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Der neue Protest
Uri Avnery, 19.
Mai 2012
DER RABIN-PLATZ in Tel Aviv hat
viele Demonstrationen gesehen, aber keine war
wie die am letzten Samstag.
Sie hat nichts mit dem Ereignis
zu tun, das ihm den Namen gab: Die riesige Rallye für Frieden , an deren Ende
die Ermordung Yitzhak Rabins war. Diese Rallye war in jeder Hinsicht anders.
Es war ein fröhliches Ereignis.
Dutzende von NGOs, viele von ihnen klein, einige von ihnen etwas größer, jede
mit einer anderen Agenda, kamen zusammen, um den sozialen Protest des letzten
Jahres wieder aufzunehmen. Aber es war keineswegs eine Fortsetzung des
„israelischen Frühlings“ des letzten Jahres.
Der Aufstand des letzten Jahres
war ganz ungeplant. Eine junge Frau, Daphni Leef, konnte ihre Miete nicht zahlen
und stellte ein kleines Zelt auf den Rothshild-Boulevard, ein fünf-
Minuten-Spaziergang vom Rabin-Platz entfernt. Sie hatte offensichtlich den
richtigen Ton getroffen, weil innerhalb von Tagen Hunderte von Zelten auf dem
Boulevard und überall im Land aufgebaut wurden. Er endete in einer sehr großen
Demonstration, die „der Marsch der halben Million“ genannt wurde, der zur
Bildung
einer Regierungskommission führte, die eine Liste von Anregungen erstellte, um
die soziale Ungerechtigkeit zu mildern. Nur ein kleiner Teil von ihnen wurde
realisiert.
Das ganze Unternehmen nannte sich
„unpolitisch“; es wies Politiker jeder Art zurück und weigerte sich resolut,
sich mit einem nationalen Problem, wie z.B. Frieden ( was ist das denn?),
Besatzung, Siedlungen und Ähnlichem zu befassen.
Alle Entscheidungen
wurden von einer anonymen
Führung, die sich um Daphni gruppierte, getroffen. Einige Namen wurden bekannt,
andere nicht. Die Massen, die sich ihnen anschlossen,
waren mit ihren Vorschlägen einverstanden.
NUN NICHT MEHR. Die neue
Initiative dieses Jahres hat offensichtlich keine Führung. Es gab keine zentrale
Tribüne, keinen Hauptsprecher. Sie ähnelt dem Londoner Hyde Park Corner, wo
jeder auf einen Stuhl klettern und
sein oder ihr Evangelium predigen kann. Jede Gruppe hat ihren eigenen Stand, wo
ihre Flugblätter ausgehängt waren, jede hatte ihren eigenen Namen, ihre eigene
Agenda, ihre eigenen Redner und ihre eigenen „Guides“ (da wir sie nicht Führer
nennen sollten).
Da der Platz groß ist und die
Zuhörerschaft auf einige Tausend kam, funktionierte es. Viele verschiedene – und
einige widersprüchliche – Versionen sozialer Gerechtigkeit wurden befürwortet:
von einer Gruppe, die sich „Revolution der Liebe“ nannte (jeder sollte jeden
lieben) bis zu einer Gruppe von Anarchisten (alle Regierungen sind schlecht,
auch Wahlen sind schlecht).
Sie stimmten nur in einem Punkt
überein: sie waren alle „unpolitisch“, alle schraken vor den Tabuthemen
(s. oben) zurück.
Gideon Levy nannte die Szene
„chaotisch“ und wurde unmittelbar von den Protestierenden
angegriffen, die ihm vorwarfen,
dass ihm das Verständnis fehlt, (wahrscheinlich sei er zu alt, um dies zu
verstehen). Chaos sei wunderbar. Chaos sei wirkliche Demokratie. Es gebe dem
Volk seine Stimme zurück. Es gibt dort keine Führer, die den Protest stehlen und
ihn für eigene Zwecke und Egos ausnützen würden. Es ist die Art und Weise, wie
sich die neue Generation selbst ausdrückt.
