Israel Palästina Nahost Konflikt Infos
Hallelujah, die Welt ist gegen uns!
Uri Avnery,
22.5.10
EINE LOKALE Fernsehstation
berichtete uns in dieser Woche von einer Gruppe Israelis, die an
Verschwörungstheorien glauben.
Sie glauben, dass George W.
Bush die Zerstörung der Zwillingstürme plante, um seine niederträchtigen Pläne
voran zu bringen. Sie glauben, dass die großen pharmazeutischen Gesellschaften
den Schweinegrippenvirus verbreitet hätten, um ihre wertlosen Impfstoffe zu
verkaufen. Sie glauben, dass Barack Obama ein Geheimagent des militärischen
Industriekomplexes sei. Sie glauben, dass dem Trinkwasser
Fluoride beigegeben werden, um Männer zu sterilisieren, damit die
Menschheit um genau zwei Milliarden reduziert wird.
Ich frage mich, warum sie
noch nicht die ruchloseste Verschwörung entdeckt haben: diejenige, die von der
antisemitischen Bande ausgeführt wird, die die Regierung Israels
übernommen hat und sie benützt, um
den jüdischen Staat zu zerstören.
BEWEIS? NICHTS leichter als
das. Man muss nur die Zeitungen lesen.
Zum Beispiel der
Außenminister. Wer außer einem diabolischen Antisemiten könnte ausgerechnet
Avigdor Lieberman für diesen Posten
ernannt haben? Der Job eines Außenministers ist, Freundschaften zu schließen und
die Welt zu überzeugen, dass bei uns alles OK ist. Lieberman arbeitet hart
und geschickt daran, dass Israel
ausnahmslos von allen gehasst wird.
Oder der Innenminister. Er
arbeitet von morgens bis abends, um die Verteidiger der Menschenrechte zu
schockieren und um den schlimmsten
Feinden Israels Munition zu liefern. Kürzlich verhinderte er, dass zwei
Säuglinge nach Israel kommen, weil der Vater schwul ist. Er verhinderte, dass
Frauen zu ihren Männern nach Israel kommen können. Er deportiert Kinder von
Gastarbeitern, die den Staat aufbauen.
Oder der Stabschef. Er
überzeugte die Regierung, die UN-Kommission wegen der Untersuchung der „Cast
Lead“-Operation zu boykottieren, um so sicher zu gehen, dass es keine Reaktion
auf die Anklagen gegen die IDF gibt. Und seit der Veröffentlichung ihres
Berichtes hat er versucht, eine
weltweite Diffamierungskampagne gegen den jüdisch-zionistischen Richter Richard
Goldstone zu orchestrieren.
Nun hat die IDF ihre
Entscheidung angekündigt, die Flotille, die symbolisch Versorgungsgüter in den
belagerten Gazastreifen zu bringen plant, zu blockieren. Es wird sicher
Fernseh-Live-Übertragungen geben, bei der die ganze Welt den kleinen Schiffen
folgt und so ihre Aufmerksamkeit auf die
bösartige Blockade zieht, die seit Jahren gegen 1,5 Millionen Menschen im
Gazastreifen durchgeführt wird. Der Traum jedes Israel-Hassers.
Diese Verschwörung
erreichte ihren Höhepunkt in dieser Woche, als Professor Noam Chomsky die
Einreise in die Westbank verweigert wurde.
FÜR DIESE Affäre gibt es
keine glaubwürdige Erklärung außer einem gemeinen antisemitischen Komplott.
Anfangs dachte ich, dass
dies nur die übliche Mischung von Ignoranz und Torheit sei. Aber ich bin zu dem
Schluss gekommen, dass dies so nicht sein kann. Selbst in unserer gegenwärtigen
Regierung kann die Dummheit nicht solche Proportionen annehmen.
Zusammengefasst geschah
folgendes: der 81-jährige Professor kam auf seinem Weg von Amman
an der Allenby-Brücke über
dem Jordan an. Er wollte in der Universität Birzeit in der Nähe von Ramallah
zwei Vorträge über die US-Politik halten. Natürlich wussten
die israelischen Behörden im voraus über sein Kommen Bescheid. Ein junger
Grenzbeamter stellte ihm ein paar Fragen, kontaktierte seine Vorgesetzen im
Innenministerium, kehrte zurück und stellte noch ein paar Fragen, kontaktierte
noch einmal seine Vorgesetzen und stempelte
in seinen Pass dann die Worte: „Einreise verweigert“.
Und welche Fragen wurden
ihm gestellt? Warum er nicht an
einer israelischen Universität Vorträge halte. Und warum er keinen israelischen
Pass habe.
Der Professor kehrte nach
Amman zurück und vermittelte seine
Vorträge über Video. Der Vorfall
wurde in aller Welt verbreitet, besonders in den USA. Das Innenministerium
entschuldigte sich halbherzig und behauptete,
es sei nicht zuständig
gewesen, es habe in der Verantwortlichkeit des militärischen Koordinators für
die (besetzten) Gebiete gelegen.
