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Leugnen, Leugnen
Uri Avnery,
18.Juni 2011
DIESER UNSINN mit der
Anerkennung Israels als “jüdischer Staat”, das reicht mir jetzt.
Er gründet sich auf eine
Reihe hohler Phrasen und ungenauer Definitionen, ohne irgendeinen realen Inhalt.
Er dient vielen verschiedenen Zwecken; fast alle sind böse.
Binyamin Netanyahu benützt
ihn als Trick, um die Errichtung des palästinensischen Staates zu blockieren. In
dieser Woche erklärte er, dass es für diesen Konflikt keine Lösung gäbe. Warum?
Weil die Palästinenser nicht damit einverstanden sind, uns als „jüdischen Staat“
anzuerkennen.
Vier rechte Mitglieder der
Knesset haben gerade einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Regierung
ermächtigt, das Registrieren neuer NGOs zu verweigern und existierende
aufzulösen, wenn sie den „jüdischen Charakter des Staates leugnen“.
Diese neue Gesetzesvorlage
ist nur eine aus einer Reihe, die dafür bestimmt ist, die zivilen Rechte der
arabischen Bürger als auch die von linken Bürgern zu beschneiden.
Wenn der verstorbene Dr.
Samuel Johnson im heutigen Israel gelebt hätte, würde er seinen berühmten
Ausspruch über Patriotismus von vor 250 Jahren („Der Patriotismus ist die letzte
Zuflucht eines Schurken) neu formulieren: „Die Anerkennung des jüdischen
Charakters des Staates ist die letzte Zuflucht eines Schurken.“
NACH ISRAELISCHER Redeweise
würde das Leugnen des „jüdischen Charakters“ des Staates dem schlimmsten aller
politischen Verbrechen gleichkommen: zu behaupten, Israel sei ein „Staat aller
seiner Bürger.“
Für einen Ausländer mag
dies ein bisschen verrückt klingen. In einer Demokratie gehört der Staat ganz
klar allen seinen Bürgern. Erwähne dies in den USA, dann stellst du etwas
Selbstverständliches fest. Erwähnst du dies in Israel, dann wirst du fast wie
ein Verräter behandelt. (So viel zu unseren sehr gepriesenen „gemeinsamen
Werten“.)
Tatsächlich ist Israel ein
Staat aller seiner Bürger. Alle seine erwachsenen Bürger – und nur sie – haben
das Recht, die Knesset zu wählen. Die Knesset ernennt die Regierung und erlässt
die Gesetze. Sie hat viele Gesetze erlassen, die erklären, Israel sei ein
„jüdischer und demokratischer Staat“. In zehn oder hundert Jahren kann die
Knesset beschließen, Israel sei ein
katholischer, buddhistischer oder islamischer
Staat. In einer Demokratie sind es die Bürger, die die Herrschaft inne
haben, nicht eine verbale Formel ??
WAS FÜR eine Formel – mag
man sich fragen.
Die Gerichte lieben Wörter
wie „jüdischer und demokratischer Staat“. Aber das ist längst nicht die einzige
Definition.
Die am meisten gebrauchte
ist einfach „jüdischer Staat“. Aber das genügt Netanyahu und seinen Kollegen
nicht, die über „den Nationalstaat des jüdischen Volkes“ reden, der einen
hübschen Klang aus dem 19. Jahrhundert hat. Der „Staat des jüdischen Volkes“ ist
auch ziemlich populär.
Eines, das alle diese
Markennamen gemeinsam haben, ist, dass sie alle völlig ungenau sind. Was
bedeutet „jüdisch“? Eine Nationalität, eine Religion, ein Volksstamm? Wer ist
das „jüdische Volk“? oder sogar noch ungenauer die „jüdische Nation“? Schließt
dies die Kongressleute ein, die die Gesetze der USA erlassen ? Oder die Kohorten
amerikanischer Juden, die die Politik der USA im Nahen Ostens bestimmen? Welches
Land vertritt der jüdische Botschafter von Großbritannien in Tel Aviv?
