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Die große Unterlassung

 

Uri Avnery, 29.September 2012

 

ICH SITZE hier, um diesen Artikel auf die Minute genau zu schreiben , als vor 39 Jahren die Sirenen zu heulen anfingen.

 

Eine Minute vorher herrschte totale Ruhe so wie jetzt. Kein Verkehr, keine Aktivitäten auf der Straße, wenn man von ein paar radelnden Kindern absieht. Yom Kippur, der heiligste Tag für Juden, herrschte absolut. Und dann ….

 

Unvermeidlich beginnt die Erinnerung zu arbeiten.

 

 

IN DIESEM Jahr wurden viele alte Dokumente für die Veröffentlichung frei gegeben.  Kritische Bücher und Artikel folgten.

 

Alle  beschuldigten die Ministerpräsidentin Golda Meir und den Verteidigungsminister Moshe Dayan.

 

Sie sind schon direkt  nach dem Krieg getadelt worden, aber nur für oberflächliche militärische Versäumnisse, die man „die große Unterlassung“ nannte. Die Unterlassung war, die Reservisten nicht mobilisiert und die Panzer nicht rechtzeitig an die Front gebracht zu haben, trotz der vielen Anzeichen,  Ägypten und Syrien seien im Begriff, uns anzugreifen.

 

Jetzt wird zum ersten Mal die wirklich „große Unterlassung“ untersucht: der politische Hintergrund des Krieges. Die Ergebnisse haben einen direkten Bezug zu dem, was jetzt geschieht.

 

 

ES STELLT  sich heraus, dass im Februar 1973, also acht Monate vor dem Krieg, Anwar Sadat seinen Vertrauensmann Hafez Ismail zum allmächtigen US-Außenminister Henry Kissinger sandte. Er bot ihm an, sofort Friedensverhandlungen  mit Israel zu beginnen. 

 

Es gab eine  Bedingung und ein Datum: der ganze Sinai bis zur  internationalen Grenze sollte  ohne irgend eine israelische Siedlung an Ägypten zurückgegeben werden, und das Abkommen sollte spätestens bis  Ende September abgeschlossen sein.

 

Kissinger mochte den Vorschlag und gab ihn gleich an den israelischen Botschafter  Yitzhak Rabin weiter, der im Begriff war, seine Amtszeit zu beenden. Rabin informierte natürlich gleich die Ministerpräsidentin Golda Meir.

 

Golda schlug das Angebot sofort ab. Es folgte eine hitzige Konversion zwischen dem Botschafter und der Ministerpräsidentin. Rabin, der Kissinger sehr nahe stand, hätte das Angebot gerne angenommen.

 

Golda behandelte die ganze Initiative als einen weiteren  arabischen Trick, sie zu veranlassen, die Sinai-Halbinsel aufzugeben und die Siedlungen, die auf ägyptischem Territorium gebaut worden waren, zu entfernen.

 

Schließlich war der wirkliche Zweck dieser Siedlungen – einschließlich der neuen  in hellem Weiß leuchtenden Stadt Yamit – genau die Rückgabe der ganzen Halbinsel an Ägypten zu verhindern. Weder Golda noch Dayan dachten daran, den Sinai zurückzugeben. Dayan hatte schon den berüchtigten Ausspruch gemacht, er zöge „Sharm al-Sheik  ohne Frieden dem Frieden ohne Sharm al-Sheik“ vor. (Sharm al-Sheik, dem schon der hebräische Namen Ophira gegeben worden war, liegt nahe der südlichen Spitze der Halbinsel, nicht weit von den Ölquellen, die Dayan auch nicht aufgeben wollte.)

 

Selbst vor den neuen Enthüllungen, war die Tatsache, dass Sadat mehrere Friedens-annäherungen gemacht hatte, kein Geheimnis gewesen. Sadat hatte seine Bereitschaft, ein Abkommen zu erreichen, bei seinen Gesprächen mit UN-Vermittler Dr. Gunnar Jarring zu verstehen gegeben. Dessen  Bemühungen  waren in Israel schon zu einem Witz geworden.   

