Israel Palästina Nahost Konflikt Infos
Uri Avnery,
19.11.14
IN
SEINER langen und kontroversen Geschichte
ist Jerusalem von vielen Eroberern besetzt worden.
Von
Babyloniern und Persern,
Griechen und Römern, Mameluken und Türken, Briten und Jordaniern – um nur ein
paar zu erwähnen.
Der
letzte Besatzer ist Israel, das
Jerusalem 1967 eroberte und annektierte.
(Ich könnte
„Ost-Jerusalem“ geschrieben haben – aber das historische Jerusalem ist im
heutigen Ost-Jerusalem. Alle andern Teile wurden
erst in den letzten 200 Jahren
von jüdischen Siedlern
gebaut oder arabische Dörfer
der Umgebung sind willkürlich dem
riesigen Areal angeschlossen worden, das jetzt
nach der Besetzung Jerusalem genannt wird. )
In
dieser Woche stand Jerusalem wieder in Flammen. Zwei Jugendliche aus Dschebel
Mukaber, einem der annektierten
arabischen Dörfer, betraten während des Morgengebets eine Synagoge im Westen der
Stadt und töteten vier fromme Juden, bevor sie selbst von der Polizei getötet
wurden.
Jerusalem wird „Die Stadt des Friedens“ genannt. Das ist ein linguistischer
Fehler. In der Antike wurde sie zwar Salem genannt, das wie
Frieden klingt, aber Salem war
tatsächlich der Name der lokalen kanaanäischen Gottheit.
Es ist
auch ein historischer Fehler. Keine Stadt der Welt hat so viele Kriege, Massaker
und Blutvergießen erlebt wie diese.
Alles im
Namen irgendeines Gottes.
JERUSALEM WURDE unmittelbar
nach dem Sechs-Tage-Krieg, 1967,
annektiert (oder „befreit“
oder „vereinigt“).
Dieser
Krieg wurde Israels größter militärischer Triumph. Er war auch Israels größtes
Unglück. Der göttliche Segen des
unglaublichen Sieges verwandelte sich in göttliche Strafe. Jerusalem war ein
Teil davon.
Die
Annexion wurde uns - ich war damals Knesset-Mitglied- als eine Wiedervereinigung
der Stadt dargestellt, die im
israelisch-palästinensischen Krieg von 1948 grausam auseinander gerissen worden
war. Jeder zitierte den biblischen Satz: „Jerusalem
ist eine Stadt, in der man
zusammenkommt.“ Diese Übersetzung von Psalm 122 ist ziemlich merkwürdig. Das
hebräische Original sagt einfach: „eine Stadt, die fest vereinigt ist“.
Was 1967
tatsächlich geschah, war alles andere als Vereinigung.
Wenn
wirklich die Absicht bestanden hätte, es
zu vereingen, hätte dies sehr
anders ausgesehen.
Die
volle israelische Staatsbürgerschaft wäre automatisch allen Bewohnern
gegeben worden. Alle verlorenen
arabischen Besitztümer in Westjerusalem, die 1948 enteignet wurden, wären ihren
rechtmäßigen Besitzern, die nach
Ostjerusalem geflohen waren, zurückgegeben worden.
Der
Jerusalemer Stadtrat wäre erweitert worden, um die Araber aus dem Ostteil zu
integrieren, auch ohne spezielle Bitte. Und so weiter.
Das
Gegenteil geschah. Kein Besitz wurde zurückgegeben,
noch eine Kompensation gezahlt. Der Stadtrat blieb ausschließlich jüdisch.
Die
arabischen Bewohner bekamen keine israelische Staatsbürgerschaft, sondern nur
„ein permanentes Wohnrecht“. Dies ist ein Status, der
jeden Moment willkürlich zurückgezogen werden kann -
und in vielen Fällen widerrufen wurde; wobei man die
Opfer zwang, aus der Stadt auszuziehen. Um
den Anschein zu wahren wurde es Arabern
erlaubt, die israelische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Die Behörden wussten
natürlich, dass dies nur ein paar
tun würden; denn wenn sie das getan hätten, hätten sie die Besatzung anerkannt.
Für die Palästinenser hätte dies Hochverrat bedeutet. (den wenigen, die den
Antrag stellten, wurde er
gewöhnlich verweigert.)
Das
Gemeindeamt wurde nicht erweitert. Theoretisch sind Araber berechtigt, bei den
Gemeindewahlen ihre Stimme abzugeben, aber nur wenige taten dies – aus denselben
Gründen. Praktisch blieb
Ost-Jerusalem ein besetztes Gebiet.
Der
Bürgermeister Teddy Kollek wurde zwei Jahre vor der Annexion gewählt.
Eine seiner ersten Aktionen danach war, dass er das ganze marokkanische
Viertel neben der Klagemauer abreißen ließ und so einen großen leeren Platz
schuf, der einem Parkplatz ähnlich sah; die Bewohner, alles arme Leute, wurden
innerhalb weniger Stunden vertrieben.
