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„Wie fein sind Deine Zelte“

 

Uri Avnery, 6. August 2011

 

ALS ERSTES eine Warnung.

 

Zeltstädte entstehen überall in Israel. Eine soziale Protestbewegung kommt in Gang. Irgendwann in naher Zukunft kann sie die rechte Regierung gefährden.

 

Zu diesem Zeitpunkt wird es eine Versuchung geben – vielleicht eine unwiderstehliche Versuchung – die „Grenzen brenzlig werden zu lassen“.  einen  niedlichen kleinen Krieg zu beginnen. Die Jugend Israels aufzurufen, die selben jungen Leute, jungen Männer und Frauen, die jetzt in den Zelten leben, um das Vaterland zu verteidigen.

 

Nichts ist leichter als das. Eine kleine Provokation, ein Zug Soldaten überquert die Grenze, „um das Abfeuern von Granaten zu verhindern“, ein Schusswechsel, eine Salve Raketen – und siehe da, ein Krieg. Ende des Protestes.

 

Im September, nur wenige Wochen von jetzt an, beabsichtigen die Palästinenser, sich an die UN zu wenden, um einen Antrag zu stellen, den Staat Palästina anzuerkennen. Unsere Politiker und Generäle leiern unisono, dies werde eine Krise verursachen -  die Palästinenser in den besetzten Gebieten können sich protestierend gegen die Besatzung erheben, gewalttätige Demonstrationen können folgen, die Armee wird gezwungen sein zu schießen – und siehe da, ein Krieg. Ende des Protestes.

 

 

VOR DREI Wochen wurde ich eines Morgens von einer holländischen Journalistin interviewt. Am Ende fragte sie mich: Sie beschreiben eine schreckliche Situation. Die extrem Rechten kontrollieren die Knesset und diese erlässt abscheuliche, anti-demokratische Gesetze. Die Menschen sind gleichgültig und apathisch. Es gibt keine Opposition, über die man reden könnte. Und trotzdem strahlen Sie Optimismus aus. Wie kommt das?

 

Ich antwortete, ich hätte Vertrauen zum israelischen Volk. Im Gegensatz zum äußeren Erscheinungsbild sind wir ein vernünftiges Volk. Irgendwann, irgendwo wird sich eine neue Bewegung erheben und die Situation verändern. Es kann in einer Woche, in einem Monat oder in einem Jahr geschehen. Aber sie wird kommen.

 

Am selben Tag, nur ein paar Stunden später sagte eine junge Frau mit Namen Daphni Liff und einem unwahrscheinlichen Männerhut über ihrem Haar zu sich selbst: „Genug!“

 

Sie war von ihrer Vermieterin rausgeworfen worden, weil sie sich die Miete nicht leisten konnte. Sie stellte ein Zelt im Rothshild-Boulevard auf, einer langen mit Bäumen bepflanzten Durchfahrtsstraße im Zentrum Tel Avivs. Die Botschaft verbreitete sich durch Facebook, und innerhalb einer Stunde wurden Dutzende von Zelten errichtet. Innerhalb einer Woche waren es schon 400 Zelte, die sich in einer Doppelreihe länger als eine Meile lang erstreckten.

 

Ähnliche Zeltstädte wuchsen in Jerusalem, Haifa und einem Dutzend kleineren Städten hoch. Am Samstag schlossen sich Zehntausende einem Protestmarsch in Tel Aviv und anderswo an. Am letzten Samstag waren es mehr als 150 000.

 

Inzwischen sind sie zum Mittelpunkt des israelischen Lebens geworden. Die Rothshild-Zeltstadt hat ein eigenes Leben angenommen – eine Kreuzung zwischen Tahrirplatz und Woodstock mit ein wenig Hyde Park-Ecke mittendrin.

 

Die Stimmung ist unbeschreiblich optimistisch; Massen von Leuten kommen sie besuchen und gehen voller Enthusiasmus und Hoffnung heim. Jeder hat das Gefühl, dass irgend etwas Bedeutendes geschieht.

 

Als ich die Zelte sah, erinnerte mich das an die Worte Bileams, der vom König Moab gesandt wurde, um die Kinder Israels in der Wüste zu verfluchen (4.Moses 24) und stattdessen rief er aus: „ Wie fein sind Deine Zelte, oh Jakob, und deine Wohnungen, Israel!“

 

ALL DIES begann in einer kleinen fernen Stadt in Tunesien, als ein Markthändler ohne Lizenz auf dem Markt von einer Polizistin verhaftet wurde. Anscheinend gab die Frau bei der folgenden Auseinandersetzung dem Mann eine Ohrfeige – eine schreckliche Demütigung für einen tunesischen Mann. Er zündete sich an. Was dann folgte, ist Geschichte: die Revolution in Tunesien, Regimewechsel in Ägypten, Aufstände im ganzen Nahen Osten.

