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Uri
Avnery, 23. April 2016
IM JAHR
1975
wurde ich an der Tür meiner Wohnung mit einem Messer in die Brust
verletzt. Der
Täter verfehlte mein Herz um Millimeter.
Er
wurde von einer mutigen Nachbarin festgehalten und verhaftet. Es schien so, als
ob er keine politischen Motive hatte – er war verärgert, weil ich ein Abhörgerät
in seinen Kopf gepflanzt hatte.
Während ich im Krankenhaus war, erhielt ich aus London einen Anruf. Es war vom
Vertreter der PLO, er übermittelte mir die besten Wünsche von Yasser Arafat.
Ein
paar Minuten später kam ein Besucher: General Rehavam Se’evi, unter dem
Spitznamen Gandhi bekannt, ein extrem Rechter, kam mich besuchen. Das
Krankenhaus-Personal war aus allen Wolken gefallen.
„Welche Pistole hast du“,
fragte er. Ich sagte ihm, dass es eine Webley
sei, ein britischer Dienstrevolver.
„Sehr schlecht“, urteilte er.„ der Hammer ist zu groß und exponiert. Wo trägst
du ihn?“ Ich sagte ihm, dass ich ihn gewöhnlich in meinem Gürtel trage.
„Noch schlimmer“, bemerkte er. „Bevor du ihn herausziehst, bist du tot.“
Er
zeigte mir seine Waffe. Es war ein spezieller Revolver, der für Leibwächter
produziert wurde – ein Colt mit einem verkürzten
Hammer, der nicht aus dem Körper des Revolvers
ragt. „Du musst ihn immer in deiner Hand tragen“, ermahnte er mich.
Das tat ich dann auch. !5 Jahre lang hatte ich immer den Revolver in meiner
Hand, außer in der Wohnung und im Büro. Ich entwickelte eine besondere Art und
Weise, ihn zu verbergen, während meine Finger am Trigger waren. Keiner hat
jemals etwas geahnt.
Nach 15 Jahren, als ich mein Magazin Haolam Hazeh
aufgab, ging ich zur Polizei und gab meine
beiden Revolver als Geschenk ab.
IN
DIESER
Woche erinnerte ich mich an diese Geschichte, als ein TV-Programm eine
Untersuchung über Se‘evi brachte, die
enthüllte, dass er ein Mörder von Gefangenen war, ein Serien-Vergewaltiger, ein
Mitarbeiter prominenter Unterwelt-Figuren.
Das
ist sehr unangenehm, weil die Knesset vor ein paar Jahren ein besonderes Gesetz
verabschiedet hat, um das „Erbe“ von Se’evi zu „verewigen“.
Warum,
um
Himmels willen? Nun, er war ein Mann der extremen Rechten. Als Yitzhak Rabin,
ein Mann der moderaten Linken, von einem Juden ermordet wurde, wurde ein Gesetz
für ihn verabschiedet. Die Rechte wollte auch einen Märtyrer haben. Sie wählten
Se’evi, der vor 15 Jahren von Arabern ermordet wurde.
Das
TV-Programm verursachte Kopfschmerzen. Was sollte man jetzt tun? Einen Mörder
von Gefangenen und einen Vergewaltiger weiter zu „verewigen“? Das Gesetz
annullieren? Keiner weiß es. Und da sind wir jetzt.
TATSÄCHLICH WAR
in den TV-Enthüllungen wenig Neues für mich.
Meine Beziehungen zu dem Mann waren immer auf
verschiedenen Ebenen. Politisch waren wir polare Gegner. Persönlich gehörten wir
zur selben Gruppe, wir waren Kämpfer im 1948er Krieg.
Die
Beziehungen zwischen uns begannen 1953, als eine Gruppe von Jugendlichen mich
nach Mitternacht auf der Straße vor meinem Büro angriff. Ich war gerade in
meinen überdachten Jeep gestiegen, als sie mich mit Spatenstöcken angriffen. Es
gelang ihnen nicht, mich aus dem Auto zu zerren, aber brachen mir die Finger an
beiden Händen.
(Dies hatte eine glückliche Folge. Da ich nicht in der Lage war, die
elementarsten Dinge zu verrichten, kam ein Mädchen, das ich kaum kannte, eine
Woche zu mir, um mir zu helfen. Ihr Name war Rachel, und sie blieb bei mir, bis
sie – 58 Jahre später - starb).