ABER
KOLLEK war ein Genie, was
public relations betraf. Er knüpfte
anscheinend freundliche Beziehungen mit arabischen
bekannten Notablen, führte sie mit ausländischen Besuchern zusammen und
schuf so den allgemeinen Eindruck von Frieden und Zufriedenheit. Kollek baute
mehr neue israelische Stadtteile
auf arabischem Land als jede andere Person im Land. Doch dieser Meister des
Siedlungswesens sammelte fast alle
Friedenspreise der Welt außer dem Friedens-Nobelpreis. Ost-Jerusalem blieb
ruhig.
Nur
wenige kannten eine geheime Direktive von Kollek: er instruierte alle
Gemeinde-Behörden, darauf zu achten, dass die arabische Bevölkerung – damals 27%
-- nicht diese Grenze überschritt.
KOLLEK
WURDE geschickt von Moshe Dajan,
dem damaligen Verteidigungsminister, unterstützt.
Dajan glaubte,
dass, wenn er den Palästinensern alle
möglichen Vergünstigungen gäbe, außer
der Freiheit, sie sich ruhig verhalten
würden.
Ein paar
Tage nach der Besetzung Ost-Jerusalems nahm er die israelische Flagge, die von
Soldaten vor dem Felsendom auf dem
Tempelplatz gehisst worden war, weg.
Dajan gab auch
die de facto Autorität des Tempelberges den muslimisch religiösen
Behörden.
Juden
war es erlaubt, nur
in kleinen Gruppen und nur als ruhige Besucher auf dem Tempelplatz zu
sein. Es war ihnen verboten, dort zu beten; sie
wurden zwangsweise entfernt,
wenn sie ihre Lippen bewegten. Sie konnten schließlich
an der anschließenden Westmauer, die ein Teil der antiken Stützmauer des
Tempelplatzes war, nach Herzenslust beten.
Die
Regierung war wegen einer kuriosen
religiösen Tatsache in der Lage, diesen Erlass zu geben: Orthodoxen Juden war es
von den Rabbinern verboten, den Tempelplatz
als Ganzes zu betreten. Nach
einer biblischen Vorschrift ist es gewöhnlichen Juden nicht erlaubt, das
Allerheiligste zu betreten. Da heute
keiner weiß, wo genau dieser Ort war, betreten fromme Juden den ganzen Platz
nicht.
ALS
FOLGE davon waren die ersten paar Jahre der Besatzung für Ost-Jerusalem eine
glückliche Zeit. Juden und Araber
bewegten sich frei. Es war für Juden üblich, im bunten
arabischen Markt einzukaufen und in den orientalischen Restaurants zu
speisen. Ich blieb oft in arabischen Hotels und freundete mich mit einer Anzahl
Arabern an.
Ganz langsam veränderte sich die
Atmosphäre. Die Regierung und das Gemeindeamt gaben viel Geld aus, um
Westjerusalem zu verbessern, aber die arabischen Stadtteile in Ost-Jerusalem
wurden vernachlässigt und wurden so zu Slums.
Die lokale Infrastruktur und städtischen Dienste verfiel. Arabern wurde
fast keine Baugenehmigung gegeben, um die junge Generation zu zwingen, sich
außerhalb der Stadtgrenzen anzusiedeln. Als die Trennungsmauer gebaut wurde,
wurde diesen sogar verboten, die Stadt zu betreten und schnitt sie so von
ihren Schulen und Arbeitsstellen ab. Doch trotz allem wuchs die arabische
Bevölkerung und überschritt die
40%.
Die
politische Unterdrückung wurde immer stärker. Nach dem Oslo-Abkommen wurde den
Jerusalemer Arabern erlaubt, für die palästinensische Behörde ihre Stimme
abzugeben. Aber dann wurden sie
daran gehindert, dies zu tun; ihre Vertreter wurden verhaftet und aus der Stadt
vertrieben. Alle palästinensischen Institutionen wurden zwangsweise geschlossen,
einschließlich des berühmten Orienthauses, wo der viel bewunderte und geliebte
Führer der Jerusalemer Araber, der verstorbene Faisal al-Husseini, seinen
Amtssitz hatte.
Kollek
wurde von Ehud Olmert und einem orthodoxen Bürgermeister abgelöst, der sich
einen Teufel um Ost-Jerusalem kümmerte, abgesehen vom Tempelberg.
Und dann
geschah ein zusätzliches Disaster. Säkulare Israelis
verlassen die Stadt, die sehr schnell zu einer orthodoxen Bastion wird.
Aus Verzweiflung entschieden sie sich, den orthodoxen Bürgermeister
abzusetzen und einen säkularen Geschäftsmann
zu wählen. Leider ist er ein fanatischer Ultra-Nationalist.
NIR
BARKAT benimmt sich wie der
Bürgermeister von West-Jerusalem und der militärische Gouverneur
von Ost-Jerusalem. Er behandelt seine
palästinensischen Untertanen wie Feinde, die toleriert werden, solange sie sich
ruhig verhalten und unterdrückt sie brutal, wenn sie das nicht tun.