Das ist natürlich eine
verlogene Ausrede, da in jüngster Zeit das Ministerium
selbst einigen Leuten, die Sympathie für die Palästinenser zeigten, die
Einreise verweigert hat,
einschließlich des populären
spanischen Clowns.
EINE PERSÖNLICHE
Erinnerung: vor zwölf Jahren hatte ich in London eine hitzige öffentliche
Debatte mit Edward Said, dem verstorbenen palästinensischen Professor.
Nebenbei erwähnte er, dass sein Freund Noam Chomsky gerade
dabei sei, in einer örtlichen Universität einen Vortrag zu halten.
Ich eilte dorthin und sah
rund um das Gebäude eine dichte Menge junger Leute. Mit großer Schwierigkeit
bahnte ich mir einen Weg bis zur Treppe, die zum Hörsaal führte, doch wurde ich
von den Platzanweisern angehalten. Ich bat vergeblich und sagte, ich wäre ein
Freund des Referenten und ich wäre
extra den weiten Weg von Israel
gekommen, um ihn zu hören. Sie sagten mir, dass man
nicht einmal mehr eine Nadel dazwischen fallen lassen könne. So groß war
seine Popularität selbst damals schon.
Noam Chomsky ist vielleicht
der gefragteste Intellektuelle der Welt. Sein Ruf geht weit über sein
akademisches Fach, die Linguistik, hinaus, in dem er als Genie angesehen wird.
Er ist der Guru von Millionen in aller Welt. Die Weltmedien behandeln ihn als
akademische Berühmtheit.
Wenn dem so ist, was hat
dann den Innenminister und/oder den Verteidigungsminister veranlasst, diesen
Mann vier Stunden lang festzuhalten
und dann zurückzuschicken? Eine verheerende Torheit? Böswilligkeit?
Rachsüchtigkeit? Alles das oder vielleicht etwas anderes?
DIESE AFFÄRE hat viele
verschiedene Auswirkungen.
Zunächst ist es vor allem
eine Provokation gegen die palästinensische Behörde, mit der Binyamin Netanyahu
direkte Friedensverhandlungen zu führen wünscht – so sagt er wenigstens. Er
spuckt ihr damit ins Gesicht.
Chomsky kam als Gast von
Mustafa Barghouti, einem palästinensischen
Führer, der Gewaltlosigkeit und Menschenrechte befürwortet. Er kam, um an
einer palästinensischen Universität Vorträge zu halten.
Was geht das
Israel an? Welch eine Chuzpe ist es, die palästinensischen Studenten
daran zu hindern, einen Referenten ihrer Wahl zu hören?
Und was
sagt uns dies über Netanyahus Reden über „Zwei Staaten für zwei Völker“?
Was für ein palästinensischer Staat soll das sein, wenn Israel entscheiden kann,
wer einreisen darf und wer nicht? Besonders
angesichts der Forderung Israels, alle Grenzübergänge im neuen Staat zu
kontrollieren!
ZWEITENS. In der ganzen
Welt ist eine Kampagne in vollem Gang, alle israelischen Universitäten zu
boykottieren. Nicht nur das selbst ernannte „Universitätsinstitut“ in der
Siedlung Ariel und nicht nur die
Bar-Ilan-Universität, die half, es aufzubauen. Alle.
Mehrere Verbände von
Akademikern in Großbritannien und anderen Länden haben Resolutionen angenommen,
um diesen Boykott auszuführen; andere Gruppen sind dagegen. Die
Auseinander-setzung hält an.
Die Gegner des Boykotts
hissen die Flagge der akademischen Freiheit. Wohin geraten wir, wenn wir
Forscher und Denker wegen ihrer
Staatszugehörigkeit oder ihrer
Meinung boykottieren? Der italienische Schriftsteller Umberto Eco hat seinen
Kollegen einen emotionalen Brief gegen den Boykott geschrieben. Auch ich bin
dagegen.
Und jetzt kommt die
Regierung Israels und zieht uns den Teppich unter den Füßen weg. Keiner
behauptet, Chomsky unterstütze Terrorismus oder komme als Spion. Seine Einreise
wurde nur wegen seiner Ansichten verweigert. Dies heißt, dass akademische
Freiheit nur dann gut ist, wenn es
denen dient, die Israel loben und preisen, aber ist nicht mehr wert als eine
Knoblauchzehe (wie man im Hebräischen sagt), wenn sie
von jemandem genützt wird, der
gegen die Politik der israelischen Regierung ist.
Das ist eine direkte
Unterstützung für die Boykotteure. Um so mehr als keine einzige israelische
Universität oder Gruppe von Akademikern ihre Stimme
protestierend dagegen
erhoben hat.
DIE BEHAUPTUNG,
Chomsky sei ein Feind Israels, ist lächerlich.