Die
Frage war, wer hat die Angreifer geschickt? Meine erste Vermutung war Ariel
Sharon, der Kommandeur der „Einheit 101“, die gerade ein schreckliches Massaker
in einem arabischen Dorf
mit dem Namen Qibija begangen hatte. Mein
Magazin hatte diesen Akt verurteilt.
Eine andere Vermutung war der Shin Bet, der Geheimdienst, dessen Chef einen
pathologischen Hass auf mich hatte.
Doch dann erhielt ich eine geheime Botschaft von Se’evi, die mir sagte, dass es
Moshe Dayan war, der dafür verantwortlich war. Er warnte mich, vorsichtig zu
sein. Se’evi war ein Schwager eines Mitarbeiters. Dayan, der durch und durch ein
Araberkämpfer war, war schon mein Todfeind.
REHAVAM
SE’EVI
war ein Kind seiner Zeit. Selbst sein Spitzname
war typisch: Zu einer Gymnasium-Feier hatte er sich einmal in ein Bettlaken
gehüllt, das ließ ihn wie der hoch verehrte
indische Führer aussehen. Sein Spitzname ist an ihm hängen geblieben. Se’evi,
ein Mann der Gewalt par excellence,
war natürlich das ganze Gegenteil von Gandhi.
Als
Teenager schloss er sich einer halb-geheimen zionistischen Untergrundmiliz, der
Palmach, an. Im 1948er Krieg war er Soldat wie wir alle und wegen seines Mutes
bekannt aber nicht mehr. Später als Bataillonsführer 1951 nahm er an der
Schlacht von Tel-Mutilla gegen die Syrer teil, die eine Katastrophe war. Seitdem
kommandierte er keine Truppe mehr, aber kletterte stetig die Kommando-Leiter
hoch – in erster Linie wegen seines Organisationstalentes, denke ich.
Er wurde als unzuverlässig und undiszipliniert angesehen. Einmal wurde er
angehalten, als er versuchte, die Jordangrenze zu überqueren mit dem Ziel, einen
Soldaten zu befreien, der dort gefangen worden war.
Er
war ein Mitglied des hervorragenden Generalstabs unter dem Kommando von Rabin,
der 1967 den tollen Sieg, des „Sechstage-Kriegs“ gewann, aber leitete keine
Truppe. Aber nach dem Krieg als Kommandeur der zentralen Front nahm er an vielen
Menschenjagden teil.
Diese Menschenjagden wurden eine Art Sport. Araber aus der Westbank, die während
des Krieges über den Jordan geflohen waren, versuchten, nachts wieder nach Hause
zurückzukehren. Viele wurden
aus dem Hinterhalt von der Armee gefangen. Der
Frontkommandeur sollte nicht dort sein, aber Gandhi machte es Spaß, dabei zu
sein, er lud sogar seine zivilen Freunde dazu ein, Schauspieler, Sänger und
andere Bohemians - um mit ihm in seinem Helikopter zu sein. Diejenigen, die er
gefangen nahm, wurden sofort getötet.
Als geschockte Soldaten mir das berichteten, schrieb ich Rabin, der noch immer
Stabschef war. Bei einem geheimen Briefwechsel versprach er mir, zu
intervenieren.
In
dieser Zeit war ich ein Knesset-Mitglied. Wenn ein konkreter Fall eines von
Se’ewi begangenen Mordes mir bekannt wurde, überreichte ich einen „formellen
Antrag“
gegen ihn. Dieser wurde einer geheimen Kommission
übergeben. Bald danach erhielt ich einen geheimen Bescheid vom neuen Stabschef,
Haim Barlev, der als anständiger Offizier sehr respektiert war. Er informierte
mich, dass eine Untersuchung stattgefunden hatte, dass in diesem Fall nicht
Se’evi, sondern ein anderer Offizier der Täter war, dieser aber schon gefallen
war.
SEINEM
SPEZIELLEN
Talent der Selbst-Publizität verdankte Se’evi seine Berühmtheit. In dieser „Zeit
der Torheit“, wie ich die verrückten sechs Jahre zwischen dem glorreichen 1967er
„Sechstage-Krieg“ und dem verheerenden 1973er Yom Kippur-Krieg, nannte,
wurden hochrangige Armee-Offiziere wie halbe Götter
behandelt. Se’evi s Possen waren berühmt. Eine von ihnen war eine lebendige
Löwin, die sein Hauptquartier zum Entzücken seiner berühmten Besucher schmückte.
