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UM-Schmum, UM-Bumm
Der
UN-Bericht zum Gazakrieg
Uri Avnery, 19.9.09
HAT
IHRE Bösartigkeit denn keine Grenzen,
diese niederträchtigen Antisemiten!
Nun
haben sie sich entschlossen, die Juden mit einer weiteren
Blutschuld zu bezichtigen.
Nicht wie in der Vergangenheit mit der alten Verunglimpfung, dass sie
christliche Kinder schlachten, um
angeblich deren Blut für das Backen der Pessachmatzen
zu verwenden, wie in der Vergangenheit, sondern in dem Abschlachten von Frauen
und Kindern im Gazastreifen.
Und
wen stellten sie an die Spitze der Untersuchungskommission, dem diese
schmähliche Aufgabe zu teil
wurde? Weder einen britischen Holocaustleugner noch einen deutschen Neo-Nazi,
nicht einmal einen iranischen Fanatiker, sondern keinen geringeren als einen
jüdischen Richter, der den sehr
jüdischen Namen Goldstone (ursprünglich
Goldstein) trägt. Und nicht nur einen Juden mit einem sehr jüdischen
Namen, sondern einen Zionisten, dessen Tochter Nicole eine begeisterte
Zionistin ist, die einst „Aliya machte“ – also nach
Israel einwanderte - und fließend Hebräisch spricht. Und nicht nur einen
jüdischen Zionisten, sondern einen Südafrikaner, der gegen die Apartheid
opponierte und ins neue Verfassungsgericht
berufen wurde, als dieses Apartheidregime entmachtet wurde.
Alles,
um die moralischste Armee der Welt zu diffamieren, die gerade den gerechtesten
Krieg in der Weltgeschichte geführt hat!
Richard
Goldstone ist nicht der einzige Jude, der von der weltweiten
antisemitischen Verschwörung manipuliert
wird. Während der drei Wochen des Gazakrieges
demonstrierten mehr als 10 000 Israelis immer wieder gegen den Krieg. Sie
wurden photographiert, als sie Poster mit
der Aufschrift trugen: „Schluss mit den Massakern in Gaza!“, „Schluss mit den
Kriegsverbrechen!“ „Israel begeht Kriegsverbrechen“, „Das Bombardieren von Zivilisten ist ein
Kriegsverbrechen,“, sie sangen unisono: „Olmert,
Olmert, `s kommt der Tag – auf dich wartet man in Den Haag!“
Wer
hätte je geglaubt, dass es so viele Antisemiten in Israel gibt?!
DIE
OFFIZIELLE israelische Reaktion auf den Goldstone-Bericht wäre zum Lachen, wenn
die Sache nicht so bitter ernst gewesen wäre.
Abgesehen
von den „üblichen Verdächtigen“ ( die Journalisten
Gideon Levy, Amira Hass und ihresgleichen), war die
Verurteilung des Berichtes einmütig, absolut und extrem
- von Shimon Peres, dem Befürworter jeder Scheußlichkeit, bis hin zum
letzten Schreiberling der Print-Medien.
Keiner,
wirklich keiner, hat sich mit dem Inhalt des Berichtes selbst befasst. Keiner
untersuchte die detaillierten Schlussfolgerungen. Da klar war, dass dies ein
antisemitisches Geschmier ist, ist das ja nicht nötig. Tatsächlich war es auch gar nicht nötig, diesen Bericht auch nur
zu lesen.
Die
Öffentlichkeit in all ihren Teilen stand wie ein Mann auf, um das Komplott
zurückzuweisen, wie sie es in Jahrtausenden
der Pogrome, der spanischen Inquisition und des Holocaust gelernt hat.
Eine Belagerungsmentalität, die Ghettomentalität.
Die
instinktmäßige Reaktion in solch einer Situation ist Leugnung. Es ist einfach
nicht wahr. Es hat sich so nie zugetragen. Es ist nur ein Sack voller Lügen.
An
sich ist es eine natürliche Reaktion. Wenn ein Mensch mit einer Situation
konfrontiert ist, mit der er nicht zurecht kommt, ist
Leugnung die erste Zuflucht. Wenn Dinge nicht geschehen, dann muss man sich
nicht mit ihnen auseinandersetzen. Grundsätzlich gibt es keinen Unterschied
zwischen den Leugnern des armenischen Völkermords, den Leugnern der Vernichtung der amerikanischen
Ureinwohner und den Leugnern der Gräueltaten aller Kriege.
