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Eine
Jereminade
Uri Avnery, 1.8.09
LIEBER
DOV YEREMIYA
Ich
habe einen Besorgnis erregenden Brief erhalten, den Du an wenige
Freunden geschickt hast. Du malst die israelische Realität in dunklen –
aber wahren – Farben und schließt damit, da Du Deine Verbindungen mit diesem
Staat abbrechen willst:
„Als
95Jähriger Sabra (ein in Israel geborener Jude), der
seine Felder gepflügt, seine Bäume gepflanzt, ein Haus gebaut und Söhne, Enkel
und Urgroßenkel aufgezogen und auch sein Blut in der Schlacht bei der
Staatsgründung vergossen hat,
deshalb
erkläre ich, dass ich meinen Glauben an den Zionismus, der gescheitert ist,
aufgebe, dass ich gegenüber dem jüdisch-faschistischen Staat und seinen wahnsinnigen Visionen nicht loyal
sein werde, dass ich seine Nationalhymne nicht mehr singen werde, dass ich nur
noch an den Gedenktagen für die Gefallenen beider Seiten in den Kriegen still
stehen werde und dass ich mit einem gebrochenen Herzen auf Israel schaue, das
Selbstmord begeht, und auf die drei Generationen meiner Nachkommen, die ich
gezeugt und aufgezogen habe.“
ALS
ICH dich, Dov, das erste Mal vor etwa fünfzig Jahren
kennen lernte, habe ich Dich immer als das Salz der Erde angesehen. Du wurdest
in einem Dorf als Sohn eines Bauern geboren, Du warst ein Kämpfer im Krieg von
1948 und später warst du ein Oberst in der Armee, ein bescheidener Mann, eine
durch und durch moralische Person.
Während
des ersten Libanonkrieges hast Du die Brutalitäten, die den palästinensischen
Flüchtlingen im Raum Tyros-Sidon angetan wurden,
aufgedeckt. Und Dein mutiger Bericht schockierte mich nicht weniger als jener
über das Sabra und Shatila-Massaker.
Du zögertest nicht, das Schweigen zu brechen wie die „Breaking
the Silence“-Gruppe junger Soldaten es jetzt getan
haben. Du wusstest, dass deine Kollegen im Offizierskorps Dich exkommunizieren
würden.
Du
bist ein Mann ganz nach meinem Herzen, Dov. Deshalb
haben mich Deine Worte so sehr betroffen gemacht.
Ich
denke, es ist wichtig, die Stellungnahme eines Mannes von Deinem Kaliber mit
jenen in unserm Lager zu teilen, die schlaflose Nächte verbringen und sich über
die Situation unseres Staates Sorgen machen.
DU
HAST am Anfang Deines Briefes die Gründer der zionistischen Bewegung erwähnt.
‚Wenn
Herzl heute zurückkommen und sehen würde, was jene tun, die behaupten, die
Fahne des Zionismus zu tragen, er würde sofort, unglücklich und schockiert in
sein Grab zurückfliehen. So würden es auch Chaim Weizman und die meisten der
Pioniere, die Väter und Mütter meiner Generation, tun. Sie waren Menschen mit
Gewissen und Moral , die an dem Grundsatz festhielten,
dass Menschen anständig und ehrlich sind.
Du
widmest den größten Teil Deiner erbitterten Anklagen der israelischen
Behandlung der Palästinenser. „Seit 42 Jahren verwandelte Israel das, was
Palästina gewesen sein sollte, in ein gigantisches Gefängnis und hält dort ein
ganzes Volk unter einem unterdrückerischen und grausamen Regime gefangen – mit
dem einzigen Ziel, sein Land wegzunehmen – egal, was geschieht.
„Die
IDF unterdrückt mit der aktiven Unterstützung der Siedlerbande ihre Versuche
des Widerstandes mit brutalen Mitteln einer raffinierten Apartheid, einer
erwürgenden Blockade, unmenschlicher Schikanen gegenüber Kranken und Frauen in
Wehen, der Zerstörung ihrer Wirtschaft und des Diebstahls ihres besten Landes
und Wassers.
„Über
all diesem weht die schwarze Flagge einer beängstigenden Verachtung für das
Leben und Blut der Palästinenser. Israel wird der schreckliche, ja,
haarsträubende Blutzoll, besonders der Kinder nie vergeben werden.“
Aber
ich glaube, dass die abgrundtiefe Verzweiflung, die aus Deinen Worten klingt,
auch noch andere Wurzeln hat. Es ist ein Gefühl, das die Herzen vieler in
Deiner /meiner Generation bewegt, das Gefühl, dass „sie unsern Staat gestohlen
haben, dass es keine Ähnlichkeit zwischen dem von uns erträumten Staat gibt,
für den wir kämpften, und zwischen dem,
was heute seinen Platz eingenommen hat.
