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Tutus Gebet

 

Uri Avnery, 29.8.09

 

WIE SEHR  hat der Boykott Südafrikas tatsächlich dazu beigetragen, um das rassistische Regime zu stürzen? In dieser Woche sprach ich mit Desmond Tutu über diese Frage, die mich schon seit langem bewegt.

 

Keiner ist kompetenter, diese Frage zu beantworten, als er. Tutu, der südafrikanisch anglikanische Erzbischof und Friedensnobelpreisträger, war einer der Verantwortlichen für den Kampf gegen die Apartheid und später der Vorsitzende der „Wahrheits- und Versöhnungskommission“, die die Verbrechen des Regimes untersuchten. In der vergangenen Woche besuchte er Israel mit den „Elders“, einer Organisation älterer Staatmänner aus aller Welt, die von Nelson Mandela gegründet wurde.

 

Die Sache mit dem Boykott kam diese Woche wieder zur Sprache, nachdem Dr. Neve Gordon in der Los Angeles Times einen Artikel geschrieben hatte, in dem er zu einem weltweiten Boykott Israels aufgerufen hatte. Er bringt das Beispiel Südafrika, um zu zeigen, wie  ein weltweiter Boykott Israel zwingen würde, die Besatzung zu beenden, die er mit dem Apartheid-Regime verglich.

 

Ich habe  Neve Gordon seit vielen Jahren gekannt und geschätzt. Bevor er  Dozent an der Ben-Gurion-Universität in Beersheba wurde, organisierte er viele Demonstrationen gegen die Trennungsmauer im Jerusalemer Raum. An vielen von ihnen nahm auch ich  teil.

 

Leider kann ich ihm dieses Mal nicht zustimmen – nicht bei dem Vergleich mit Südafrika und nicht bei der Wirksamkeit eines Boykottes gegen Israel.

 

Die Meinungen  über den Beitrag des Boykotts zum Erfolg des Anti-Apartheid-Kampfes gehen aus- einander. Entsprechend einer Ansicht war er entscheidend. Andere Ansichten behaupten, sein Einfluss sei marginal gewesen. Einige glauben, dass es der Kollaps der Sowjetunion gewesen sei, der entscheidend war. Nach diesem hatten die USA und ihre Verbündeten keinen Grund mehr, das Regime in Südafrika zu unterstützen, das bis dahin als Pfeiler des weltweiten Kampfes gegen den Kommunismus angesehen worden war.

 

 

„DER BOYKOTT war ungeheuer wichtig,“ sagte mir Tutu, „viel wichtiger als der bewaffnete Kampf.“

 

Es sei daran erinnert, dass Tutu, nicht wie Mandela,  ein Advokat des gewaltfreien Kampfes war. Während  28 Jahren  schmachtete Mandela im Gefängnis. Er hätte jeden Augenblick frei kommen können, wenn er ein Statement unterschrieben hätte, das den „Terrorismus“ verurteilte. Er verweigerte  dies.

 

„Die Bedeutung des Boykotts war nicht nur wirtschaftlicher Art,“ erklärte der Erzbischof, „sondern auch moralisch. Die Südafrikaner sind z.B. ganz  wild auf Sport. Der Boykott, der ihre Teams daran hinderte, im Ausland an Sportwettkämpfen teilzunehmen, hat sie sehr getroffen. Aber die Hauptsache war, er gab uns das Gefühl, dass wir nicht alleine sind, dass die ganze Welt mit uns ist. Das gab uns die Kraft, weiter zu machen.“

 

Um die Wichtigkeit des Boykottes zu zeigen, erzählte er mir noch folgende Geschichte: 1989 wurde  der moderate weiße Führer Frederic Willem de Klerk zum Präsidenten von Südafrika gewählt. Nachdem er sein Amt angetreten hatte, erklärte er seine Absicht, eine multi-ethnische Regierung einzusetzen. „Ich rief ihn an und gratulierte ihm. Das erste, was er sagte, war:  „Werden Sie nun den Boykott abbrechen lassen?“

 

 

ES SCHEINT mir, dass Tutus Antwort den großen Unterschied zwischen der südafrikanischen Realität von damals zu der unsrigen von heute unterstreicht.

 

Der südafrikanische Kampf war der  zwischen einer  großen Mehrheit und einer kleinen Minderheit. Unter einer allgemeinen  Bevölkerung von fast 50 Millionen kamen die Weißen auf weniger als 10%. Das heißt, dass mehr als 90% der Bewohner des Landes den Boykott unterstützten – trotz des Argumentes, dass sie selbst darunter leiden würden.

 

In Israel ist die Situation genau umgekehrt. Die Juden stellen  mehr  als 80% von Israels Bürgern dar und  eine Mehrheit von 60% im ganzen Land zwischen Mittelmeer und Jordan. 99,9% sind gegen einen Boykott Israels.