Von
diesem Standpunkt aus kann gesagt werden, dass Leugnung fast „normal“ ist. Aber bei uns hat sich dieses Leugnen zu einer Kunstform
entwickelt.
WIR
HABEN eine besondere Methode: wenn etwas geschieht, mit dem wir uns nicht
auseinander- setzen wollen, lenken wir die Aufmerksamkeit auf irgend ein besonderes Detail, etwas völlig
Marginales, und bestehen darauf, darüber
zu diskutieren, prüfen es von allen Seiten, als ginge es um Tod und Leben.
Nehmen
wir den Yom Kippur Krieg. Er brach aus, weil Israel
nach dem Krieg von 1967 ein Narrenschiff geworden war, berauscht von Siegesgesängen, Siegesalben und dem Glauben der
Unbesiegbarkeit der israelischen Armee. Golda Meir
behandelte die arabische Welt mit offener Verachtung und wies die
Friedensannäherungen von Anwar Sadat zurück. Die
Folge davon war , dass mehr als 2000 junge Israelis
getötet wurden, und wer weiß, wie viele Ägypter und Syrer.
Und
was wurde wütend diskutiert? Die „Unterlassung“. „Warum wurden die
Reservesoldaten nicht beizeiten einberufen? Warum wurden die Panzer nicht im voraus in Marsch gesetzt?“ Menachem Begin donnerte in der
Knesset, in Hülle und Fülle wurden Bücher und Artikel darüber geschrieben, und eine juristische Untersuchungskommission wurde
ernannt.
Der
erste Libanonkrieg war eine politische Dummheit
und ein militärisches Versagen. Er dauerte 18 Jahre, führte so zur
Entstehung der Hisbollah und machte diese zu einer regionalen Macht. Und was
wurde diskutiert? Ob Ariel Sharon Begin getäuscht habe und er für
dessen Krankheit und schließlich seinen Tod verantwortlich war.
Der
zweite Libanonkrieg war von Anfang bis Ende eine Schande, ein überflüssiger
Krieg, der eine unglaubliche Zerstörung und wildes Morden verursachte und
Hunderttausende unschuldiger Zivilisten in die Flucht trieb – ohne dass Israel
einen Sieg erlangte. Und worüber wurde debattiert ?
Und wofür wurde eine Untersuchungskommission ernannt? Über die Art und Weise,
wie genau die Entscheidungsabläufe, die zum Krieg geführt hatten, abgelaufen
waren. Gab es einen angemessenen Prozess der Entscheidungsfindung? Gab es eine
geordnete Stabsarbeit?
Über
den Gazakrieg gab es überhaupt keine Debatte, weil
alles ganz und gar perfekt war. Eine
brillante Kampagne. Eine großartige politische und militärische Führung. Wir haben zwar die
Bevölkerung des Gazastreifens nicht überzeugen können, ihre Führer zu stürzen;
es gelang uns zwar nicht, den gefangenen Soldaten Gilad
Shalit zu befreien; die ganze Welt verurteilte uns
zwar – aber wir töteten eine Menge Araber, zerstörten ihre Umwelt und lehrten
sie eine Lektion, die sie nicht vergessen werden.
Nun
sind wir in einer tiefschürfenden Debatte über Goldstones Bericht. Nicht über
seinen Inhalt – Gott bewahre. Was gibt es da zu diskutieren? Über was
also? Über den einen Punkt, der wirklich
wichtig ist: Hat unsere Regierung richtig gehandelt, als sie sich für einen
Boykott der Kommission entschied? Vielleicht wäre es besser gewesen, an seinen
Überlegungen teilzunehmen? Hat unser Außenministerium so töricht wie immer
gehandelt? (Unser Verteidigungsministerium benimmt sich natürlich niemals
töricht). Zehntausende Wörter wurden über diese welterschütternde Frage in die
Zeitungen, das Radio und das Fernsehen
geschüttet, und jeder Kommentator, der noch etwas auf sich hält, gab seinen
Senf dazu.
