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Uri Avnery, 6. Dezember 2014
DIE ISRAELIS
haben genug von Benjamin Netanjahu. Sie haben genug von dieser Regierung.
Sie haben genug von diesen politischen
Parteien. Sie haben von sich selbst genug. Sie haben einfach genug.
Das ist der
Grund für die Auflösung der Regierung in dieser Woche. Sie fiel nicht wegen
eines besonderen Grundes. Sicherlich nicht wegen belangloser Angelegenheiten
wie Frieden oder Krieg, Besatzung,
Rassismus, Demokratie und ähnlichem Unsinn.
Seltsam genug;
denn dies geschah Netanjahu schon früher einmal. Seine erste Regierungszeit
löste sich im Jahr 2000 auf, und das ganze Land
atmete hörbar erleichtert auf. Tatsächlich war das allgemeine Gefühl
eines der Befreiung, als ob ein fremder Eroberer endlich
vertrieben
worden wäre. Wie im Paris 1944.
Als im Jahr
2000 am Abend nach der Wahl verkündet wurde, Netanjahu sei besiegt worden,
brach Begeisterung aus. Zehntausende Bürger waren außer sich und strömten
spontan auf den Hauptplatz von Tel
Aviv, den Rabinplatz, und jubelten dem Retter zu: Ehud Barak, dem Führer der
Labor-Partei. Er verkündete das Morgenrot eines neuen Tages.
Leider stellte
sich heraus, dass Barak ein Soziopath und
ein Egomane, wenn nicht gar ein Größenwahnsinniger war. Er verpasste bei der
Camp-David-Konferenz die Chance des Friedens, und während des Prozesses
zerstörte er die israelische Friedensbewegung fast vollkommen. Die Rechte kam
zurück – diesmal unter Ariel Sharon. Dann unter Ehud Olmert. Schließlich dann
noch einmal.
Und jetzt
wieder? Gott bewahre!
WARUM
BRACH die Regierung in dieser Woche
zusammen?
Es gab keinen
besonderen Grund. Die Minister hatten einfach von einander genug,
und alle hatten von „Bibi“
die Nase voll.
Die Minister
begannen einander und Netanjahu
schlecht zu machen. Der Ministerpräsident selbst beschuldigte seine Minister –
einen nach dem anderen – der Inkompetenz und böser Verschwörungstheorien
gegen ihn. In seiner Schlussrede klagte
er seinen Finanzminister Yair Lapid des Versagens
an – als ob er, der Ministerpräsident nichts damit zu tun hätte.
Die
Öffentlichkeit schaute wie amüsierte oder irritierte Zuschauer zu, als ob sie
dieses ganze Durcheinander nichts anginge.
Nun stehen uns
neue Wahlen bevor.
In diesem
Augenblick sieht es so aus, als wären wir verurteilt, danach eine vierte
Netanjahu-Regierung zu haben, noch schlimmer als die dritte, noch rassistischer,
noch anti-demokratischer, noch friedensfeindlicher.
Außer dass ….
VOR DREI
WOCHEN, als noch keiner den
drohenden Zusammenbruch erwartete, schrieb ich in Ha‘aretz einen Artikel: „Eine
nationale Notregierung.“
Mein Argument
war, dass die Netanjahu-Regierung das Land in die Katastrophe führen würde. Sie
zerstört systematisch alle Chancen für einen Frieden, vergrößert die Siedlungen
in der Westbank und besonders in Ost-Jerusalem, schürt das Feuer eines
Religionskrieges auf dem Tempelberg,
klagte gleichzeitig Mahmoud Abbas und Hamas an. All dies nach dem
überflüssigen Gaza-Krieg, der militärisch unentschieden
und in einer menschlichen Katastrophe
endete, die unvermindert bis heute weitergeht.
Gleichzeitig
bombardiert die Regierung die Knesset mit einem nicht endenden Strom
rassistischer und anti-demokratischer Gesetzesentwürfe, der eine schlimmer als
der vorherige, der in der Gesetzesvorlage gipfelte: „Israel: der Nationalstaat
des jüdischen Volkes“. Ausgelöscht wurde der Terminus: „Jüdischer und
demokratischer Staat“ wie auch das Wort „Gleichheit“.