 

Zuvor hatte der vorherige ägyptische Präsident Gamal Abd-al-Nasser Nahum Goldman, den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses  (und eine Zeit lang der Präsident der Zionistischen Weltorganisation) eingeladen, ihn in Kairo zu treffen. Golda hat dieses Treffen verhindert, und als dies bekannt wurde, gab es in Israel einen Sturm von Protesten, einschließlich des berühmten Briefes einer Gruppe von Zwölft-Klässlern, die zu verstehen gaben, dass es für sie hart werden würde, in der Armee zu dienen.

 

All diese ägyptischen Initiativen konnten als politische Manöver beiseite gewischt werden. Aber eine offizielle Botschaft von Sadat an den  amerikanischen Außenminister konnte nicht ignoriert werden.

 

Golda entschied sich, auf Grund der Lektion des Goldman-Vorfalles die ganze Sache  einfach geheim zu halten.

 

 

AUF DIESE Weise wurde eine unglaubliche Situation geschaffen. Diese schicksalhafte Initiative, die einen historischen Wendepunkt hätte bewirken können, wurde nur zwei Leuten zur Kenntnisnahme gebracht: Moshe Dayan und Israel Galili.

 

Die Rolle des letzteren muss erklärt werden: Galili war die „graue Eminenz“ Goldas, als auch  ihres Vorgängers Levy Eshkol. Ich kannte Galili gut und  verstand nie, wo sein Ansehen als brillanter Stratege herkam. Vor der Gründung des Staates, war er die Lichtgestalt der illegalen Hagana-Militärorganisation. Als Mitglied eines Kibbuzes  war er offiziell  ein Sozialist, aber in Wirklichkeit war er ein nationalistischer Hardliner. Er war es, der die brillante Idee hatte, Siedlungen auf ägyptischem Territorium  zu bauen, um die Rückgabe des nördlichen Sinai unmöglich zu machen.

 

Die Sadat-Initiative war also nur fünf Personen bekannt: Golda, Dayan, Galili, Rabin und Rabins Nachfolger in Washington Simcha Dinitz, einem Niemand, Goldas Lakai.

 

So unglaublich es klingen mag: der Außenminister Abba Ebban, Rabins direkter Boss war nicht informiert. Noch waren es all die anderen Minister, der Stabschef und die anderen Führer der bewaffneten Kräfte, einschließlich der Chefs der Armee-Nachrichtendienste, wie auch die Chefs des Shin Bet und des Mossad. Es war ein Staatsgeheimnis.

 

Keine Debatte gab es darüber – weder öffentlich noch geheim . Der September kam und ging vorüber, und am 6. Oktober überquerten Sadats Soldaten den Suez-Kanal und erlangten einen welterschütternden Überraschungserfolg (wie die Syrer auf den Golan-Höhen).

 

Als direkte Folge von Goldas „großer Unterlassung“ starben 2693 israelische Soldaten, 7251 wurden verletzt und 314 wurden gefangen genommen (wobei die Zehntausende ägyptischer und syrischer Verluste noch nicht erwähnt wurden.)

 

 

IN DIESER Woche beklagten israelische Kommentatoren das totale Schweigen der Medien und  Politiker zu jener Zeit.

 

Na ja, nicht völlig. Mehrere Monate vor dem Krieg warnte ich Golda Meir bei einer Rede in der Knesset, wenn der Sinai nicht bald zurückgegeben werde, würde Sadat  mit einem Krieg beginnen, um den toten Punkt zu überwinden.

 

Ich wusste, worüber ich sprach. Ich hatte natürlich keine Ahnung von der Ismail-Mission. Aber im Mai 1973 nahm ich an einer Friedenskonferenz in Bologna teil. Die ägyptische Delegation wurde von Khalid Muhyi-al-Din geleitet, einem Mitglied der ursprünglichen Gruppe Freier Offiziere, von denen die 1952er-Revolution ausging. Während der Konferenz nahm er mich zur Seite und sagte mir im Vertrauen, wenn der Sinai nicht bis September zurückgegeben sei, würde Sadat einen Krieg beginnen. Sadat mache sich keine Illusionen darüber, wer siegen würde, sagte er, er hoffe aber, dass ein Krieg die USA und Israel zwingen würden, mit Verhandlungen über die Rückgabe des Sinai zu beginnen.

 

Meine Warnung wurde von den Medien vollkommen ignoriert. Sie  behandelten wie Golda die ägyptische Armee mit  abgrundtiefer Verachtung und betrachteten Sadat als Troddel. Der Gedanke, dass die Ägypter  die unbesiegbare israelische Armee anzugreifen wagen würden, erschien lächerlich.

