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Weimar in Jerusalem

 

Uri Avnery, 22. Oktober 2010

 

IN BERLIN ist gerade eine Ausstellung  eröffnet worden :“Hitler und die Deutschen“. Sie untersucht die Gründe und Tatsachen, warum das deutsche Volk Adolf Hitler zur Macht gebracht hat und ihm bis zum letzten Ende folgte.

 

Ich bin zu sehr mit den Problemen der israelischen Demokratie beschäftigt, um jetzt nach Berlin zu fliegen. Schade, weil mich genau diese Frage seit meiner Kindheit  beschäftigt und beunruhigt hat. Wie konnte es geschehen, dass ein zivilisiertes Volk, das sich selbst als „Volk der Dichter und Denker“ bezeichnete, diesem Mann folgte, so wie die Kinder von Hameln dem pfeifenden Rattenfänger folgten, der sie ins Verderben führte.

 

Darüber zerbreche ich mir den Kopf, nicht nur weil es ein historisches Phänomen ist, sondern eine Warnung für die Zukunft. Wenn dies den Deutschen passierte, kann es dann auch jedem anderen Volk geschehen? Kann es hier geschehen?

 

Als neunjähriger Junge war ich Augenzeuge, wie die deutsche Demokratie zusammenbrach und die Nazis zur Macht kamen. Die Bilder haben sich meinem Gedächtnis eingeprägt – die Wahlkampagnen folgten auf  einander, die Uniformen auf der Straße, die Debatten bei Tisch, der Lehrer, der uns zum ersten Mal mit „Heil Hitler!“ begrüßte. Ich habe diese Erinnerungen in einem Buch (auf Hebräisch)  während des Eichmannprozesses wieder aufleben lassen. Es endete mit dem Kapitel: „Kann dies auch hier geschehen?“ In diesen Tagen, während ich meine Erinnerungen schreibe, komme ich  zu diesem Thema wieder zurück.

 

Ich weiß nicht, ob die Berliner Ausstellung versucht, diese Fragen zu beantworten. Vielleicht nicht. Selbst jetzt nach 77 Jahren gibt es auf diese Frage keine endgültige Antwort. Warum brach die deutsche Republik zusammen?

 

Dies ist eine außerordentlich wichtige Frage, weil nun Menschen in Israel mit wachsender Sorge  fragen: Bricht die israelische Republik zusammen?

 

 

ES IST das erste Mal, dass diese Frage mit aller Ernsthaftigkeit gestellt wird.  Wir haben immer vermieden, das Wort Faschismus in der öffentlichen Debatte zu benützen. Es kamen zu monströse Erinnerungen damit hoch. Jetzt ist dieses Tabu gebrochen.

 

Yitzhak Herzog, der Minister für Sozialhilfe in Netanyahus Regierung, ein Mitglied der Labor-Partei, der Enkel eines Oberrabbiners und der Sohn eines Präsidenten, sagte vor ein paar Tagen, dass der „Faschismus die Ränder unserer Gesellschaft berührt“.  Er hat nicht Recht. Faschismus berührt nicht nur die Ränder, es berührt die Regierung, in der er dient und die Knesset, in der er Mitglied ist. 

 

Es vergeht – buchstäblich - kein Tag,  ohne dass Knessetmitglieder eine neue rassistische Gesetzesvorlage vorbringen. Die Öffentlichkeit ist noch gespalten über der Änderung des Gesetzes über die Staatsbürgerschaft, das Bewerber für die Staatsbürgerschaft  zwingen will,  gegenüber „Israel als einem jüdischen und demokratischen Staat“  einen Treueschwur abzulegen. Jetzt diskutieren die Minister darüber, ob dies nur von Nicht-Juden verlangt werden soll (was nicht sehr freundlich klingt) oder auch von  Juden – als ob dies am rassistischen Gehalt etwas ändern würde.

 

In dieser Woche wurde eine neue Gesetzesvorlage eingebracht. Sie würde Nicht-Bürgern verbieten, als Touristenführer in Ost-Jerusalem aufzutreten. Mit Nicht-Bürgern sind Araber gemeint. Denn als Ost-Jerusalem nach dem 1967er-Krieg von Israel annektiert wurde, wurde seinen Einwohnern nicht die Staatsbürgerschaft gegeben. Man gewährte ihnen nur den Status  von „permanenten Bewohnern“, als ob sie erst vor kurzem gekommen  und nicht Nachkommen von Familien seien, die seit Jahrhunderten in der Stadt lebten.

 

Die Gesetzesvorlage beabsichtigt, den arabischen Jerusalemiten das Recht zu nehmen, als Touristenführer die Besucher zu ihren heiligen Stätten  ihrer Stadt zu führen, da sie in der Lage wären, von der offiziellen Propagandalinie abzuweichen. Schockierend? Unglaublich? Nicht in den Augen der Vorschlagenden, die Mitglieder der Kadima-Partei einschließen. Ein Mitglied der Meretz-Partei hatte auch unterzeichnet,  hatte aber die Unterschrift wieder zurückgezogen  - er behauptet, er sei durcheinander  gewesen.