Zur selben
Zeit streitet sich Netanjahu mit der US-Regierung und beschädigt ernsthaft eine
Beziehung, die die Rettungsleine Israels in allen Angelegenheiten ist, während
sich Europa langsam, aber
sicher, sich Israel gegenüber
mit Sanktionen nähert.
Gleichzeitig
vergrößert sich in Israel die soziale Ungleichheit, die schon
enorm ist und sich immer mehr verbreitet; die Preise sind höher als in
Europa, das Wohnen fast
unbezahlbar.
Mit dieser
Regierung galoppieren wir auf einen
rassistischen Apartheidstaat zu, in Israel selbst und in den besetzten Gebieten
und eilen
in Richtung einer Katastrophe.
IN DIESER
Notlage - schrieb ich -
können wir uns die übliche
Kabbelei der kleinen linken Parteien und
den Parteien der Mitte nicht
leisten; keine gefährdet die rechte
Koalition, die an der Macht ist.
In
einer nationalen Notlage benötigen wir Notmaßnahmen.
Wir müssen
einen vereinigten Wahlblock aller Parteien der Mitte und des linken Flügels
schaffen und keinen außerhalb lassen, ja wenn möglich, die arabischen Parteien
einschließen.
ICH WEISS,
dies ist eine Herkules-Aufgabe. Es gibt sehr große ideologische Unterschiede
zwischen diesen Parteien, ganz zu schweigen von Partei-Interessen und dem
Egoismus der Führer, die in gewöhnlichen Zeiten schon eine sehr große Rolle
spielen. Aber wir leben in außergewöhnlichen Zeiten.
Ich schlug
nicht vor, dass sich die Parteien auflösen
und sich in einer großen
Partei vereinigen sollten. Ich fürchte, dies ist zu diesem Zeitpunkt unmöglich.
Es ist mindestens zu früh. Was vorgeschlagen wird, wäre ein vorübergehender
Wahlblock, die sich auf eine generelle Plattform
des Friedens, der Demokratie, Gleichheit und
sozialen Gerechtigkeit gründet.
Wenn die
arabischen, politischen Kräfte sich dieser Verbindung anschließen könnten, wäre
das wunderbar. Wenn die Zeit noch nicht reif dazu ist, sollten die arabischen
Bürger einen parallelen vereinigten
Block schaffen, der mit dem jüdischen verbunden wird.
Der erklärte
Zweck des Blocks sollte dem
katastrophalen Treiben des Landes
in den Abgrund ein Ende setzen und
nicht nur Netanjahu vertreiben, sondern
die ganze Bande von Siedlern, nationalistischen und rassistischen Demagogen,
Kriegstreibern und religiösen Zeloten.
Es sollte alle Sektoren der israelischen Gesellschaft, Frauen und Männer,
Juden und Araber, Orientalen und Aschkenasim, Säkulare und Religiöse, russische
und äthiopische Immigranten ansprechen. Al jene, die
um die Zukunft Israels
Sorge tragen und entschlossen sind, sie zu retten.
Der Aufruf
sollte zuerst allen existierenden
Parteien zukommen – der Labor-Partei und der Meretz. Yair Lapids „Es gibt eine
Zukunft“-Partei und Zipi Livnis „Die Bewegung“, als auch der neuen werdenden
Partei von Moshe Kalton, der kommunistischen Hadash und den arabischen Parteien.
Es sollte auch um Unterstützung
aller Friedens- und Menschenrechtsorganisationen gebeten werden.
In den
politischen Annalen Israels gibt es ein Beispiel. Als Ariel Sharon
1973 die Armee verließ (nachdem seine
Kollegen beschlossen hatten, ihm nie zu erlauben, Stabschef zu werden), schuf er
den Likud, indem er sich mit Menachem Begins Freiheitspartei, mit den Liberalen
und zwei Splitterparteien vereinigte.
Ich fragte
ihn, welchen Sinn dies hat. Die Freiheitspartei und die Liberalen waren schon
in einer Knessetfraktion verbunden, und die zwei winzigen Parteien
waren zum Scheitern verurteilt.