WENN
ICH an unsere Jugend - an Deine und
meine – denke, dann kommt mir immer wieder eine Szene in Erinnerung: das
Dalia-Festival 1947.
Zehntausende
junger Männer und Frauen saßen auf dem Abhang eines Hügels in einem natürlichen
Amphitheater in der Nähe des Kibbuz Dalia auf dem Karmel.
Angeblich war es ein Volkstanzfest, aber in Wirklichkeit war es viel mehr –
eine große Feier der neuen hebräischen Kultur, die wir in diesem Lande damals
gerade schufen. Der Volkstanz spielte dabei eine große Rolle. Die Tanzgruppen
kamen vor allem aus den Kibbuzim und den Jugendbewegungen. Die Tänze waren
echte hebräische Neuschöpfungen, vermischt mit russischen, polnischen,
jemenitischen und chassidischen Tänzen. Eine Gruppe Araber tanzte die Debka und geriet in Ekstase und tanzte und tanzte.
Mittendrin
während des Ereignisses kündeten Lautsprecher an, dass Mitglieder der
UN-Untersuchungs-Komission zu uns kommen würden. Sie
war von der internationalen Organisation gesandt worden, um über die Zukunft
des Landes zu entscheiden. Als wir sahen, wie sie das Amphitheater betraten,
erhoben sich die Zehntausende und begannen spontan die Nationalhymne „Hatikwa“ mit einer
Leidenschaft zu singen, die aus den umgebenden Bergen widerhallte.
Wir
wussten damals noch nicht, dass innerhalb eines halben Jahres der große
hebräisch-arabische Krieg ausbrechen würde – der Krieg der Unabhängigkeit für
uns und der Nakba für sie. Ich bin davon überzeugt,
dass die meisten der 6000 jungen Leute, die im Krieg auf unserer Seite fielen,
als auch die Tausende, die verwundet wurden – wie Du und ich – in diesem
Augenblick in Dalia dabei waren, sich sahen und mit einander sangen.
An
welchen Staat dachten wir damals? Was für einen Staat waren wir im Begriff
aufzubauen?
Was
ist mit der hebräischen Gesellschaft, der hebräischen Kultur, der hebräischen
Moral, auf die wir damals so stolz waren, geschehen?
JA,
WIR schufen einen Staat. Wie es im alten Lied heißt: „Auf dem Schlachtfelde
steht jetzt eine Stadt“. Wir haben Millionen in dieses Land geholt. Aus einer
hebräischen Gemeinschaft von 650 000 sind wir zu einer Bevölkerung von 7,5
Millionen geworden. Eine vierte und fünfte Generation spricht Hebräisch als
Muttersprache. Unsere Wirtschaft blüht und ist solide, sogar in diesen
Krisenzeiten. Auf mehreren Gebieten sind wir in der ersten Reihe menschlicher Bestrebungen.
Aber
ist dies die Gesellschaft, ist dies der Staat, den wir mit unserm inneren
Auge am Tag seiner Gründung sahen? Ist
dies die Armee, der Du und ich am Tag ihrer Gründung die Treue schworen?
Träumten
wir von dieser korrupten Gesellschaft, einer Gesellschaft ohne Mitleid, in der
eine Handvoll sehr Reicher mit einer großen Bande Politiker und Medienleute und
anderen Lakaien, die im Staub ihrer Füße kriechen, die Fülle des Landes
genießen?
Träumten
wir von einem Staat, der ein isoliertes und gemiedenes Ghetto in der Region ist
und der über einem unterdrückten palästinensischen Ghetto innerhalb eines
Ghettos waltet.
Es
gab Zeiten, in denen wir überall in der Welt mit Stolz erklären konnten ’Ich
bin ein Israeli’. Heute kann das niemand mehr. Der Name Israels ist unten
durch. Seit dem Gazakrieg, in dem unsere Armee über
Männer, Frauen und Kinder „Geschmolzenes Blei“ ausgegossen haben, vermeiden
viele Israelis in den Straßen ausländischer Städte, hebräisch zu sprechen und
die IDF gaben die Order heraus, die Gesichter mancher Offiziere – die denselben
Rang wie Du haben – auf Bildern in den
Medien zu verwischen.
WIE
KONNTE das geschehen?