Er trägt einen
ausgesprochen hebräischen Vornamen, genau wie seine Tochter Aviva, die ihn
begleitete.
Ich traf ihn zum 1. Mal in
den 60ern, als ich ihn in seinem
voll gepfropften Zimmerchen im Massachusetts Institut of Technologie (MIT),
einer der anerkanntesten
akademischen Institutionen in den USA und der Welt, besuchte.
Er sprach mit Nostalgie
über den Kibbutz (Hazorea der linken Hashomer Hazair Bewegung) , wo er in seiner
Jugend ein Jahr lang lebte. Wir tauschten unsere Meinungen aus und kamen zur
Schlussfolgerung, dass die Idee der zwei Staaten die einzige praktische Lösung
sei.
Sein Vorname wurde ihm von
seinen Eltern gegeben , die beide in Russland geboren wurden und in ihrer Jugend
in die USA auswanderten. Die Muttersprache von beiden war Jiddish, aber
sie pflegten zu Hause die hebräische Kultur, und Noam sprach von früher
Kindheit an hebräisch. In der geistigen Welt seiner Jugend waren Sozialismus und
Anarchismus mit Zionismus vermischt. Seine Doktorarbeit
behandelte die hebräische Sprache.
Seit damals verfolgte ich
seine Äußerungen. Niemals fand ich
eine Opposition zur Existenz Israels. Was ich dort fand, war
scharfe Kritik an der Politik der israelischen Regierung – dieselbe
Kritik, die von den israelischen Friedenskräften erhoben wird. Aber er ist weit
kritischer gegenüber den auf
einander folgenden US-Regierungen, deren Politik er als
die Mutter aller Übel ansieht.
Als die beiden Professoren
John Mearsheimer und Stephen Walt ihr revolutionäres Exposé veröffentlichten,
das behauptete, Israel kontrolliere
durch die Israel-Lobby die US-Politik, hat Chomsky ihnen widersprochen und
behauptet, das Gegenteil sei wahr:
es sei die USA, die Israel wegen
seiner imperialistischen Absichten ausnütze, die den wahren Interessen Israels
entgegen stünden.
Was mich betrifft, so glaub
ich, dass beide Thesen richtig sind. Chomskys Behauptung mag durch das
gegenwärtige amerikanische Veto gegen die Fatah-Hamas-Versöhnung veranschaulicht
werden als auch die amerikanische Intervention, die den Gefangenenaustausch
gegen Gilad Shalit verhindert.
Warum also war – um Gottes
willen – diesem Mann die Einreise
versagt worden?
ICH HABE eine Theorie, die
alles erklären mag.
Viele Jahrhunderte lang
wurden Juden im christlichen Europa verfolgt. Antisemitismus machte ihr
Leben zur Hölle. Sie wurden Opfer von Pogromen, Massenvertreibungen,
sie waren in Ghettos eingesperrt, durch
Edikte und Gesetze
unterdrückt und diskriminiert. Im Laufe der Zeit entwickelten sie geistige und
praktische Verteidigungsmechanismen, Methoden zum Überleben und Wege der Flucht.
Seit dem Holocaust hat die
Situation sich radikal verändert. In den USA leben Juden jetzt wie in einem
Paradies – ohne Parallele seit dem Goldenen Zeitalter im muslimischen Spanien.
Als der Staat Israel entstand, zog er weltweite Bewunderung und Sympathie auf
sich.
Das war wunderbar, aber
unter der Oberfläche des nationalen Bewusstseins – wenn man verallgemeinern darf
– stellte sich ein Gefühl der Beklommenheit, der Desorientierung ein. Der
altbewährte Verteidigungsmechanismus, der den Juden ein Gefühl der Orientierung
und Bereitschaft für lauernde
Gefahren gab, brach zusammen. Sie fühlten, dass irgend etwas nicht in Ordnung
sei, dass die wohl bekannten Wegzeichen keine Gültigkeit mehr hatten. Wenn die
Nicht-Juden die Juden lobten oder gar sich mit ihnen verbündeten, dann ist das
verdächtig. Klar, dahinter verbirgt sich etwas Unheimliches. Die Dinge sind
nicht mehr so, wie wir gewöhnt sind. Das ist beängstigend.
Seitdem arbeiten wir
fieberhaft, um die Situation zurückzuholen. Ohne dass es uns bewusst wird, tun
wir alles, um wieder verhasst zu werden, um uns auf dem uns bekannten Grund und
Boden zu Hause zu fühlen.
Wenn es eine Verschwörung
gibt, dann ist es eine Verschwörung von uns selbst gegen uns selbst. Wir werden
nicht ruhen, bis die Welt wieder antisemitisch ist. Dann wissen wir, wie wir uns
verhalten müssen.
So wie das fröhliche Lied
geht: „Die ganze Welt ist gegen uns, aber
zum Teufel …“
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)