Es
war in dieser Zeit, als seine sexuellen Beziehungen mit Soldatinnen
bekannt wurden, ohne viel Widerstand zu
erregen. Bei der Veröffentlichung der letzten Woche spielte dies eine große
Rolle. Mehrere Frauen sagten aus, Se’evy hätte sie sexuell bedrängt. Einige
wurden von ihm brutal vergewaltigt.
Die Haltung gegenüber Vergewaltigung hat sich in Israel währen d der Jahre
radikal verändert. Unter den Männern der 1950er und 1960er Jahre wurde dies eher
als Witz betrachtet.
„Wenn sie Nein sagte, was meinte sie damit?“ fragte ein berühmtes Lied. Die
gewöhnliche Ansicht unter den Männern war, dass die Mädchen „es wirklich
wünschten“, aber anderweitig um des Scheins willen so tun mussten, als ob.
Es
wurde in der Armee gewöhnlich akzeptiert, dass Offiziere das Recht hatten, mit
ihren weiblichen Untergeordneten Sex zu haben. Es war eines der Privilegien des
Dienstgrades. In mittelalterlichen Zeiten erfreuten sich Adlige des „Rechtes des
Herrn" oder des „ius primae
noctis“,
das Recht, Sex mit lokalen Frauen in ihrer Hochzeitsnacht zu haben. (Die
Richtigkeit dieser Geschichte ist zweifelhaft).Offiziere glaubten, solch ein
Recht zu haben. Ein berühmtes Sprichwort, das von einem Luftwaffenkommandeur
geprägt wurde, sagte : „Die besten Männer fürs Fliegen, die besten Frauen für
den Flieger“.
Als
ich in der Armee war, fiel mir die große Anzahl von Soldatinnen auf, die keine
wirkliche Aufgabe hatten, außer Kaffee für ihren Offizier zu machen. In Israel
werden Frauen genau so eingezogen wie Männer. Als ich Verleger des Haolam Hazeh
Magazins wurde, war einer meiner ersten Artikel, die Abschaffung der Einziehung
von Frauen zu fordern. Gebt ihnen einen adäquaten Lohn und eine nette Uniform,
schrieb ich, und ihr werdet genug freiwillige Frauen für die wirkliche Arbeit
haben.
Als ich diesen Artikel dem militärischen Zensor eingereicht hatte, sandte der
Stabschef den Armeesprecher zu mir und drohte mir, alle Beziehungen zu meinem
Magazins abzuschneiden, falls ich diesen Artikel veröffentlichen würde. Ich
veröffentlichte ihn natürlich und die Armee kaufte während der nächsten 40 Jahre
keine einzige Ausgabe des Magazins. (Trotzdem blieb es weitestgehend das
populärste Magazin in der Armee.)
Die
übliche Atmosphäre in der Armee erklärt, warum Se’evi all das tun konnte, was
von den Opfern in dem TV-Bericht erzählt wurde. In der Zeit, als dies geschah,
waren die Frauen zu ängstlich oder schämten sich, dies zu erzählen.
SE’EVI
HATTE
überhaupt keine Chance, Stabschef zu werden und (oder „so“) verließ die Armee.
Er widmete sich seiner anderen großen Passion: der Liebe zum Land. Gewöhnlich
ist „Liebe zum Land“ eine leere Phrase. Im zionistischen Sprachgebrauch ist es
ein abstrakter Terminus für Nationalismus. Aber für Gandhi war es eine sehr
reale Angelegenheit eine Zuwendung an das wirkliche Land, jede einzelne Gegend,
seine Geschichte und seine Gegenwart.
Das
ist es, wo wir uns trafen, metaphorisch. Ich glaube, dass die gemeinsame Liebe
zu diesem Land, ob es Palästina heißt oder Erez Israel, zu einem starken Band
zwischen den beidem Völkern werden kann. Dafür müssen beide Seiten vom frühen
Alter an auf die Geschichte des Landes im Ganzen sehen – die Kanaaniter, die
Philister, die Israeliten, die Samaritaner, die Juden, die Griechen, die Römer,
die Byzantiner, die Araber, die Kreuzfahrer, die Mameluken, die Ottomanen, die
Palästinenser, die Zionisten, die Briten, die Israelis, und all jene dazwischen
als eine einzige fortlaufende Geschichte.
