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Die neue Welle
Uri
Avnery, 17. Juni 2017
ALS ICH
jung war, gab es einen Scherz: „Es gibt keinen Zweiten wie du – Gott sei Dank.“
Der
Scherz gilt jetzt Donald Trump. Er ist einzigartig. Das ist tatsächlich gut.
Aber ist
er wirklich einzigartig? Ist er
ohne Parallele als weltweites Phänomen oder wenigstens in der westlichen Welt?
Als
Charakter ist Trump wirklich einmalig. Es ist äußerst schwierig, sich
vorzustellen, dass in irgendeinem anderen westlichen Land jemand wie er als sein
oberster Führer gewählt wird. Aber abgesehen von seiner besonderen
Persönlichkeit ist Trump einzigartig?
VOR DEN
US-Wahlen passierte etwas in Britannien: die Brexit-Wahl.
Das
britische Volk, eines der vernünftigsten auf der Erde, stimmte demokratisch zu,
die Europäische Union zu verlassen.
Das war
keine vernünftige Entscheidung. Um ehrlich zu sein, es war idiotisch.
Die
Europäische Union ist eine der größten Erfindungen der Menschheit. Nach vielen
Jahrhunderten interner Kriegsführungen, einschließlich der beiden Weltkriege mit
unzähligen Millionen von Verlusten herrscht schließlich und endlich ein
vernünftiger Geist vor. Europa wurde eins. Zunächst wirtschaftlich, dann langsam
geistig und politisch.
England
und später Britannien war in viele dieser Kriege verwickelt. Als große Seemacht
und weltweites Empire profitierte es von diesen. Seine traditionelle
Politik war, Konflikte anzustiften und die Schwächeren gegen die
Stärkeren zu unterstützen.
Diese
Zeiten sind vergangen. Das Empire
(einschließlich Palästina) ist nur noch Erinnerung. Britannien ist jetzt eine
mittelrangige Macht wie Deutschland und Frankreich. Es kann nicht für sich
alleine stehen. Aber es entschied sich dafür.
Warum,
um Gottes willen? Keiner weiß das sicher. Wahrscheinlich war es eine
vorübergehende Stimmung. Ein Anfall von Groll.
Eine Sehnsucht nach den guten alten Zeiten, als Britannien die Wellen
beherrschte und Jerusalem in Englands grünem und wohltuenden Land baute. (Es
gibt nicht viel Grünes und Angenehmes um das wirkliche Jerusalem.)
Viele
scheinen zu glauben, dass wenn es eine zweite Runde gegeben hätte, dann würden
die Briten umgekehrt sein. Aber die Briten glauben nicht an zweite Runden.
IRGENDWIE WURDE
die Brexit-Wahl als ein scharfer Ruck nach rechts betrachtet. Und kurz danach
gab es die amerikanische Wahl für Trump.
Trump
ist ein Rechter. Ein sehr rechter Rechter. Zwischen ihm und der rechten
Wand gibt es nichts, außer vielleicht seinem Vitze (in beiden Bedeutungen
des Wortes: vice bedeutet im
Englischen auch Laster) )
Zusammengefasst: die britischen und amerikanischen Wahlen schienen darauf
hinzuweisen, dass es eine weltweite Welle von rechten Siegen gibt. In vielen
Ländern lassen Rechte und komplette Faschisten siegesgewiss ihre Muskeln
spielen. Marine Le Pen spürte den nahen Sieg, und ihre Äquivalenten in vielen
Ländern von Holland bis Ungarn hofften dasselbe.
Die
Geschichte hat solch politische Wellen vorher gekannt. Da war die Welle, die von
Benito Mussolini nach dem 1. Weltkrieg begann, der das alte römische Bündel
(Fascus) nahm und dies in einen internationalen Terminus verwandelte. Nach dem
2. Weltkrieg gab es die kommunistische Welle, die den halben Globus übernahm,
von Berlin bis Shanghai.
Und
jetzt war es die große Welle des rechten Flügels, die dabei ist, die Welt zu
überschwemmen.
Und dann
geschah etwas völlig Anderes.
NICHTS SCHEINT
so stabil zu sein wie das politische System Frankreichs mit seinen alten
etablierten Parteien, die von einer Klasse alter erfahrener Partei-Bonzen
geführt wird.
Und da
- wer hätte das gedacht – erscheint ein
Nobody, ein praktisch unbekannter
Nicht-Politiker, der mit der Hand das ganze Schachbrett sauberwischt.
Sozialisten, Faschisten und jeder dazwischen wird hinweggefegt.
Der neue
Mann heißt Emmanuel Macron (Emmanuel ist ein guter hebräischer Name und bedeutet
„Gott mit uns“). Er ist für einen Präsidenten sehr jung (39), sehr gut
aussehend, sehr unerfahren, abgesehen von einer kurzen Arbeitsperiode als
Wirtschaftsminister. Er ist auch ein zuverlässiger Unterstützer der Europäischen
Union.