Es
ist nicht meine Absicht, mit Dir eine Diskussion über die Grundlagen des
Zionismus zu beginnen, über die positiven wie die negativen. Wir werden
vielleicht nicht übereinstimmen. Noch werde ich der Frage nachgehen, ob
wirklich alles erst1967 mit dem berauschenden und korrumpierenden Sieg begann,
oder ob die Saat des Verhängnisses schon früher gesät wurde. In einem Punkt
stimme ich mit Dir ganz überein: dass der fatale Schritt damals am Morgen nach
jenem Krieg getan wurde, als wir noch die Wahl hatten zwischen dem glänzenden
Gold des Friedens und dem unedlen Metall der Annexion und wir die Hände nach
letzterem ausstreckten.
Mein
persönliches Gewissen ist sauber. Ich bin stolz darauf, dass ich einer der
wenigen im Lande war und die einzige Stimme in der Knesset, die noch während
des Krieges vorschlug, die gerade besetzten Gebiete dem palästinensischen Volke
zu übergeben, damit es in die Lage versetzt wird, sich seinen eigenen Staat
aufzubauen. Diese einmalige Gelegenheit wurde verpasst, wie Du in Deinem Briefe
schreibst, wegen der Gier der Gründer der Siedlungsbewegung, den Verfechtern
von Groß-Israel.
Von
da an ging es abwärts wie in einer griechischen Tragödie bis dahin, wo wir
heute stehen: mit einer gemischten Bande von Siedlern, Rassisten,
Nationalisten, messianischen Zeloten und gewöhnlichen Faschisten, die die
Verantwortung für den Staat übernommen haben und die die Knesset in einen
Zirkus verwandeln, den Obersten Gerichtshof untergraben, die Armee zersetzen,
obskure religiöse Gesetze aufzwingen, die die Finanzen hemmungslosen Magnaten
übergeben, die das Bildungssystem mit
primitiven nationalistischen Indoktrinationen verseuchen, arme
Asylsuchende verfolgen, die nationale Minderheit unterdrücken und militärische
Attacken planen, die Tod und Zerstörung über zivile Bevölkerungen bringen.
Das
ist der Staat, den Du verabscheust. Darüber werde ich nicht mit Dir streiten.
Dies
ist der Staat, der Dich zum Verzweifeln bringt. Darüber will ich mit Dir reden.
DU
TRÄGST den Namen des Propheten, der mir am nächsten ist, Jeremia,
der Prophet des Zorns, der ausrief: „Wehe mir, meine Mutter, dass du mich
geboren hast, gegen den jedermann hadert und streitet im ganzen Lande …
jedermann flucht mir.“ (Jer.15,10)
Aber
Jeremia war nicht nur ein Ankläger, sondern auch ein
Heiler: „ …das du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen
und pflanzen.“ (Jer.1,10)
Du,
Dov, hast in diesen Staat zu viel investiert, als
dass Du ihm jetzt zornig und verzweifelt . den Rücken zukehren kannst. Der abgedroschenste Slogan in Israel ist auch wahr: „Wir haben
keinen anderen Staat!“
Andere
Staaten der Welt sind in Tiefen der Verderbnis gesunken und haben
unaussprechliche Verbrechen begangen, weit über unsere schlimmsten Sünden
hinaus, und brachten sich selbst zurück
in die Familie der Nationen und retteten ihre Seelen.
Wir
und alle Mitglieder unserer Generation, die unter jenen waren, die diesen Staat
gründeten, tragen eine schwere Verantwortung für ihn. Eine Verantwortung
gegenüber unsern Nachkommen, gegenüber jenen Unterdrückten dieses Staates,
gegenüber der ganzen Welt. Dieser Verantwortung können wir nicht entfliehen.
Selbst
in Deinem respektablen Alter und vielleicht gerade deswegen und dem, was Du
vertrittst, musst Du ein Kompass für die jungen Leute sein und ihnen sagen:
Dieser Staat gehört euch und ihre könnt ihn verändern, erlaubt den
nationalistischen Verderbern nicht, dass sie ihn euch
stehlen!
Es
stimmt, vor 61 Jahren hatten wir einen anderen Staat im Sinne. Jetzt, nachdem
er dorthin abgestürzt ist, wo er heute ist, müssen wir uns an diesen anderen
Staat erinnern und jeden täglich daran erinnern, wie der Staat aussehen sollte,
was er sein könnte und nicht erlauben, dass dieser wie ein Traum verschwindet.
Unterstützen wir alle Bemühungen, ihn zu reparieren und zu heilen!
Du
hast der Botschaft des Jeremia, dem Propheten des
Zorns, eine Stimme geliehen. Ich bitte Dich, gib Jeremia,
dem Propheten der Hoffnung, auch eine Stimme.
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)