WARUM
ALSO boykottierte die israelische Regierung die Kommission? Die wirkliche
Antwort ist ganz einfach: sie wussten sehr wohl, dass die Kommission, jede
Kommission, die Schlussfolgerung ziehen würde, die die UN-Kommission zog.
Tatsächlich
sagte die Kommission nichts Neues. Fast alle Fakten waren schon vorher bekannt:
die Bombardements ziviler Wohngebiete, die Anwendung von Flechettes
( Granaten voll kleiner Pfeile) und des
weißen Phosphors gegen zivile Ziele, die Bombardierung von Moscheen und
Schulen, die massive Behinderung von Rettungsmannschaften, bei der Bergung von Verletzten, das Töten von
fliehenden Zivilisten, die weiße Fahnen trugen, die Anwendung von menschlichen
Schutzschilden u.a. Die israelische
Armee erlaubte Journalisten nicht, in die Nähe des Kampfes zu gelangen. Aber
der Krieg wurde weitgehend von internationalen Medien in all seinen Details dokumentiert. Die ganze
Welt sah es in Echtzeit an den Fernsehschirmen. Es gibt so viele
übereinstimmende Zeugnisse, dass jeder vernünftige Mensch seine eigenen
Schlussfolgerungen ziehen kann.
Wenn
die Offiziere und Soldaten der israelischen Armee vor der Kommission Zeugnis
abgegeben hätten, wäre dies vielleicht auch von deren Blickwinkel – der von
Angst, Chaos, Mangel an
Orientierung bestimmt war, zu einem
gewissen Grad beeindruckt gewesen – und die Schlussfolgerungen wären vielleicht
etwas weniger schwerwiegend gewesen. Aber die
wichtigste Schlussfolgerung hätte
sich nicht verändert. Schließlich war die ganze Operation auf der Vermutung
aufgebaut, dass es möglich wäre, die Hamasregierung
im Gazastreifen zu stürzen, in dem man der zivilen Bevölkerung unerträgliches
Leid zufügte. Der Schaden an der Zivilbevölkerung war kein „Kollateralschaden“,
ob vermeidbar oder unvermeidbar, sondern
ein Hauptbestandteil der Operation selbst.
Außerdem
war die gesamte Kriegsführung darauf ausgerichtet, dass für unsere Kräfte möglichst
eine Null-Opfer-Rate dabei heraus kommen sollte – um jeden Preis
sollten eigene Opfer vermieden werden.
Das war die aus dem Zweiten Libanonkrieg gezogene Schlussfolgerung unserer
Armee, die unter der Führung von Gabi Ashkenazi
stand. Die Ergebnisse sprechen für sich selbst: je 200 tote Palästinenser auf jeden einzelnen israelischen Soldaten, der von der anderen
Seite getötet wurde – ein Verhältnis von 1400:6.
Jede
wirkliche Untersuchung hätte unvermeidlich zum selben Schluss kommen müssen wie
die Goldstone-Kommission. Deshalb gab es keinen wirklichen israelischen Wunsch nach einer ernsthaften
Untersuchung. Die „Untersuchungen“, die stattgefunden haben, waren eine Farce.
Die verantwortliche Person, der Armee-Chefadvokat, der Kippa
tragende Brigadegeneral mit Namen Amichai Mandelblit, hatte die Verantwortung für diese Aufgabe. In
dieser Woche wurde er zum Generalmajor befördert. Die Beförderung und der Zeitpunkt sprechen Bände.
ES
WIRD also keine Chance geben, dass die israelische Regierung verspätet eine
wirkliche Untersuchung eröffnen wird, wie dies von israelischen
Friedensaktivisten gefordert wird.
Um
glaubwürdig zu sein, müsste es den Status einer
staatlichen Untersuchungskommission haben, wie sie vom israelischen
Gesetz definiert wird und von einem Richter des Obersten Gerichtes geleitet
sein. Diese Untersuchungen müssten in aller Öffentlichkeit sowohl der
israelischen als auch der internationalen Medien durchgeführt werden. Es
müssten die Opfer, die Bewohner des Gazastreifens, eingeladen werden, um
gemeinsam mit den Soldaten, die am Krieg beteiligt waren, Zeugnis abzulegen. Es
müsste jede der Anklagen, die im Goldstone-Bericht erscheinen, im Detail
untersucht werden. Es müssten die ausgegebenen Befehle und Entscheidungen vom
Stabschef bis hinunter zur Zugebene kontrolliert
werden. Es müssten Berichte der Luftwaffenpiloten und Dronenoperateure
studiert werden.