Die Gerichtshöfe haben sich
mit der Frage herumgeschlagen: wo ist die Grenze zwischen „jüdisch“ und
„demokratisch“? Was bedeutet „demokratisch“ in diesem Kontext? Kann ein
„jüdischer“ Staat wirklich „demokratisch“ sein oder kann ein „demokratischer“
Staat eigentlich wirklich „jüdisch“ sein?
All die von gelehrten Juristen und
berühmten Professoren gegebenen Antworten sind gekünstelt oder, wie wir
auf Hebräisch sagen: „sie stehen auf Hühnerbeinen“.
GEHEN WIR zurück zum
Anfang: das Buch, das auf Deutsch von Theodor Herzl, dem Gründungsvater des
Zionismus, geschrieben und 1896 veröffentlichte wurde, nannte er „Der
Judenstaat“.
Leider ist das ein typisch
deutsches Wort, das man nicht übersetzen kann. Gewöhnlich wird es ins Englische
als „The Jewish State“ oder „The State of the Jews“ übertragen. Beide sind
falsch. Am nächsten würde „The
Jewstate“ kommen.
Wenn dies etwas
antisemitisch klingt, dann ist das nicht zufällig. Es könnte viele schockieren,
aber dies Wort wurde nicht von Herzl erfunden. Es wurde das erste Mal von einem
preußischen Adligen mit dem beeindruckenden Namen Friedrich August Ludwig von
der Marwitz verwendet, der 23 Jahre bevor Herzl geboren wurde, gestorben ist. Er
war ein engagierter Antisemit, lange bevor ein anderer Deutscher den Terminus
„Antisemitismus“ als Ausdruck des gesunden deutschen Geistes erfunden hat.
Marwitz, ein
ultra-konservativer General, war gegen die liberalen Reformen, die in jener Zeit
vorgeschlagen wurden. 1811 warnte er, Preußen werde durch diese Reformen in
einen Judenstaat verwandelt. Er wollte damit nicht sagen, dass die Juden eine
Mehrheit in Preußen werden würden – Gott bewahre – aber dass Geldverleiher und
andere zwielichtige jüdische Händler den Charakter des Landes korrumpieren und
die guten alten preußischen Tugenden zum Verschwinden bringen würden.
Herzl selbst träumte nicht
von einem Staat, der allen Juden der Welt gehören würde. Ganz im Gegenteil –
seine Vision war, alle wirklichen Juden würden in den Judenstaat gehen (ob in
Argentinien oder Palästina hatte er noch nicht entschieden). Sie – und nur sie –
würden fortan „Juden“ sein. All die anderen würden sich in ihren Gastländern
assimilieren und aufhören, Juden zu sein.
Tatsächlich weit, weit
entfernt von der Vorstellung eines „Nationalstaates des jüdischen Volkes“ wie es
sich viele der heutigen Zionisten vorstellen, einschließlich derer, die gar
nicht davon träumen, nach Israel einzuwandern.
ALS ICH
noch ein Junge war, nahm ich an Dutzenden von Demonstrationen gegen die
britische Regierung Palästinas teil. Bei allen schrieen wir uni solo „Freie
Einwanderung! Hebräischer Staat!“ Ich kann mich nicht an eine einzige
Demonstration mit dem Slogan „Jüdischer Staat“ erinnern.
Das war ganz natürlich.
Ohne dass es jemand angeordnet hatte, machten wir eine klare Unterscheidung
zwischen der hebräisch sprechenden Gemeinschaft in Palästina und den Juden in
der Diaspora. Einige von uns machten dies zu einer Ideologie, doch für die
meisten war es ein natürlicher Ausdruck der Realität: hebräische Landwirtschaft
und jüdische Tradition, hebräischer Untergrund und jüdische Religion,
hebräischer Kibbuz und jüdisches Shtedl. Hebräischer Yishuv ( die neue
Gemeinschaft im Lande) und jüdische Diaspora. Ein „Diasporajude“ genannt zu
werden, war die letzte Beleidigung.
Für uns war dies ganz und
gar nicht antizionistisch. Im Gegenteil: der Zionismus wollte eine alt-neue
Nation in Erez Israel schaffen (wie Palästina auf Hebräisch genannt wird), und
diese Nation wurde natürlich sehr von den Juden woanders unterschieden. Es war
nur der Holocaust mit seiner riesig emotionalen Auswirkung, der die verbalen
Regeln änderte.