 

Dieser Vorschlag kommt nach Dutzenden von Gesetzesvorlagen dieser Art, die vor kurzem eingebracht wurden, und vor Dutzenden  anderer, die schon auf dem Weg sind. Die Knessetmitglieder handeln wie Haie, die sich darum reißen. Es gibt einen wilden Wettbewerb unter ihnen, wer wohl die rassistischste Gesetzesvorlage bringt.

 

Es lohnt sich. Nach jeder solcher Gesetzesvorlage werden die Initiatoren zu TV-Studios eingeladen, um ihren Zweck zu „erklären“. Ihr Bild erscheint in den Zeitungen. Für obskure  Knessetmitglieder, deren Namen wir nie gehört haben, stellt dies eine unwiderstehliche Versuchung dar. Die Medien arbeiten hier mit.

 

 

DIES IST kein einzigartiges israelische Phänomen. In ganz Europa und Amerika heben Faschisten unverhohlen ihren Kopf. Die Hass-Lieferanten, die bis jetzt ihr Gift an den Rändern des politischen Systems verbreitet haben, kommen nun im Zentrum an.

 

Fast in jedem Land gibt es Demagogen, die ihre Karriere durch Hetze gegen die Schwachen und Hilflosen aufbauen, die der Vertreibung von „Ausländern“ und  der Verfolgung von Minderheiten zustimmen. In der Vergangenheit waren sie leicht abzuweisen, wie man es mit Hitler am Anfang seiner Karriere tat. Jetzt müssen sie ernst genommen werden.

 

Vor nur wenigen Jahren war die Welt erschrocken, als Jörg Haiders Partei  in die österreichische Regierungskoalition aufgenommen wurde. Haider lobte Hitlers Errungenschaften. Die israelische Regierung rief wütend ihren Botschafter aus Wien zurück. Nun ist die holländische Regierung abhängig von  einem erklärten Rassisten, und faschistische Parteien erlangen  in vielen Ländern eindrucksvolle Wahlgewinne. Die „Tea-Party“-Bewegung, die in den USA blüht, hat einige klare faschistische Aspekte. Einer seiner Kandidaten liebt es, in der Uniform der mörderischen Waffen-SS umher zu gehen.

 

Also sind wir in guter Gesellschaft. Wir sind nicht schlechter als andere. Wenn sie dies tun können, warum  sollten wir es nicht auch können?

 

 

ABER DA gibt es einen großen Unterschied. Israel ist nicht in derselben Situation wie Holland oder Schweden. Israels Existenz wird – anders als bei diesen Ländern – vom Faschismus  tatsächlich bedroht. Er kann unser Land in die Zerstörung führen.

 

Vor Jahren glaubte ich, dass Israel zwei Wunder erlebt hat: die hebräische Sprache und die israelische Demokratie.

 

Die Wiederbelebung einer ‚toten’ Sprache  ist nirgendwo gelungen. Theodor Herzl, der Gründer des Zionismus, fragte einmal verächtlich: „Werden die Leute  eine Fahrkarte dann auf Hebräisch kaufen?“ (Er wollte, dass wir deutsch reden.) Heute fährt die hebräische Sprache besser  als die israelische Eisenbahn.

 

Aber die israelische Demokratie ist  sogar ein noch größeres Wunder. Sie wuchs nicht von unten wie in Europa. Das jüdische Volk hatte nie eine Demokratie. Die jüdische Religion ist wie fast alle Religionen  totalitär. Die Immigranten, die ins Land strömten, hatten vorher nie die Erfahrung einer Demokratie erlebt. Sie kamen aus dem zaristischen  oder bolschewistischen Russland, aus Josef Pilsudskis autoritärem Polen, aus dem tyrannischen Marokko und dem Irak. Nur ein unendlich kleiner Teil kam aus demokratischen Ländern. Und doch: von  ihrem frühesten Anfang pflegte die zionistische Bewegung eine beispielhafte Demokratie in ihren Rängen, und der Staat Israel setzte diese Tradition fort (mit einem Unterschied: eine volle Demokratie für Juden, eine  eingeschränkte Demokratie für arabische Bürger.)

 

Ich war immer beunruhigt, dass diese Demokratie nur an einem dünnen Faden hängt, dass wir  jede Stunde, ja, jede Minute aufpassen müssten. Nun steht sie einem noch nie da gewesenem Test gegenüber.

 

 

DIE DEUSCHE Republik trug den Namen von Weimar, wo die konstituierende Versammlung ihre Verfassung nach dem 1. Weltkrieg angenommen hat. Weimar war eine der Wiegen der deutschen Kultur, das Weimar von Bach,  Schiller und Goethe .