Zusammen
mit den seit Jahrzehnten vernachlässigten arabischen Stadtteilen, dem
beschleunigten Tempo des Bauens von neuen jüdischen Stadtteilen, der maßlosen
Polizei-Brutalität ( offen vom Bürgermeister ermutigt)
- alles zusammen schafft eine explosive Situation.
Die
totale Trennung Jerusalems von der Westbank, seinem natürlichen Hinterland,
verschlimmert die Situation noch mehr.
Dem kann
noch die Beendigung des sog. Friedensprozesses hinzugefügt werden, zumal
alle Palästinenser davon überzeugt sind,
dass Ost-Jerusalem die Hauptstadt des zukünftigen Staates Palästina werden muss.
DIESE
SITUATION brauchte nur noch einen Funken, um die Stadt zu entzünden. Er
wurde rechtzeitig von den Demagogen des rechten Flügels in der Knesset
geliefert. Um Aufmerksamkeit und
Popularität wetteifernd, begannen sie, den Tempelberg zu besuchen, einer nach
dem andern, und jedes Mal lösten sie einen Sturm aus. Dem
muss noch der offensichtliche Wunsch von gewissen religiösen Fanatikern
des rechten Flügels hinzugefügt werden: den dritten Tempel anstelle der heiligen
Al-Aqsa -Moschee und des Felsendoms zu bauen. Dies war genug, um den Glauben zu
schaffen, dass die Heiligen Schreine in Gefahr seien.
Dann kam
der grauenhafte Rachemord an einem
arabischen Jugendlichen, der von Juden entführt und lebendig verbrannt wurde,
indem ihm Benzin in den Mund geschüttet wurde.
Einzelne
moslemische Einwohner der Stadt begannen zu handeln; sie verachteten
Organisationen, fast ohne Waffen begannen sie eine Reihe von Angriffen, die nun
die „Intifada der Individuen“ genannt wird. Sie handelten allein oder mit einem
Bruder oder Cousin, dem sie vertrauten.
Ein Araber nimmt ein Messer oder einen Revolver (falls er einen erhält) oder
seinen Wagen oder Traktor und tötet die nächsten Israelis. Er weiß, dass er
sterben wird.
Die
beiden Cousins, die in dieser Woche in einer Synagoge vier Juden – und einen
arabisch-drusischen Polizisten töteten – wussten dies. Sie wussten auch, dass
ihre Familien würden leiden müssen,
dass ihr Haus zerstört werden wird, ihre Verwandten verhaftet.
Das hielt sie nicht von der Tat ab. Die Moscheen
waren wichtiger.
Überdies
wurde ein Tag zuvor
ein arabischer Busfahrer in seinem Bus
aufgehängt vorgefunden. Gemäß der Polizei bewies die Autopsie,
er habe Selbstmord begangen. Ein
arabischer Pathologe folgerte, er
sei ermordet worden. Kein Araber glaubt der Polizei – die Araber sind davon
überzeugt, dass die Polizei immer lügt.
Unmittelbar nach dem Mord in der Synagoge machte sich der israelische Chor der
Politiker und Kommentatoren auf, zu handeln. Sie taten dies mit einer
erstaunlichen Einmütigkeit – Minister, Knesset-Mitglieder, Ex-Generäle,
Journalisten wiederholten mit leichter Variation dieselbe Botschaft. Der Grund
dafür ist einfach: das Büro des Ministerpräsidenten schickt jeden Tag eine
„Seite mit Botschaften“ hinaus und unterrichtet so alle Teile der
Propagandamaschinerie, was zu sagen ist.
Dieses
Mal lautete die Botschaft, Mahmoud Abbas sei an allem schuld, „ein Terrorist im
Anzug“, der Führer, dessen Hetze die neue Intifada verursacht.
Es macht nichts, dass der Chef des Shin Bet noch am selben Tag sagte,
Abbas habe weder offen noch verdeckt
Verbindungen zu der Gewalt.
Benjamin
Netanjahu stand den Kameras mit
einem feierlichen Gesicht und gefasster Stimme gegenüber – er ist ein wirklich
guter Schauspieler - und
wiederholte , was er schon viele Male vorher gesagt hatte, jedes Mal gab er vor,
dies sei ein neues Rezept: mehr Polizei,
härtere Strafen, Zerstörung der Häuser, Verhaftungen
und hohe Geldstrafen für
Eltern von 13-Jährigen, die Steine werfen
und so weiter.
Jeder
Experte weiß, dass die Folge solcher Maßnahmen genau das Gegenteil erreichen
wird. Mehr Araber werden in Wut gebracht
und greifen israelische Männer und
Frauen an. Israelis werden natürlich „Rache nehmen“ und „das Gesetz in ihre
eigenen Hände nehmen.“
Für
Bewohner wie Touristen ist das Gehen durch Jerusalems Straßen – in der Stadt, in
der man „zusammen kommt“ - zu einem
riskanten Abenteuer geworden. Viele
bleiben zu Hause.
Die
unheilige Stadt ist geteilter als je zuvor.
(dt.
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)