 

Die Medien  beteten Golda an. Auch die ganze Welt, besonders  Feministinnen. (Ein berühmtes Poster zeigt ihr Gesicht mit der Aufschrift: „Aber kann sie tippen?“) In Wirklichkeit war Golda eine sehr primitive Person, ignorant und starrsinnig.  Mein Magazin Haolam Hazeh griff sie praktisch jede Woche an wie auch ich in der Knesset. ( Sie gab mir das einzigartige Kompliment einer öffentlichen Erklärung, sie sei bereit, „ auf die Barrikaden zu gehen“, um mich aus der Knesset zu jagen.)

 

Unsere Stimme war wie „eine Stimme in der Wüste“, aber sie erfüllte eine Funktion: in ihrem Buch „Marsch der Torheiten“ ) verlangte  Barbara Tuchman , dass eine Politik nur dann als töricht gebrandmarkt werden könne, wenn wenigstens eine Stimme zur richtigen Zeit gewarnt hätte.

 

Vielleicht hätte sogar Golda nachgedacht , wenn sie nicht von so sehr sie preisenden Journalisten und Politikern umgeben gewesen wäre, die ihre Weisheit  und ihren Mut zelebrierten und jedem ihrer dummen Aussprüche applaudierten.

 

 

DER GLEICHE Typ von Leuten, ja, sogar einige genau derselben,  tun jetzt gegenüber Benjamin Netanjahu dasselbe.

 

Wieder starren wir  derselben „großen Unterlassung“ ins Gesicht.

 

Wieder entscheidet eine Gruppe von zwei oder drei Personen über das Schicksal der Nation. Allein Netanjahu und Ehud Barak (wahrscheinlich mit Hilfe Netanjahus Frau Sara’le ) treffen alle Entscheidungen  und halten „ihre Karten nah an ihrer Brust“.  Den Iran angreifen oder nicht angreifen? Die Politiker und Generäle werden im Dunklen gelassen. Bibi und Ehud wissen es am besten. Ein Beitrag von anderer Seite ist nicht nötig.

 

Aber bedeutender als die blutigen Drohungen  gegen den Iran ist das totale Schweigen zu Palästina. Die palästinensischen Friedensangebote werden einfach ignoriert wie diejenigen von Sadat in der damaligen Zeit. Die zehn Jahre alte arabische Friedensinitiative, die von allen arabischen und muslimischen Staaten unterstützt wird, existiert nicht.

 

Wieder werden Siedlungen aufgebaut und erweitert, um die Rückgabe der besetzten Gebiete unmöglich zu machen. (erinnern wir uns an jene, die damals behaupteten , die Besetzung des Sinai sei „irreversibel“.  Wer  würde es wagen, Yamit zu zerstören?)

 

Wieder sind es Mengen von Schmeichlern, Medienstars und Politikern, die miteinander in der Lobhudelei des „Bibi, König von Israel“ wetteifern.  Wie flüssig und sanft er auf amerikanisch reden kann! Wie überzeugend seine Reden in der UN und im US-Senat seien!

 

Nun, Golda war mit ihren etwa 200 Wörtern schlechtem Hebräisch und primitivem Amerikanisch viel überzeugender, und sie erfreute sich der Lobhudelei der ganzen westlichen Welt. Doch wenigstens hatte sie das rechte Gefühl,  den amtierenden amerikanischen Präsidenten (Richard Nixon) während einer Wahlkampagne nicht herauszufordern.

 

 

IN JENEN Tagen nannte ich unsere Regierung „Das Narrenschiff“. Unsere jetzige Regierung ist schlimmer, viel schlimmer.

 

Golda und Dayan führten in eine Katastrophe. Nach dem Krieg, ihrem Krieg, wurden sie  hinausgeworfen – nicht durch Wahlen, nicht durch irgendein Untersuchungskomitee , sondern durch einen Volksmassenprotest, der das Land erschütterte.

 

Bibi und Ehud führen uns in eine andere, viel schlimmere Katastrophe. Eines Tages werden sie von den selben Leuten hinausgeworfen, die sie jetzt anhimmeln  - falls sie überleben.

 

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser  autorisiert)