zur Macht.
Bei
vielen Revolutionen ist der entscheidende Moment der, wenn es auf den Straßen
zu Konfrontationen zwischen der Masse der Bevölkerung und den Soldaten bzw. der
Polizei kommt und die Frage auftaucht: werden sie auf das eigene Volk das Feuer
eröffnen? Wenn die Soldaten sich weigern, gewinnt die Revolution. Wenn sie
schießen, dann ist es das Ende der Angelegenheit.
Als
Boris Jelzin auf den Panzer kletterte, weigerten sich die Soldaten zu schießen,
und er gewann. Die Berliner Mauer fiel, weil sich ein ost-deutscher
Polizeioffiziere weigerte, im entscheidenden
Augenblick den Schießbefehl zu geben. Im Iran siegte Khomeini als sich beim Endtest die
Soldaten des Schahs weigerten zu schießen. Das geschah dieses Mal nicht. Die
Sicherheitskräfte waren bereit zu schießen. Sie waren noch nicht vom Geist der
Revolution infiziert. Wie es jetzt aussieht, war dies das Ende der Affäre.
ICH
BIN kein Bewunderer von Ahmadinejad. Mir sagt Mousavi mehr zu.
Ich
liebe keine Führungspersönlichkeiten, die direkten Kontakt zu Gott haben, die
von einem Balkon Reden zum Volk halten, die demagogisch und provokativ sind und
auf einer Welle von Hass und Angst reiten. Seine Leugnung des Holocaust – eine
idiotische Schau - zeigt Ahmadinejad nur als
primitiven oder zynischen Politiker.
Zweifellos
ist er ein eingeschworener Feind des Staates Israel oder des „zionistischen
Regimes“ - wie er ihn lieber nennt. Selbst wenn er nicht versprochen hat, ihn
auszulöschen, wie irrtümlicherweise berichtet wurde, sondern er nur seinen
Glauben ausgedrückt habe, dass „er von der Landkarte verschwinden werde“ – so
beruhigt mich das nicht.
Es
ist eine offen bleibende Frage, ob mit Mousavi, -
falls gewählt - es anders geworden wäre, was uns betrifft. Würde der Iran mit
seinen Bemühungen, nukleare Waffen zu produzieren, aufhören? Würde er den
palästinensischen Widerstand weniger unterstützen? Die Antwort ist negativ.
Es
ist ein offenes Geheimnis, dass unsere Regierung den Sieg Ahmadinejads
erhoffte, weil er den Hass der westlichen Welt gegen sich selbst aufbringt und
eine Versöhnung mit Amerika schwieriger macht.
Während
der ganzen Krise zeigte Barack Obama
eine bewundernswerte Zurückhaltung. Die amerikanische und westliche
Allgemeinheit, als auch die Unterstützer der israelischen Regierung beschworen
ihn, seine Stimme zu erheben, sich mit den Demonstranten zu identifizieren,
eine grüne Krawatte zu ihrer Ehre zu tragen, die Ayatollahs und Ahmadinejad mit eindeutigen Worten zu verurteilen. Aber
außer minimaler Verurteilung hielt er sich zurück und zeigte Weisheit und
politischen Mut.
Der
Iran ist, was er ist. Die USA müssen um ihretwillen mit ihm verhandeln - und
auch um unsretwillen. Allein auf diese Weise – wenn
überhaupt – ist es möglich, seine nukleare Aufrüstung aufzuhalten. Und sollten
wir dazu verurteilt werden, unter dem Schatten einer iranischen Atombombe zu
leben im Sinne des Gleichgewichts der Abschreckung, dann würde es besser sein,
wenn die Bombe in den Händen einer iranischen Führung liegt, die einen Dialog
mit dem amerikanischen Präsidenten aufrecht erhält. Und natürlich würde es für
uns gut sein, wenn wir – bevor wir an diesen Punkt gelangen - mit der freundlichen
Unterstützung Obamas einen vollen Frieden mit dem
palästinensischen Volk erreichen und so die Hauptrechtfertigung von Irans
Feindseligkeit gegen Israel beseitigen.
Die
Revolte der „Nördlichen“ im Iran wird - so scheint es - eine vorübergehende Episode
bleiben. Sie wird aber auf Dauer unter der Oberfläche weiter wirken. Doch
vorläufig ist es sinnlos, den Sieg des iranischen Leugners zu leugnen.
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)