Schrullige Parteifunktionäre beschwichtigen sich selbst: Es wird nicht lange
dauern. Aber dann kamen die
französischen Parlamentswahlen und die Flut wurde zum Tsunami. Ein Ergebnis fast
ohne Präzedenz: schon in der ersten Runde gewann Macrons neue Partei eine
erstaunliche Mehrheit, die sicher in der zweiten Runde
wachsen wird.
JEDER MUSS
noch einmal denken. Macron war offensichtlich das ganze Gegenteil
der neuen Rechten Welle. Nicht nur was die europäische Einheit betraf,
sondern was auch fast alles andere
betraf. Ein Mann des Zentrums; er ist eher links als rechts. Eine bescheidene
Person – verglichen mit dem amerikanischen Trump. Ein
Fortschrittlicher, verglichen mit der britischen May.
Ah,
Theresa May
Was ist
in sie gefahren? Nach der Brexit-Wahl
mit einer angenehmen
Mehrheit an die Macht gekommen, war sie unruhig. Scheinbar wollte sie beweisen,
dass sie selbst eine noch größere Mehrheit erlangen könnte.
So etwas geschieht bei Politikern. Also rief sie neue Wahlen aus.
Selbst
ich Ärmster mit meiner begrenzten Erfahrung hätte ihr sagen können, dass dies
ein Fehler war. Aus einem Grund:
die Leute mögen keine unzeitigen Wahlen. Es ist wie ein Fluch der Götter. Man
ruft, man verliert.
May
verlor ihre Mehrheit. Kein klarer Koalitionspartner war in Sicht. Also ist sie
gezwungen, die Unmöglichsten vom rechten Flügel zu umwerben: die nordirischen
Protestanten, mit denen verglichen Trump fortschrittlich ist: keine
Rechte für Lesben, keine Abtreibungen, nichts. Arme May.
Wer war
der große Sieger? Der Unwahrscheinlichste der unwahrscheinlichen Personen:
Jeremy Corbyn (Noch einer mit einem guten hebräischen Vornamen.
Jeremias war ein großer biblischer Prophet).
Corbyn
ist ein so unwahrscheinlicher Beinah-Gewinner wie man ihn sich kaum vorstellen
kann. Ultra-Links, ultra-alles. Viele Mitglieder seiner eigenen Partei verachten
ihn. Aber er gewann fast alle Wahlen. Auf jeden Fall machte er es für Theresa
May unmöglich, wirksam zu herrschen.
Corbyns
Errungenschaft erinnert wieder daran, dass etwas sehr Ähnliches in der
Demokratischen Partei bei den US-Wahlen geschah. Während sich in der
Partei der Kandidatin Hillary Clinton
Antipathie breit machte, erregte ein unwahrscheinlich alternativer
Kandidat eine Welle der Bewunderung und Begeisterung: Bernie Sanders.
Nicht
der aussichtsreichste Kandidat: 78 Jahre alt, 10 Jahre lang Senator. Doch wurde
er wie ein halb so alter Neuankömmling gefeiert. Wenn er der Kandidat seiner
Partei gewesen wäre, gäbe es wenig Zweifel, dass er heut der Präsident sein
würde. (Selbst die arme Hillary erhielt eine Mehrheit der allgemeinen Stimmen)
HABEN ALL
diese Siege und Beinah-Siege etwas
gemeinsam? Erheben sie sich zu einer „Welle“?
Auf den
ersten Blick nein. Weder gewann die Linke(Trump, Brexit)
noch die Rechte
(Macron,Corbyn, Sanders)
Gibt es
also nichts Gemeinsames?
Oh ja,
das gibt es. Es ist die Rebellion gegen das Establishment.
All
diese Leute, die gewannen oder beinahe gewannen, hatten dies
gemeinsam: sie zertrümmerten die etablierten Parteien. Trump gewann gegen
die Republikaner, Sanders gegen die Demokraten, Corbyn gegen Labour, Macron
gegen alle. Die Brexit-Wahl war vor allem gegen das ganze britische
Establishment.
Ist das
also die neue Welle? Schluss mit dem Establishment, ganz gleich, wo es ist.
UND IN
Israel?
Wir sind
noch nicht da. Wir sind immer die letzten. Die letzte National-Bewegung in
Europa. Der letzte Staat. Die letzte
Kolonialmacht. Aber wir kommen immer ans Ende.
Halb
Israel, fast die ganze Linke und das Zentrum sind klinisch tot. Die
Labor-Partei, die 40 Jahre lang fast ganz allein die Macht hielt, ist eine
traurige Ruine. Der rechte Flügel - -in vier konkurrierende Parteien gespalten –
versucht in allen Lebensbereichen uns eine fast faschistische
Agenda aufzuzwingen. Ich hoffe nur, dass etwas vor ihrem Enderfolg
geschieht.
Wir
brauchen einen prinzipientreuen Führer wie Corbyn oder Sanders. Eine junge und
idealistische Person wie Macron.
Jemanden, der all die bestehenden Besatzungs-Ära-Parteien zerdrückt und
von Anfang an beginnt und Macrons Slogan annimmt: Vorwärts, Israel!
(dt.
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)