 

Es war eine glänzende demokratische Verfassung. Unter ihr sah Deutschland eine noch nie da gewesene intellektuelle und künstlerische Blütezeit vor sich. Warum brach die Republik zusammen?

 

Im allgemeinen werden zwei Gründe genannt: Demütigung und Arbeitslosigkeit. Als die Republik noch in ihren Anfängen steckte, wurde sie gezwungen, in Versailles den Friedensvertrag mit den Siegern des 1. Weltkrieges zu unterzeichnen; es war ein Vertrag, der nur ein demütigender Akt der Niederlage war. Als die Republik mit der Zahlung der riesigen Wiedergutmachungsgelder, die ihr auferlegt worden war, in Verzug  geraten war, überfiel die französische Armee das industrielle Kernland Deutschlands und verursachte eine galoppierende Inflation – ein Trauma, von dem sich Deutschland bis heute nicht erholt hat.

 

Als die Weltwirtschaftskrise 1929 ausbrach, brach die deutsche Wirtschaft zusammen. Millionen verzweifelter Arbeitsloser  gerieten in erbärmliche Armut und  schrieen nach Rettung. Hitler versprach, die Demütigung der Niederlage und die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, und erfüllte beide Versprechen: er gab den Arbeitslosen in der neuen Waffenindustrie Beschäftigung und  durch öffentliche Arbeit wie den neuen Autobahnen Arbeit – auch als Vorbereitung auf den Krieg.

 

Es gab noch einen dritten Grund für den Zusammenbruch der Republik: die wachsende Apathie der demokratischen Öffentlichkeit. Das politische System der Republik wurde verhasst. Während die Leute ins Elend sanken, spielten die Politiker ihre Spiele. Die Öffentlichkeit verlangte nach einem starken Führer, der Ordnung macht. Die Nazis besiegten die Republik nicht. Die Republik implodierte, die Nazis füllten nur die Lücke.

 

 

IN ISRAEL IST keine wirtschaftliche Krise. Im Gegenteil, die Wirtschaft blüht. Israel unterzeichnete kein demütigendes Abkommen, wie den Versailler-Vertrag. Im Gegenteil. Es gewann alle Kriege. Unsere Faschisten reden zwar über die „Oslo-Kriminellen“, so wie Hitler gegen die „November-Verbrecher“ schimpfte; aber das Osloabkommen war das Gegenteil des Versailler-Vertrages, der im November 1919 unterzeichnet wurde.

 

Wenn es so ist, woher kommt dann die schwere Krise der israelischen Gesellschaft?

Wie kommt es, dass Millionen von Bürgern mit vollkommener Apathie das Tun ihrer Verantwortlichen betrachten und  sich damit begnügen, vor dem Fernseher den Kopf zu  schütteln. Was lässt sie nicht zur Kenntnis nehmen, was in den besetzten Gebieten passiert – nur eine halbe Stunde Fahrt von ihnen entfernt?  Warum erklären so viele, dass sie keine Nachrichten hören oder Zeitungen lesen? Woher kommt die Depression und die Verzweiflung, die den Weg zum Faschismus öffnet?

 

Der Staat ist an einen Scheideweg gekommen: Frieden oder ewiger Krieg. Frieden bedeutet die Gründung des palästinensischen Staates und die Evakuierung der Siedlungen. Aber der genetische Kode der zionistischen Bewegung stößt  weiter, um das ganze historische Land bis zum Jordan zu annektieren und  - direkt oder indirekt – die  arabische Bevölkerung zu transferieren. Die Mehrheit der Bevölkerung weicht einer Entscheidung aus, indem sie behauptet: Wir haben keinen Partner für Frieden. Wir sind zum ewigen Krieg verurteilt.

 

Die Demokratie leidet unter einer wachsenden Lähmung, weil die verschiedenen Gruppierungen in verschiedenen Welten leben. Die säkularen, die national-religiösen und die orthodoxen erhalten ganz verschiedene Erziehung. Die  gemeinsame Grundlage schrumpft. Andere Risse vertiefen sich zwischen der aschkenazischen Gemeinschaft und den orientalischen Juden, den Immigranten aus der früheren Sowjetunion und  Äthiopien und den arabischen Bürgern, deren Trennung  vom Rest ständig zunimmt..

 

Zum zweiten Mal in meinem Leben könnte ich Zeuge des Zusammenbruchs einer Republik werden. Aber das ist nicht vorausbestimmt. Israel ist nicht das im Stechschritt marschierende Deutschland jener Tage, 2010 ist nicht 1933. Die israelische Öffentlichkeit kann noch zur Vernunft kommen und demokratische Kräfte in sich mobilisieren.

 

Aber damit dies geschieht, muss es von seinem Koma aufwachen, begreifen, was geschieht und  wohin dies führt, protestieren und mit allen  erreichbaren Mitteln kämpfen (solange es noch möglich ist), um die faschistische Welle aufzuhalten, die  uns zu verschlingen  droht.

 

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)