 

Die israelische Regierung sah dem mit wachsender Sorge zu – aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass dies auch eine Wirkung auf Israel haben könnte. Von der israelischen Gesellschaft mit ihrer üblichen Verachtung gegenüber Arabern konnte kaum erwartet werden, dass sie dem Beispiel folgen würde.

 

Aber sie folgte dem Beispiel. Die Leute auf den Straßen sprachen mit zunehmender Bewunderung von den arabischen Revolten. Sie zeigten, dass wenn Leute gemeinsam handeln, sie es auch wagen, sich gegen die Führer zu stellen, die bei weitem ängstlicher sind als unser herumwurstelnder  Binyamin Netanyahu.

 

Einige der populärsten Poster auf den Zelten waren „Rothshild Ecke Tahrir“ und mit  hebräischem Reim „Tahrir – nicht nur Kahir“ (Kahir ist die hebräische Version von al-Kahira, der arabische Name für Stadt.) und auch „Mubarak, Assad, Netanyahu.“

 

Am Tahrir-Platz war der wichtigste Slogan: „Das Volk will das Regime stürzen“. Absichtlich sehr ähnlich heißt der wichtigste Slogan in den Zeltstädten: „Das Volk wünscht soziale Gerechtigkeit!“

 

 

WER SIND diese Leute? Was wollen sie?

 

Es begann mit einer Forderung nach „erschwinglichen Wohnungen“. Die Mieten in Tel Aviv, Jerusalem und anderswo sind extrem hoch, auf Grund der jahrelangen Vernachlässigung durch die Regierung. Doch bald erweiterte sich der Protest auf anderes: die hohen Preise von Nahrungsmitteln und Benzin, die niedrigen Löhne. Die lächerlich niedrigen Gehälter von Ärzten und Lehrern; die Verschlechterung der Dienste im Bildungs- und Gesundheitswesen.

Es gibt ein allgemeines Gefühl, dass 18 Magnaten alles kontrollieren, einschließlich der Politiker. (Politiker, die es wagen, sich in den Zeltstädten zu zeigen, werden weggejagt.) Sie könnten einen Amerikaner zitieren, der sagte: „Demokratie muss mehr sein als zwei Wölfe und ein Schaf, die abstimmen, was sie zum Mittagessen haben werden.“

 

Eine Auswahl von Slogans gibt einen Eindruck:

Wir wünschen einen Sozialstaat.

Kampf um die Wohnung.

Gerechtigkeit, nicht Barmherzigkeit.

Wenn die Regierung gegen das Volk ist, dann ist das Volk gegen die Regierung.

Bibi, dies ist nicht der US-Kongress, du wirst uns nicht mit leeren Worten kaufen.

Wenn ihr euch nicht unserm Krieg anschließt, dann werden wir nicht in euren Kriegen kämpfen.

Gib uns unsern Staat zurück.

Drei Partner mit drei Gehältern können drei Räume nicht bezahlen.

Sei praktisch, verlange das Unmögliche.

Die Antwort auf Privatisierung: Revolution.

Wir waren in Ägypten Sklaven  -  in Israel sind wir Bibis Sklaven. –

Ich habe keine andere Heimat.

Bibi, geh heim, wir werden dir das Benzin zahlen.

Stürzt den Schweine-Kapitalismus.

 

 

WAS FEHLT in dieser Reihe von Slogans? Natürlich die Besatzung, die Siedlungen, die riesigen Ausgaben für das Militär.

 

Dies geschieht mit Absicht. Die Organisatoren, anonyme junge Männer und Frauen – hauptsächlich Frauen – sind sehr entschlossen, nicht als „Linke“ gebrandmarkt zu werden. Sie wissen, wenn die Besatzung genannt wird, würde dies Netanyahu eine leichte Waffe liefern, die Zeltbewohner spalten und die Proteste scheitern lassen.

 

Wir in der Friedensbewegung wissen und respektieren dies. Wir alle üben strenge Zurückhaltung, damit Netanyahu es nicht gelingt, die Bewegung an den Rand zu drücken und sie als Plot herauszupicken, die die rechte Regierung stürzen will.

 

Wie ich in einem Artikel in Haaretz schrieb: es ist nicht nötig, die Demonstranten zu stoßen. Zu gegebener Zeit werden sie selbst zu der Schlussfolgerung kommen, dass das Geld für die größeren Reformen, die sie fordern, nur durch den Baustopp der Siedlungen kommen kann und einer Kürzung des riesigen Militärbudgets von Hunderten von Milliarden – und dass dies nur im Frieden möglich ist. (Um ihnen zu helfen, veröffentlichten wir ein großes Inserat, das sagte: „ Es ist ganz einfach – Geld für die Siedlungen ODER Geld für Wohnungen, Gesundheits- und Bildungsdienste“)

 

Voltaire sagte: „Die Kunst der Regierung besteht darin, soviel wie möglich Geld von der einen Klasse Bürger zu nehmen und dieses der anderen zu geben.“  Diese Regierung nimmt das Geld von anständigen Bürgern und gibt es den Siedlern.