Ich
hatte einen Partner bei diesen Bemühungen: Se’evi. Er wurde zum Direktor einer
kleinen Tel Aviver Institution ernannt - dem „Museum des Landes“, welches mit
seinem Organisationstalent bald zu einer bedeutenden Institution wurde. Er
wechselte auch ihren Namen in „Museum von Erez Israel“. Es feierte alle Phasen
dieser Geschichte des Landes.
Se’evi
schrieb auch eine Anzahl ausgezeichneter Bücher über verschiedene Teile des
Landes. Er sandte mir eine Kopie von jedem mit herzlicher Widmung.
EIN SEHR
anderer Teil seines komplizierten Charakters war seine besondere Liebe zur
Unterwelt.
Während der 70er Jahre begannen die Polizei und die Medien über „organisierte
Verbrechen“ in Israel zu reden. Es betraf hauptsächlich den Schmuggel von harten
Drogen. Einige der Führer waren auch Leute, die den Tel Aviver Bohemien Kreisen
bekannt waren. Se’evi war ihnen behilflich.
Eines Tages wurden zwei Unterwelt-Figuren von ihren Rivalen ermordet. Die
Polizei hatte Anrufe abgehört, die an jenem Abend von diesen verdächtigen
Mördern an Se’evi gemacht wurden. Sie baten ihn, schnell zu kommen. Er hatte
versprochen, dies zu tun.
Eine wütende Debatte begann über Se’evis Rolle bei dieser Affäre. Mein Magazin
war dabei, darüber zu berichten, als ich einen dringenden
Anruf von Se’evi erhielt, der mich bat, sich
mit ihm sofort zu treffen. Ich lud ihn ein, in meine Wohnung zu kommen.
„Die Wahrheit ist, dass ich an diesem Abend ein Mädchen treffen sollte, um mit
ihr Sex zu haben“, vertraute er mir, „ich benützte meine Freunde als ein Alibi.
Aber wenn du dies veröffentlichst, dann würde sich meine Frau von mir scheiden
lassen.°
Ich
glaubte ihm kein Wort. Aber ich veröffentlichte es nicht.
AM ENDE
wandte Se‘evi sich der aktiven Politik zu. Sein Slogan
war der „freiwillige Transfer“, was bedeutete, dass eines Tages all die
Millionen Araber in den besetzten Gebieten und vielleicht auch die in Israel
selbst, das Land verlassen werden als Gegenleistung für eine gute Entschädigung.
Da kein vernüftiger Mensch ihm glaubte, wurde es von jedem verstanden, dass eine
Massenvertreibung durch Gewalt gemeint war. Vor ihm hatte der ausgesprochen
faschistische Meir Kahane Ähnliches vorgeschlagen und wurde vom
Obersten Gericht aus der Knesset ausgewiesen.
Aber Kahane wurde ein neuer Immigrant aus den US, ein Ausländer und allgemein
verachtet. Se’evi war ein 100%iger Israeli. Seine faschistischen Ideen wurden
toleriert.
Er
fungierte in der Knesset 12 Jahre lang und wurde zum Minister für Tourismus
ernannt. Er lebte in einem Hotel im besetzten Ost-Jerusalem.
Als ein wirklich maskuliner Mann verzichtete er
auf Leibwächter, die andere Minister hatten. Eines Tages ermordeten ihn einige
im Hotel beschäftigte Araber.
ALLES
ZUSAMMEN
genommen war „Gandhi“ ein ewiger Teenager, in einer sehr israelischen Version
eines Jugendlichen. Mit seiner Brille sah er eher wie ein Student aus, denn als
Soldat.
Einmal sprach ich mit Yitzhak Rabin, seinem früheren Kommandeur, über ihn. Rabin
sprach mit Verachtung über ihn, aber akzeptierte ihn als „einen von uns“.
Das Gesetz machte ihn zu einem nationalen Helden mit einem besonderen „Tag der
Erinnerung“, an dem alle Schüler des Landes verpflichtet sind, „sein
Vermächtnis“ zu studieren.
Nun, das war von Anfang an lächerlich, und jetzt ist es absolut grotesk.
(dt.
Ellen Rohlfs vom Verfasser autorisiert)