ALL DIES erinnert mich an eine
glückliche Periode – an die 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts, als noch fast
niemand dieser Demonstranten geboren war oder gar „in der Planungsphase“ war
(wie Israelis es gerne ausdrücken).
Zu jener Zeit war Paris von einer
Leidenschaft für soziale und politische Demonstrationen ergriffen. Es gab keine
gemeinsame Ideologie, keine einigende Vision einer neuen Sozialordnung.
Im Odeon-Theater ging Tag für Tag
eine endlose und
ununterbrochene Debatte weiter , während außerhalb Demonstranten Pflastersteine
auf die Polizisten warfen, die sie
mit bleiernen Säumen ihrer Mäntel schlugen. Jeder war begeistert; es war klar,
eine neue Epoche der menschlichen Geschichte hatte begonnen.
Claude Lanzmann, der Sekretär von
Jean-Paul Sartre und Liebhaber von Simone de Beauvoir und
der später bei dem
Monumentalfilm „Shoa“ Regie führte, beschrieb mir die Atmosphäre so: „Die
Studenten verbrannten die Autos auf den Straßen. An den Abenden parkte ich
meinen Wagen an entfernten Plätzen. Aber eines Tages sagte ich zu mir: Was zum
Teufel brauch ich einen Wagen? Lasst sie ihn
verbrennen!“
Aber während die Linke redete,
sammelte die Rechte ihre Kräfte unter Charles de Gaulle, eine Million Rechte
marschierte auf den Champs Elisées. Der Protest verlief im Sande und ließ nur
ein vages Verlangen nach einer besseren Welt zurück.
Der Protest war nicht auf Paris
beschränkt. Sein Geist infizierte
viele andere Städte und Länder. Im unteren Manhattan herrschte die Jugend
unangefochten. Provokative Poster wurden in den Straßen
des „Village“ verkauft, junge Männer und Frauen trugen humorvolle
Abzeichen an ihrer Brust.
Im Großen und Ganzen hatte die
vage Bewegung vage Ergebnisse. Ohne eine konkrete Agenda gibt es auch keine
konkreten Ergebnisse. De Gaulle stürzte einige Zeit später aus anderen Gründen.
In den USA wählte das Volk Richard Nixon. Im öffentlichen Bewusstsein änderte
sich manches, aber nach all dem revolutionären Gerede gab es keine Revolution.
BEI DER Samstagsrallye ging die
junge Daphni Leef und ihre Kameraden kaum bemerkt durch die Menge wie ein Relikt
aus der Vergangenheit. Nach nur einem Jahr schien es, als ob eine neue
Generation die neue Generation vom Vorjahr übernehmen
würde.
Es ging nicht darum, dass sie
nicht in der Lage waren, sich um eine gemeinsame Agende
zu einigen – es ging eher darum, dass sie nicht den Vorteil sahen oder
gar die Notwendigkeit, eine gemeinsame Agenda, eine gemeinsame Organisation,
eine gemeinsame Führung zu haben. All dies sind in ihren Augen
schlechte Dinge, Attribute des alten, korrupten, diskreditierten Regimes.
Weg mit ihnen!
Ich bin nicht ganz sicher, was
ich darüber denken soll.
Einerseits mag ich es sehr. Neue
Energien werden frei. Eine junge Generation, die egoistisch, apathisch und
keineswegs gleichgültig schien, zeigt plötzlich, dass sie sich Sorgen macht.
Seit Jahren habe ich meine
Hoffnung ausgedrückt, dass die jungem Leute etwas Neues schaffen – mit einem
neuen Wortschatz, neuen Definitionen, neuen Slogans, neuen Führern, die
sich total von den heutigen
Parteistrukturen und Regierungskoalitionen trennten
- einem Neubeginn. Der Beginn der
zweiten israelischen Republik.
Also sollte ich glücklich sein,
während ich auf einen wahr werdenden Traum schaue.
Und tatsächlich bin ich glücklich
über diese neue Entwicklung. Israel benötigt
notwendige soziale Reformen. Die Kluft zwischen sehr Reichen und sehr
Armen ist unerträglich. Eine breite neue Sozialbewegung, auch mit großen
Verschiedenheiten ist eine gute Sache.