 

 

WER SIND diese begeisterten Demonstranten, die anscheinend von nirgendwoher kamen?

 

Sie sind die junge Generation der Mittelklasse, die arbeiten gehen und ein durchschnittliches Gehalt mit nach Hause bringen, das aber nicht bis zum Monatsende reicht. Mütter, die nicht arbeiten gehen können, weil sie ihre Babys nirgendwo unterbringen können. Universitätsstudenten, die keinen Raum in einem Dormitorium haben und sich kein Zimmer in der Stadt leisten können. Und besonders junge Leute, die heiraten wollen und sich keine Wohnung kaufen können, nicht einmal mit Hilfe ihrer Eltern. (An einem Zelt konnte man lesen: „Sogar dieses Zelt wurde von unsern Eltern bezahlt“.)

 

All dies bei einer blühenden Wirtschaft, der die Pein der weltweiten wirtschaftlichen Krise erspart blieb und die sich rühmt, eine beneidenswerte Arbeitslosenrate von nur 5% zu haben.

 

Wenn  man sie bedrängen würde, würden die meisten Demonstranten sich selbst als „Sozial-Demokraten“ bezeichnen. Sie sind das ganze Gegenteil der Tea-Party in den USA: Sie wünschen einen Wohlfahrtstaat, sie geben der Privatisierung die Schuld für ihre Nöte, sie wollen, dass die Regierung sich einmischt und handelt. Ob sie es zugeben wollen oder nicht, das Wesentliche ihrer Forderungen und ihrer Haltung ist klassisch links. (der Terminus wurde in der Französischen Revolution geschaffen, weil die Anhänger dieser Ideale auf der linken Seite des Präsidenten der Nationalversammlung saßen.) sie sind das Wesen dessen, was man mit Links meint – (Obgleich die Termini „Linke“ und „Rechte“ in Israel bis jetzt weitgehend mit Fragen von Krieg und Frieden identifiziert worden sind.)

 

 

WOHIN WERDEN wir von hier aus gehen?

 

Niemand kann es sagen. Als Tschu Enlai nach der Auswirkung der Französischen Revolution gefragt wurde, sagte er das berühmte Wort: „Es ist zu früh, darüber etwas zu sagen.“ Hier sind wir Zeugen eines Ereignisses, das noch im Gange ist, vielleicht gar erst beginnt.

 

Es hat schon einen riesigen Wandel geschaffen. Seit Wochen haben die Öffentlichkeit und die Medien aufgehört, über Grenzen, die iranische Bombe und die Sicherheitssituation zu sprechen. Stattdessen wird jetzt fast nur über die soziale Situation, den geringen Lohn, die Ungerechtigkeit der indirekten Steuern, die Krise im Wohnungsbau gesprochen.

 

Unter Druck hat die strukturlose Führung des Protestes eine Liste von konkreten Forderungen zusammengestellt. Unter anderem: das Bauen von Miethäusern durch die Regierung, Steuern von den Reichen und von Körperschaften, kostenlose Erziehung ab dem Alter von drei Monaten, Erhöhung des Gehaltes von Ärzten, Polizisten und Feuerwehrleuten, Schulklassen sollten nicht mehr als 21 Schüler haben, Monopole die von wenigen Magnaten kontrolliert werden, sollten gebrochen werden usw.

 

Also wohin geht es von hier? Es gibt viele Möglichkeiten, gute und schlechte.

 

Netanyahu kann versuchen, mit einigen kleineren Konzessionen den Protest zu bestechen – einige Milliarden hier, einige Milliarden dort. Dies wird die Demonstranten vor die Wahl des kleinen indischen Jungen im berühmten Film stellen, der ein Millionär werden wollte: das Geld, das er schon gewonnen hatte, nehmen oder alles riskieren und noch eine andere Frage beantworten.

 

Oder: die Bewegung fährt fort und gewinnt an Fahrt und erzwingt größere Veränderungen, um die Bürde zu verändern: statt indirekte direkte Steuern.

 

Einige verrückte Optimisten (wie ich) mögen sogar vom Auftauchen einer neuen authentischen politischen Partei träumen, die die klaffende Leere auf der linken Seite des politischen Spektrums füllt.

 

 

ICH BEGANN mit einer Warnung, und ich sollte mit einer anderen enden: Diese Bewegung hat riesige Hoffnungen geweckt. Wenn sie fehl schlägt, wird sie eine Atmosphäre der Mutlosigkeit und Verzweiflung hinterlassen – eine Stimmung, die jene, die es können , hinaustreiben, um woanders ein besseres Leben zu versuchen.

 

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser  autorisiert)