 

Sie werden nicht das Gefühl haben, „die ganze Welt ist mit uns“, sondern eher „die ganze Welt ist gegen uns.“

 

In Südafrika half der weltweite Boykott, die Mehrheit  zu stärken und für den Kampf,  zu ermutigen. Die Auswirkung eines Boykottes auf Israel würde genau das Gegenteil bewirken: er würde die große Mehrheit in die Arme der extremen Rechten treiben und eine Festungsmentalität gegen die „antisemitische Welt“ schaffen.  (Der Boykott würde natürlich einen anderen Einfluss auf die Palästinenser haben, aber das ist nicht das Ziel jener, die ihn befürworten).

 

Völker sind sehr unterschiedlich. Die Schwarzen Südafrikas unterscheiden sich sehr von den Israelis und den Palästinensern. Der Kollaps des unterdrückerischen rassistischen Regimes führte nicht zu einem Blutbad, wie vorausgesagt worden war, sondern im Gegenteil: zur Errichtung der Wahrheits- und Versöhnungskommission. Anstelle von Rache, Vergeben . Denjenigen, die vor der Kommission erschienen und ihre Untaten zugaben, wurde verziehen. Das war im Einklang mit der christlichen Religion, und es war auch im Einklang mit dem biblischen Versprechen: „Wer aber seine Sünden bekennt und  von ihnen lässt, der wird Barmherzigkeit erlangen.“ (Sprüche 28,13)

 

Ich sagte zu dem Bischof, dass ich nicht nur die Verantwortlichen bewundere, die diesen Weg eingeschlagen haben, sondern auch die, die ihn akzeptierten.

 

 

EINER DER tiefsitzenden Unterschiede zwischen den beiden Konflikten  ist der Holocaust.

 

Jahrhunderte lange Pogrome haben sich in das Bewusstsein der Juden eingeprägt und damit die Überzeugung, dass die ganze Welt darauf aus sei, sie zu vernichten. Dieser Glaube wurde  hundertfältig durch den Holocaust verstärkt. Jeder Israeli lernt schon in der Schule, dass „die ganze Welt schwieg“, als sechs Millionen  ermordet wurden. Dieser Glaube steckt in den letzten Winkeln der jüdischen Seele. Selbst wenn dieser Glaube schlummert, ist er schnell hellwach.

 

(Es ist  diese Überzeugung, die es letzte Woche für Avigdor Lieberman möglich machte, das ganze schwedische Volk  wegen eines idiotischen Artikels in einer schwedischen Boulevardzeitung anzuklagen, mit den Nazis kollaboriert zu haben.)

 

Es mag wohl sein, dass die jüdische Überzeugung, „die ganze Welt ist gegen uns“ irrational ist. Aber im Leben von Völkern wie auch im Leben von Individuen ist es irrational, das Irrationale zu ignorieren.

 

Der Holocaust wird einen entscheidenden Einfluss auf jeden Aufruf zum Boykott Israels haben. Die Führer des rassistischen Regimes in Südafrika sympathisierten offen mit den Nazis und waren  während des 2. Weltkriegs deswegen sogar interniert worden. Apartheid gründete sich auf  dieselben rassistischen Theorien, die Hitler inspirierten. Es war einfach, die zivilisierte Welt zum Boykott eines widerlichen Regimes zu gewinnen. Die Israelis andrerseits werden als die Opfer des Nationalsozialismus’ gesehen. Der Aufruf zum Boykott wird viele Menschen rund um die Welt an den Nazi-Slogan „Kauft nicht beim Juden!“ erinnern.

 

Das betrifft nicht jede Art von Boykott. Vor etwa 11 Jahren rief die Gush Shalom-Bewegung, in der ich aktiv bin, zu einem Boykott der Produkte aus den Siedlungen auf. Ihre Absicht war es, die Siedler von der israelischen Öffentlichkeit zu trennen und aufzuzeigen, dass es zwei Arten von Israelis gibt. Der Boykott war auch dafür gedacht, die Israelis zu stärken, die gegen die Besatzung sind, ohne anti-israelisch oder antisemitisch zu werden. Seitdem hat die EU hart daran gearbeitet, die Tore der EU für Produkte der Siedler zu schließen – und  kaum einer hat sie des Antisemitismus’ angeklagt.

 

 

EINES DER Hauptschlachtfelder für unsern Kampf für Frieden ist die öffentliche Meinung in Israel. Die meisten Israelis glauben heute, dass Frieden wünschenswert, aber unmöglich sei (natürlich wegen der Araber). Wir müssen sie davon überzeugen,  der Frieden sei nicht nur gut für Israel, sondern  auch wirklich zu erreichen.

 

Als der Erzbischof fragte, was wir, die israelischen Friedensaktivisten, hoffen, sagte ich ihm: wir hoffen, dass Barack Obama einen umfassenden und detaillierten Friedensplan veröffentlicht und mit voller Überzeugungskraft der USA durchsetzt, um die Parteien dazu zu bewegen, ihn anzunehmen. Wir hoffen, dass die ganze Welt sich hinter diese Bemühungen stellt. Und wir hoffen, dass dies helfen wird, die israelische Friedensbewegung wieder zurück auf ihre Füße zu bringen und die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass es möglich  und  wert sei , den Weg des Friedens mit Palästina  zu betreten.