Soziale Gerechtigkeit ist eine
linke Forderung und ist es immer
gewesen. Eine Demonstration, die schreit: „Das Volk verlangt soziale
Gerechtigkeit“ ist links, auch wenn sie dieses Stigma meidet.
Aber die hartnäckige Weigerung,
die politische Arena zu betreten und keine politische Agenda zu erklären, ist
schlecht. Das könnte bedeuten, dass
alles im Sande verläuft, genau wie die Bemühungen des letzten Jahres.
Wenn die Demonstranten darauf
bestehen, sie seien unpolitisch –
was verstehen sie darunter ? Wenn das bedeutet, sie
identifizieren sich selbst nicht mit einer bestehenden politischen
Partei, dann kann ich nur applaudieren.
Wenn es nur ein taktischer Trick ist, um Leute aus allen bestehenden
Lagern anzuziehen, applaudiere ich auch. Aber wenn es
eine ernsthafte Entscheidung ist, die politische Schlacht den anderen zu
überlassen, muss ich es verurteilen.
Soziale Gerechtigkeit ist ein
klares politisches Ziel. Es bedeutet u.a. das Geld von einer Sache wegzunehmen
und es sozialen Zwecken zukommen zu lassen. In Israel bedeutet es unvermeidlich,
das Geld sowohl vom riesigen Militärbudget zu nehmen, als auch
von den Siedlungen, von der Unterstützung, die als Bestechung an die
Orthodoxen gezahlt wird und von den
parasitären Magnaten.
Wo kann dies geschehen? Nur in
der Knesset. Um dorthin zu kommen, ist eine politische Partei nötig. Also muss
man politisch sein. Punkt.
Ein unpolitischer Protest, der
die brennenden Fragen unserer
nationalen Existenz vermeidet, ist etwas, das nichts mit der Realität zu tun
hat.
Letztes Jahr verglich ich den
sozialen Protest mit einer Meuterei an Bord der Titanic. Man könnte dies noch
erweitern. Man stelle sich das wunderbare Schiff auf seiner Jungfernfahrt mit
all den lebendigen Aktivitäten an
Bord vor. Die Band bittet darum,
alle altmodische Musik von Mozart und Schubert wegzulassen und durch harte
Rockmusik zu ersetzen. Anarchisten verlangen, dass der Kapitän entlassen wird
und wählen jeden Tag einen neuen
Kapitän. Andere verlangen, die Schiffsübungen zu streichen – eine lächerliche
Übung auf einem „unsinkbaren“ Schiff – und stattdessen sportliche Übungen
anzubieten. Auch sollte der skandalöse Unterschied zwischen der ersten Klasse
und den
andern Passagieren gestrichen werden etc.
Alles gute Forderungen.
Aber irgendwo auf dem Weg
lauert ein Eisberg.
Israel steuert auf einen Eisberg
zu, auf einen größeren als einer von denen, die auf dem Weg der Titanic
schwammen. Er ist nicht verborgen. Alle seine Teile sind von weitem sichtbar.
Und wir segeln geradewegs mit Volldampf auf ihn zu. Wenn wir den Kurs nicht
ändern, wird sich der Staat Israel selbst zerstören – er wird sich erst in ein
Apartheidstaats-Monster vom Mittelmeer bis zum Jordan verwandeln und später
vielleicht in einen binationalen Staat mit arabischer Mehrheit vom Jordan bis
zum Mittelmeer. Bedeutet das, dass wir unsern Kampf für soziale Gerechtigkeit
aufgeben müssen? Gewiss nicht. Der Kampf für soziale Solidarität, für bessere
Erziehung, für verbesserte medizinische Dienste, für die Armen und Behinderten
muss jeden Tag, jede Stunde, weitergehen .
Bedeutet das auch, dass dieser
Kampf ein Teil des weiteren Kampfes
sein muss – politisch und ideologisch –
für die Zukunft Israels, für das Ende der Besatzung, für Frieden.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)