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Der israelische Macron
Uri Avnery,
29.
April 2017
EIN TIEFER
Seufzer der Erleichterung kommt direkt aus dem Herzen.
Als ich
zehn Jahre alt war, floh meine Familie aus Nazi-Deutschland. Wir hatten das
Gefühl, dass die Gestapo hinter uns her war. Als wir uns der französischen
Grenze näherten, war unsere Furcht
akut. Als unser Zug die Brücke überquerte, die
Deutschland von Frankreich trennte, stießen wir einen tiefen Seufzer der
Erleichterung aus.
Es war
fast derselbe Seufzer. Frankreich hat wieder eine Botschaft der Freiheit
gesandt.
Emanuel
Macron (Emmanuel ist ein hebräischer Name und bedeutet „Gott mit uns“) hat die
erste Runde gewonnen und es gibt eine starke Möglichkeit, dass er bei der
zweiten Runde auch gewinnt.
Dies ist
nicht nur eine französische
Angelegenheit. Es geht die ganze Menschheit an.
ZUERST
HAT es
einen Zauberspruch gebrochen
Nach der
Brexit- Abstimmung und der Wahl von Donald Trump, erhob sich der Mythos, dass
eine dunkle, ultra-rechte, faschistische oder beinah-faschistische Welle
die demokratische Welt
überspült. Es ist ein Schicksals-Dekret. Force majeure – höhere Macht.
Zuerst
Marine Le Pen. Dann dieser unmögliche Holländer. Dann die ost-europäischen
Rechten. Sie werden überall die
Demokratie zerquetschen. Da kann nichts gemacht werden.
Und hier
kommt ein jemand, von dem noch
niemand etwas gehört hat und bricht
den Zauberspruch. Er hat gezeigt, dass anständige Leute zusammenkommen
und den Lauf der Geschichte verändern
können.
Das ist
eine Botschaft, die nicht nur für
Frankreich wichtig ist, sondern für
jeden. Sogar für Israel.
ES IST
noch nicht beendet. Die zweite
Runde liegt noch vor uns.
Wenn man
auf die Landkarte der ersten Runde schaut, beunruhigt
das Bild ziemlich. Le Pen hat einen großen Teil Frankreichs erobert, den
Norden und fast den ganzen Osten.
Das Desaster kann noch drohend auftauchen.
Dieser
Möglichkeit gegenüberstehend, haben
fast alle andern Kandidaten ihre Unterstützung Macron gegeben. Dies zu tun, wäre
anständig. Besonders edel die konkurrierenden Kandidaten, von denen nicht
erwartet werden kann, dass sie ihn lieben.
Die eine
Ausnahme ist der Kandidat der radialen Linken, Jean-Luc Melenchon, der von den
Kommunisten unterstützt wurde. Für ihn sind Le Pen und Macron etwa dasselbe. Für
Leute mit einem Gedächtnis für Geschichte, klingt dies ominös.
1933
griffen die deutschen Kommunisten die Sozialisten mehr an als
sie Hitler angriffen. In einigen großen
Streiks kooperierte die kommunistische
„Rote Front“ sogar mit Hitlers Sturmtruppen. Ihre Theorie war, dass
beide, Hitler und die Sozialisten kapitalistische
Strohmänner waren. Sie waren
sich auch sicher, dass der lächerliche Hitler nach einigen Monaten an der Macht
verschwinden würde und den Weg für
die Welt-Revolution ebnen würde.
Sie
hatten viel Zeit, um ihre Dummheit zu bereuen – als sie
mit den Sozialisten in den Nazi-Konzentrationslagern
zusammensaßen.
Die
französischen Kommunisten dieser
Zeit lernten die Lektion. Drei Jahre später bildeten sie eine Vereinigte Front
mit den französischen Sozialisten;
und der jüdische Sozialist Leon Blum wurde
zum Ministerpräsidenten gewählt.
Inzwischen scheint diese Lektion
vergessen worden zu sein.
In
diesem Augenblick jedoch scheint
der Sieg von Macron ziemlich sicher zu sein. Inshallah, wie unsere arabischen
Freunde sagen.
DER INTERESSANTESTE
Aspekt der französischen Wahl ist, dass sie wie die amerikanischen und sogar
das britische Referendum das Ende
der Parteien ist.
Jahrhundertelang habenpolitische Parteien in der öffentlichen Arena dominiert.
Die politische Partei war die
wesentliche Komponente des politischen Lebens. Gleichgesinnte Leute taten sich
zusammen und bildeten
eine politische Vereinigung,
veröffentlichten ein Programm, wählten einen Führer und
nahmen an den Wahlen teil.
Leider,
nicht mehr. Das Fernsehen hat all dies verändert
Das TV
ist ein sehr mächtiges, aber auch
ein sehr begrenztes Medium. Es zeigt Leute. Tatsächlich
zeigt es nur die Köpfe. Es ist am wirksamsten, wenn es einen Kopf zeigt,
der zum Zuschauer spricht.
Das TV
zeigt keine Parteien. Es kann über Parteien reden, sie aber nicht wirklich
zeigen.