„Du verstehst
nichts“, antwortete er. „Das
Wichtige ist, die Wähler zu
überzeugen, dass der ganze rechte Flügel jetzt vereinigt ist und keiner
außerhalb ist“.
Begin war
keineswegs begeistert. Aber starker öffentlicher Druck war auf ihn ausgeübt
worden, und so wurde er der Führer. Nach acht Wahlniederlagen
wurde er 1977 Ministerpräsident.
HAT
JETZT ein Mitte-Links-Bündnis eine Chance für Erfolg? Ich bin sehr davon
überzeugt, dass es diese hat.
Eine große
Anzahl von Israelis, jüdische und arabische, sind wegen der politischen
Situation verzweifelt. Sie
verachten alle Politiker und Parteien; sie sehen nur noch Korruption, Zynismus
und Eigeninteressen. Andere sind davon überzeugt, der Sieg des rechten Flügels
sei unvermeidbar. Das herrschende Gefühl ist Fatalismus, Apathie
und Können-wir-noch- etwas-tun?
Eine große
neue Verbindung trägt die
Botschaft: Ja, wir können. Alle zusammen können wir den Karren anhalten und
umdrehen, bevor er den Abgrund erreicht. Wir können die Danebenstehenden in
Aktivisten verwandeln. Wir können
Nichtwähler zu Wählern
machen. Massen von ihnen.
ES BLEIBT nun
noch die Frage, wer wird die Nummer 1 auf der vereinten Wählerliste sein? Dies
ist ein riesiges Problem. Politiker haben ein starkes Ichgefühl. Keiner/keine
von ihnen wird seine oder ihre Ambitionen aufgeben. Ich weiß es. Ich bin dreimal
in meinem Leben da durch gegangen und musste mit meinem eigenen Ego kämpfen.
Die
Persönlichkeit der Nummer 1 hat einen unverhältnismäßigen Einfluss auf die
wählende Öffentlichkeit.
Lasst uns
gestehen: im Augenblick gibt es keine hervorragende Persönlichkeit, die die
natürliche Wahl sein könnte.
Eine einfache
und demokratische Art und Weise wäre,
einer offiziellen Meinungs-umfrage den Vorrang zu geben. Lasst den
Populärsten gewinnen.
Eine andere
Methode wäre, eine allgemeine Vorwahl abzuhalten. Jeder der erklärt, dass er für
die Liste stimmt, wird einen Stimmzettel
abgeben. Es gibt auch andere Möglichkeiten. Es würde eine Tragödie von
historischen Ausmaßen sein, falls
kleinkarierter Ehrgeiz zum Misslingen führen würde.
IN DEN letzten
paar Tagen sind gleichlautende und ähnliche Aufrufe veröffentlicht worden. Es
gibt ein wachsendes Verlangen nach einer vereinigten Nationalen Rettungsfront.
Damit diese
Vision wahr wird, ist öffentlicher Druck nötig. Wir müssen das Zögern und
Zaudern der Politiker überwinden.
Wir brauchen einen ständigen Strom
öffentlicher Forderungen, Petitionen von
wohl bekannten und respektierten kulturellen, politischen,
wirtschaftlichen und militärischen Persönlichkeiten als auch
von Bürgern aus allen Schichten. Hunderte,
Tausende .
Diese
kommenden Wahlen müssen in eine nationale Volksabstimmung
verwandelt werden, eine
klare Wahl zwischen zwei
sehr verschiedenen israelischen Staaten:
Ein
rassistisches Israel der
Ungleichheit, in einen endlosen Krieg verwickelt
und ein weiter zunehmendes Subjekt unter der Herrschaft der orthodoxen
Rabbiner.
Oder ein
demokratisches Israel, das Frieden mit Palästina und der ganzen arabischen und
muslimischen Welt und Gleichheit zwischen allen Bürgern
sucht, unabhängig von Geschlecht, Nation, Sprache
und Gemeinschaft.
Bei solch
einem Wettbewerb – davon bin ich überzeugt – werden wir gewinnen.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom
Verfasser autorisiert)