Diese
Liste genügt, um klar zu machen, dass solch eine Untersuchung nicht
durchgeführt werden kann noch durchgeführt werden wird. Stattdessen wird die
weltweite israelische Propagandamaschine fortfahren, den jüdischen Richter und die, die ihn ernannt haben, zu diffamieren .
Nicht
alle israelischen Anklagen gegen die UN sind grundlos. Warum untersucht die Organisation die
Kriegsverbrechen im Gazastreifen (und im
früheren Jugoslawien und in Darfur – Untersuchungen,
an denen Goldstone als Hauptankläger teilnahm) und nicht auch die Aktionen der
USA im Irak und Afghanistan und der Russen in Tchetchenien?
Aber
das Hauptargument der israelischen Regierung ist, dass die UN eine
antisemitische Organisation und die
Menschenrechtskommission doppelt anti-semitisch sei.
ISRAELS
BEZIEHUNGEN zur UN sind sehr komplex. Der Staat wurde auf Grund einer
UN-Resolution gegründet; und es ist zweifelhaft, ob er genau zu diesem
Zeitpunkt und unter jenen Umständen zustande gekommen wäre, hätte es nicht
solch eine Resolution gegeben. Unsere Unabhängigkeitserklärung gründet sich
hauptsächlich auf diese Resolution. Ein Jahr später wurde Israel als
UN-Mitglied akzeptiert, trotz der Tatsache, dass den damals 750 000
palästinensischen Flüchtlingen nicht erlaubt wurde, zurückzukehren.
Aber
diese Flitterwochen endeten sehr schnell in Verbitterung. Ben Gurion sprach mit
Verachtung über UM-Schmum (UM ist die
hebräische Version von UN, die Vorsilbe
„Schm“
drückt Verachtung aus). Seitdem hat Israel systematisch fast jede
einzelne UN-Resolution, die es betraf, verletzt, und beschwerte sich, dass es eine
„automatische Mehrheit“ der arabischen und kommunistischen Länder gab, die
gegen Israel seien. Diese Haltung wurde
verstärkt, als am Vorabend des Krieges von 1967 die UN-Truppen im Sinai auf
Befehl von Gamal Abd-al-Nassar überstürzt abgezogen
wurden. Und natürlich durch die (später
annullierte) UN-Resolution, dass Zionismus gleich Rassismus sei.
Jetzt
gewinnen diese Argumente wieder an Geltung. Es wird gesagt, die UN sei
anti-israelisch, was (natürlich) antisemitisch bedeutet. Jeder, der im Namen
der UN handelt, ist ein Israelhasser. Zum Teufel mit den UN! Zum Teufel mit dem
Goldstone-Bericht!
Doch
ist dies eine beklagenswerte, kurzsichtige Politik. Die allgemeine
Öffentlichkeit hört weltweit von diesem Bericht und erinnert sich an die
Bilder, die sie während des Gazakrieges auf ihren Fernsehschirmen gesehen hat. Die UN
erfreut sich weltweiter Achtung. Seit der Operation „Geschmolzenes Blei“ ist
Israels Ansehen gesunken, und mit diesem
Bericht wird es noch tiefer sinken. Dies wird praktische Konsequenzen haben –
politisch, militärisch, wirtschaftlich und kulturell. Nur ein Narr – oder ein Avigdor Lieberman – kann dies ignorieren.
Wenn
es keine glaubwürdige israelische
Untersuchung geben wird, wird die
Forderung an den UN-Sicherheitsrat gerichtet werden, die Angelegenheit vor den
Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu bringen. Barack
Obama wird dann entscheiden müssen, ob er solch eine
Resolution mit einem Veto verhindert – ein Schritt, der den USA schweren
Schaden zufügen würde und für das Obama von Israel einen hohen Preis fordern würde.
Wie
schon gesagt wurde: UM-Schmum könnte sich
in ein UM-Bumm
verwandeln.
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert)