Israel Palästina Nahost Konflikt Infos
Die Universität des Terrors
Uri Avnery, 1. April 2017
VOR EINIGEN TAGEN
beging ein Mann im Zentrum von London, einer Stadt, die ich liebe, einen
Terrorakt.
Er überfuhr mehrere Personen auf der Westminster Brücke , stach einen Polizisten
zu Tode und näherte sich den Türen des Parlaments, wo er erschossen wurde. All
dies im Schatten des Turms Big Ben, ein
unwiderstehliches Photo- Ziel.
Es war ein elektrifizierendes weltweites Nachrichtenobjekt. Innerhalb von
Minuten wurde Daesh die Schuld gegeben. Aber als die Wahrheit herauskam,
war der Terrorist ein konvertierter
britischer Bürger, ein Muslim, der in England geboren wurde. Von früher Jugend
an hatte er eine Reihe von kleinen Straftaten begangen. Er war mehrere Male im
Gefängnis gewesen.
Wie wurde ausgerechnet dieses Individum ein religiöser Fanatiker, ein Shahid -
ein Zeuge der Wahrheit Allahs geworden, der sein Leben für die Größe des
Islam opferte? Wie war er ein Straftäter von einer Tat geworden, die Europa
und die Welt schockierte?
BEVOR ICH
versuche, auf diese faszinierende Frage eine Antwort zu geben, bemerke ich noch
eine Wirksamkeit des Terrorismus.
Wie der Terminus des „Terrorismus“ besagt, ist es eine Sache der sich
ausbreitenden Furcht. Es ist eine Methode, um ein politisches Ende zu erreichen,
indem man dem Volk Angst macht.
Aber warum fürchten sich die Menschen so sehr vor Terroristen? Das ist für mich
immer ein Rätsel gewesen, sogar als ich als Junge zu einer Organisation
gehörte, die von den britischen Lehensherren als „terroristisch“ bezeichnet
wurde-
Ich weiß nicht, wie viele Leute bei Straßenunfällen im Vereinigten Königreich
im selben Monat wie die Westminsterattacke zu Tode kamen. Ich vermute, dass die
Zahl sehr viel größer war. Doch die Leute fürchten sich nicht sehr vor
Straßenunfällen. Sie halten sich nicht vom Spaziergang auf der Straße zurück.
Gefährliche Autofahrer werden nicht vorsorglich in Haft gehalten.
Doch eine sehr kleine Anzahl von „Terroristen“ genügt, um eine hysterische
Furcht im ganzen Land, auf ganzen Kontinenten, ja sogar auf dem ganzen Globus
auszulösen.
Großbritannien sollte der letzte Ort in der Welt sein, dieser totalen
irrationalen Furcht zu erliegen. 1940 stand diese kleine Insel gegen den
Koloss des von Nazis eroberten Europa. Ich erinnere mich noch an ein
mitreißendes Poster, das an den Mauern in Palästina befestigt war. Es zeigte
den Kopf von Winston Churchill mit dem Slogan: „ Also dann alleine!“
Konnte ein einziger Terrorist mit einem Wagen und einem Messer dieses Land zum
Fürchten bringen?
Für mich klingt dies verrückt, doch dies ist für mich nur eine Seitenbemerkung.
Meine Absicht hier ist es, ein Licht auf eine Institution zu werfen, an die
wenige Leute denken: ein Gefängnis.
DER WESTMINSTER-Terroristen-Angriff
lässt eine einfache Frage aufkommen: Wie wird ein kleiner Krimineller zu einem
Shahid, der weltweite Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Es gibt viele Theorien, viele von ihnen werden von Experten erhoben, die bei
weitem kompetenter sind als ich. Religiöse Experten. Kulturelle Experten.
Islamistische Experten. Kriminologen.
Meine eigene Antwort ist bei weitem sehr einfach. Es ist das Gefängnis, das
dies tut.
BEWEGEN WIR
uns von Großbritannien und der Religion so weit weg wie möglich. Lasst uns
nach Israel zurückkommen und zu unserer lokalen kriminellen Szene.
Wir hören oft von größeren Verbrechen, die von Leuten begangen wurden, die als
jugendliche Straftäter begannen.
Wie wird eine gewöhnliche Person Chef eines organisierten Verbrechens? Wo hat
er studiert? Nun, am selben Ort wie der britische Jihadist. Oder ein
israelischer Muslim-Jihadist.
Ein Junge hat zu Hause Ärger. Vielleicht hat sein Vater seine geliebte Mutter
regelmäßig geschlagen. Vielleicht ist seine Mutter eine Prostituierte.
Vielleicht ist er ein dummer Schüler gewesen und wurde von seinen Kameraden
verachtet. Irgendeine von Hundert Gründen.
Mit 14 wird der Junge beim Diebstahl ertappt. Nachdem er von der Polizei gewarnt
und entlassen wurde, stiehlt er wieder. Er wird ins Gefängnis gesteckt. Im
Gefängnis adoptiert ihn der respektierteste Verbrecher, vielleicht sogar
sexuell. Er wird immer wieder ins Gefängnis gesteckt und langsam steigt er in
der unsichtbaren Gefängnis-Hierarchie hoch.
Er wird von seinen Mitgefangenen respektiert, er hat Autorität. Das Gefängnis
wird seine Welt, er kennt die Regeln. Er fühlt sich gut.
Als er entlassen wird, wird er wieder ein Niemand. Die Korrektur Behörde
behandelt ihn wie einen Gegenstand. Er sehnt sich danach, in seine Welt
zurückzukehren, an den Ort, an dem er bekannt ist und respektiert.
Er wird nicht ins Gefängnis geschickt,
weil er ein Verbrechen begangen hat. Er begeht ein Verbrechen, um wieder ins
Gefängnis geschickt zu werden.
Er wird selbst ein Verbrecher-Boss. Als er ins Gefängnis zurückkehrt, behandelt
ihn sogar der Direktor wie einen alten Bekannten.
Während der Jahre hat das Gefängnis für ihn wie eine Universität gewirkt, eine
Universität der Verbrechen. Es ist dort, wo er all die Tricks eines Gewerbes
lernte, bis er selbst ein Professor geworden ist.
Der kleine ins Gefängnis gesperrte Muslim-Dieb, mag dort einem gefangenen
Muslim-Prediger getroffen haben, der ihn überzeugte, dass er kein verachteter
Krimineller sei, sondern einer von den wenigen von Allahs Erwählten, um die
Ungläubigen zu zerstören.
ALL DIES
ist alter Stoff. Ich enthülle nichts Neues. Jeder Häftling, jeder höhere
Polizei-Offizier, jeder Gefängnisdirektor oder Psychologe weiß es viel besser
als ich.
Wenn es so ist, wie kommt es, dass keiner etwas dagegen tut? Warum funktioniert
das Gefängnis heute wie vor hundert Jahren?
Ich habe den Verdacht, dass die einfache Antwort folgende ist: Keiner weiß, was
stattdessen getan werden muss.
Die Briten hatten einst eine gute Antwort: sie schickten alle Kriminelle, selbst
kleine Diebe nach Australien. Falls sie nicht schon vorher aufgehängt worden
sind.
Aber in modernen Zeiten ist dieses Hausmittel abhanden gekommen. Australien ist
jetzt eine starke Nation, das unglückliche Flüchtlinge auf entfernte
pazifistische Inseln schickt.
Die Vereinigten Staaten, die mächtigste Weltmacht mit einigen der besten
Universitäten, halten Millionen ihrer Bürger in Gefängnissen, wo sie zu
abgehärteten Kriminellen werden.
Israels Gefängnisse sind zum Platzen voll mit Inhaftierten, viele von ihnen
sind „Terroristen“, die ohne Gerichtsverhandlung dort sind. Dies wird
beschönigend „Präventiv-Haft" genannt – ein Oxymoron.
Wenn man einen Polizei-Offizier über die Logik dieses ganzen Systems fragt,
zuckt er mit seinen Schultern und antwortet – die jüdische Art und Weise - mit
einer anderen Frage: Was kann man sonst
mit ihnen tun?
So hat die Gesellschaft Jahr um Jahr, Jahrhunderte um Jahrhunderte seine
Kriminellen in die Kriminal-Universität geschickt. Studium mit Vollpension und
Ausgaben, die vom Staat bezahlt werden.
Und natürlich hängt eine riesige Armee von Gefängniswärtern, Polizei-Männer und
-Frauen, Experten und Akademiker mit ihrem Lebensunterhalt von diesem System
ab. Alle sind glücklich.
SELTSAM GENUG:
ich war nie im Gefängnis, obwohl ich mehrere Male nahe dran war.
Wie ich schon woanders erzählte, schlug einmal der Ministerpräsident vor, mich
in „Administrativ-Haft“ zu nehmen, ohne Richter, als ausländischen Spion. Dies
war nur von Menachim Begin, dem Führer der Opposition verhindert worden, der
seine Zustimmung verweigerte.
Ein anderes Mal war nach meinem Treffen mit Yassir Arafat während der
Belagerung von Beirut, als die Regierung offiziell den General-Anwalt bat, mich
wegen Verrats zu untersuchen. Der Anwalt, eine nette Person, entschied, ich
hätte kein Verbrechen begangen. Ich hätte keine Grenze illegal überschritten,
weil ich in das belagerte Ost-Beirut von der israelischen Armee als
Zeitungsherausgeber eingeladen war. Es gab also keinen Verdacht, dass ich die
Absicht hatte, die Sicherheit des Staates zu verletzen.
Ich habe also soweit keine persönliche Erfahrung mit dem Gefängnis gemacht. Aber
die Absurdität der ganzen Situation hat mich viele Jahre beschäftigt. Ich hielt
mehrere Reden darüber in der Knesset. Vergebens. Keiner weiß eine Alternative.
Meine verstorbene Frau war eine Lehrerin. Sie weigerte sich
immer, eine höhere Klasse als die zweite zu nehmen. Sie war davon
überzeugt, dass in diesem Alter der Charakter eines menschlichen Wesens schon
voll entwickelt ist.
Wenn es so ist, dann sollten alle Bemühungen sich auf dieses
sehr frühe Alter konzentrieren.
Ich bin mir sicher, dass irgendwo Experimente mit anderen Antworten ausgeführt
werden. Vielleicht in Schweden oder auf der Insel Fiji.
Wäre es nicht höchste Zeit?
(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)