Es ist
sogar weniger in der Lage, Parteiprogramme
zu zeigen. Irgendjemand kann ihnen im Fernsehen dieses vorlesen, doch
dies ist langweilig. Wenige Zuschauer hören ihnen zu.
Das
praktische Ergebnis ist, dass in der modernen Politik die Führer
immer mächtiger werden und die Partei und ihr Programm
immer weniger wichtig. Ich
sage nichts Neues, all dies wurde
schon viele Male vorher gesagt. Aber
dieses Jahr trägt der
Prozess Früchte.
Die
Brexit-Resultate überquerten Parteigrenzen. Die Labor-Partei, seit Generationen
eine kraftvolle Präsenz,
scheint auseinander zu brechen.
Donald
Trump vertritt offiziell die
Republikanische Partei, aber tut er das wirklich?
Es scheint, dass die Partei ihn verabscheut;
sein Anteil an ihr ist in
der Praxis eine feindselige Übernahme. Trump wurde gewählt nicht die Partei oder
ein nicht existierendes Programm.
Dies
waren außerordentliche Ereignisse. Aber die französischen Wahlen fanden
in einem gewöhnlichen, traditionellen Rahmen statt. Das Ergebnis war,
dass alle traditionelle Parteien zerstört waren, dass alle Programme
wie vom Wind weggeblasen waren. Was
auftauchte war eine Person, praktisch ohne Partei und ohne ein Programm, mit
fast keiner politischen Erfahrung.
Er sieht im Fernsehen gut
aus; er klingt
gut im TV,
er war ein gutes Gefäß für die Stimmen, das
in erster Linie dafür war,
um die Faschisten zu stoppen.
Dies ist
nicht nur für Frankreich eine Lektion, sondern für alle demokratischen
Länder.
ES IST
auch für Israel eine Lektion - eine
sehr bedeutende sogar.
Wir
haben schon den Beginn dieses
Prozesses erlebt. Wir haben jetzt eine
Anzahl von Nicht-Parteien mit Nicht-Programmen, die einen starken Halt in
der Knesset gewonnen haben.
Zum
Beispiel die Partei des gegenwärtigen Verteidigungsminister, Avigdor Lieberman,
ein Einwanderer aus Moldawien, er stellte eine „Partei“ auf, die
die Immigranten aus Russland
ansprach. Eine Partei ohne
interne Wahlen, bei der alle Kandidaten vom Führer
ausgewählt und (je nach seiner
Laune) ausgetauscht werden , und ohne Programm, nur mit
einem starken faschistischen Hauch.
Er ist sein einziger Sprecher beim Fernsehen. Er begann mit einer starken
anti-religiösen Botschaft, die
von den „russischen“ Wählern geliebt wird,
aber langsam
sich verwandelt. Keiner
dieser Leute wagt, Fragen zu stellen.
Ziemlich
dieselbe Situation herrscht in der
„Partei“ von Yair Lapid. Der Sohn
einer TV-Persönlichkeit mit fast faschistischen Ansichten; er ist ein gut
aussehender, gut redender Bursche,
total ohne Ideen, der jetzt
bei den Wahlen Netanjahu schlägt. Kein Programm, nur eine Partei, die sein
persönliches Instrument ist. Er allein bestimmt alle Kandidaten. Er allein
erscheint im Fernsehen. Auch er begann
als anti-Religiöser und hat
sich gewandelt (Man kann in Israel keine Macht
halten ohne die religiösen Parteien, wenn man nicht bereit ist
- Gott behüte - mit
den arabischen Parteien der zu kooperieren.
Moshe Kahlon, ein früherer
Likudnik von
nordafrikanischer Herkunft hat
eine persönliche Formation, keine wirkliche Partei, kein wirkliches
Programm. Auch er ernennt
Kandidaten auf seiner Liste. Er ist
jetzt Finanzminister.
Die
Labor-Partei, die einmal die mächtigste Kraft war, die die politische Szene 44
auf einander folgende Jahre dominierte – bevor der Staat
geboren wurde und danach -
ist jetzt eine erbärmliche Ruine,
ähnlich seinem französischen Gegenpart.
Sein Führer Yitzhak Herzog ist mit Francois Hollande austauschbar.
Und dann
gibt es noch den obersten Meister
des TV, Benjamin Netanjahu, intellektuell hohl, mit
ständig wechselnder Haarfarbe,
für und gegen die Zweistaaten-Lösung und
vieles andere.
WAS KÖNNEN
wir von den Franzosen lernen?
Nicht zu
verzweifeln, wenn es so aussieht,
als ob wir auf dem Weg in eine Katastrophe sind. Den Fatalismus
fliehen und in den
Optimismus gehen. Optimismus und
Aktion.
Aus dem
nirgendwo kann eine neue Person auftauchen. Auf den Ruinen
von bestehenden Parteien
kann sich eine neue politische Kraft erheben, die alte Sprache der Linken und
Rechten ausschalten und eine neue Sprache des Friedens und sozialer
Gerechtigkeit sprechen.
Hei,
komm schon! Worauf wartest du?
(dt. E.
Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)