 

Keiner, der diese Hoffnung hegt, kann den Boykottaufruf gegenüber Israel  unterstützen. Diejenigen, die zum Boykott aufrufen, handeln aus Verzweiflung. Und da liegt die Wurzel des Übels.

 

Neve Gordon und seine Partner bei diesen Bemühungen sind an den Israelis verzweifelt. Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass es keine Chance gibt, die  israelische öffentliche Meinung  zu verändern. Ihrer Ansicht nach kommt keine Rettung  aus Israel selbst. Man muss die israelische Öffentlichkeit ignorieren und  sich darauf konzentrieren, die Welt gegen Israel zu mobilisieren. (Einige von ihnen denken sowieso, dass der Staat Israel demontiert  und durch einen binationalen Staat ersetzt werden sollte.)

 

Ich teile keine dieser beiden  Meinungen – weder die Verzweiflung über das israelische Volk, dem ich angehöre, noch die Hoffnung, dass die Welt aufstehen  und Israel zwingen wird, seinen Weg gegen seinen Willen zu ändern. Damit dies geschieht, muss der Boykott weltweit in Bewegung kommen, die USA muss sich ihm anschließen, die israelische Wirtschaft muss kollabieren und die Moral der israelischen Öffentlichkeit muss  zusammenbrechen.

 

Wie lange wird dies dauern ? Zwanzig Jahre ? Fünfzig Jahre? ewig?

 

 

ICH FÜRCHTE, dass dies das Beispiel einer falschen Diagnose ist, die zu einer falschen Behandlung führt. Um genau zu sein: die falsche Annahme, dass der israelisch-palästinensische Konflikt der südafrikanischen  Erfahrung ähnelt, führt zur falschen Wahl der Strategie.

 

Die israelische Besatzung und das südafrikanische Apartheidsystem haben gewisse ähnliche Charakteristika. Auf der Westbank gibt es Straßen  „nur für Israelis“. Aber die israelische Politik gründet sich nicht auf Rassentheorien, sondern auf einen nationalen Konflikt. Ein kleines, aber bezeichnendes Beispiel:  einem weißen Mann und einer schwarze Frau  (oder auch umgekehrt) war es  in Südafrika nicht erlaubt zu heiraten, und sexuelle Beziehungen zwischen ihnen war ein Verbrechen. In Israel gibt es solch ein Verbot nicht. Andrerseits kann ein arabisch israelischer Bürger, der eine arabische Frau aus den besetzten Gebieten heiratet (oder auch umgekehrt)  seinen/ihren Ehepartner nicht nach Israel bringen. Der Grund ist, die jüdische Mehrheit in Israel zu bewahren. Beide Fälle sind verwerflich, aber grundsätzlich verschieden.

 

In Südafrika gab es eine totale Übereinkunft zwischen den beiden Seiten über die Einheit des Landes. Der Kampf ging um die Herrschaft. Sowohl die Weißen, als auch die Schwarzen betrachteten sich als Südafrikaner und waren entschlossen, das Land  zusammenzuhalten. Die Weißen wollten keine Teilung und konnten es tatsächlich nicht wollen, weil sich ihre Wirtschaft auf die Arbeit der Schwarzen gründete.

 

In diesem Land haben die israelischen Juden und die palästinensischen Araber nichts gemeinsam – kein nationales Gefühl, keine gemeinsame Religion, keine gemeinsame Kultur und keine gemeinsame Sprache. Der weitaus größte Teil der Israelis wünscht einen jüdischen (oder hebräischen) Staat, der weitaus größte Teil der Palästinenser wünscht einen palästinensischen  (oder islamischen) Staat. Israel ist nicht von palästinensischen Arbeitskräften abhängig – im Gegenteil. Es vertreibt die Palästinenser von ihren Arbeitsplätzen in Israel. Aus diesen Gründen gibt es jetzt einen weltweiten Konsens, dass die Lösung in der Schaffung eines palästinensischen Staates neben Israel ist.

 

Zusammengefasst: die beiden Konflikte sind grundsätzlich verschieden. Deshalb müssen auch die Methoden des Kampfes notwendigerweise anders sein.

 

NOCH EINMAL  zurück zu Erzbischof  Tutu,  einer attraktiven, sympathischen Persönlichkeit. Er sagte mir, dass er häufig bete und dass sein Lieblingsgebet folgendes sei (ich zitiere aus dem Gedächtnis):

 

„Lieber Gott, wenn ich Unrecht tue, hilf mir meinen Fehler zu sehen. Und wenn ich Recht habe – hilf mir, bitte, dass  man mich ausstehen kann.“

 

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

 

 

 

 

Inserat von Gush Shalom in Haaretz vom 28.8.09

 

Der Bildungsminister Gideon Sa’ar

Möchte die Schüler nach Jerusalem holen

Um ihnen Werte beizubringen.

 

Werden sie auch die Familien

Im Sheikh Jarah-Viertel besuchen,

Die mitten in der Nacht

Aus ihren Häusern geworfen wurden,

Damit Siedler einziehen konnten?