Wie schlich sich nun die
Formel „Jewish State“ ein? In der Mitte des 1.Weltkriegs 1917 veröffentlichte
die britische Regierung die sogenannte Balfour-Erklärung, die proklamierte, dass
„die Regierung seiner Majestät mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen
Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina betrachtet…“
Jedes Wort wurde nach Monaten von Verhandlungen mit den Zionisten sorgfältig gewählt. Eines der britischen Hauptziele war, die amerikanischen und russischen Juden für die Sache der Alliierten zu gewinnen. Das revolutionäre Russland war dabei, aus dem Krieg auszuscheiden, und der Eintritt des isolationistischen Amerika war wesentlich.
(Übrigens wiesen die Briten
die Worte zurück: „Palästina in eine nationale Heimstätte für das jüdische Volk
zu verwandeln“ und bestanden auf
„in Palästina“ – und ließen so die Teilung des Landes vorausahnen.)
DIE UN entschied 1947 die
Teilung Palästinas zwischen seiner arabischen und jüdischen Bevölkerung. Dies
sagt nichts über das Wesen der beiden zukünftigen Staaten – es benützte nur die
augenblicklichen Definitionen zweier gegensätzlicher Parteien. Über 40% der
Bevölkerung in dem Gebiet, das für den „jüdischen“ Staat bestimmt war, war
arabisch.
Die Befürworter des
„jüdischen Staates“ machten viel aus dem Satz in der „Erklärung der Errichtung
des Staates Israel“ (gewöhnlich die „Unabhängigkeitserklärung“ genannt), die
tatsächlich die Worte „jüdischer Staat“ einschließt. Nach der Zitierung der
UN-Resolution, die sich für einen jüdischen und einen arabischen Staat
aussprach, geht die Erklärung weiter:
„Dementsprechend erklären
wir… auf Grund der Resolution der UN-Vollversammlung die Errichtung eines
jüdischen Staates in Erez Israel, dass er als Staat Israel bekannt wird.“
Dieser Satz sagt nichts
über den Charakter des neuen Staates, und der Kontext ist rein formell.
Einer der Paragraphen der
Erklärung (in seiner ursprünglichen hebräischen Version) spricht über das
„hebräische Volk“: „Wir reichen unsere Hände allen benachbarten Staaten und
ihren Völkern und bieten Frieden und gute Nachbarschaft an und ersuchen sie
dringend, Bande der Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe mit dem hebräischen
Volk in seinem Land zu knüpfen.“ Dieser Satz ist offensichtlich in der
offiziellen englischen Übersetzung gefälscht worden, die die letzten Worte
veränderte: „das souveräne jüdische Volk, das in seinem eigenen Land siedelt.“
Tatsächlich wäre es ganz
unmöglich, über irgendeine ideologische Formel ein Abkommen zu erreichen,
nachdem die Erklärung von allen Fraktionen unterschrieben wurde, von der
anti-zionistischen ultra-orthodoxen bis zur Moskau orientierten kommunistischen
Partei.
JEDE REDE über den
jüdischen Staat führt unvermeidlich zu der Frage: was sind die Juden – eine
Nation oder eine Religion?
Die offizielle israelische
Doktrin sagt, dass „jüdisch“ beides ist: eine nationale und eine religiöse
Definition. Das jüdische Kollektiv, anders als andere, ist beides, national und
religiös. Bei uns ist Nation und Religion dasselbe.
Die einzige Eintrittstür in
dieses Kollektiv ist religiös. Es gibt keine nationale Tür.
Hunderttausende von
nichtjüdischen russischen Immigranten sind nach dem Rückkehrgesetz mit ihren
jüdischen Verwandten nach Israel gekommen. Dieses Gesetz ist ziemlich weit
gefasst. Um die Juden anzuziehen, ist es erlaubt, sogar entfernt nichtjüdische
Verwandten mit zu bringen, einschließlich des Ehepartners eines Enkels eines
Juden. Viele dieser Nichtjuden wollen Juden werden, um als volle Israelis
angesehen zu werden, haben aber vergeblich versucht, als solche akzeptiert zu
werden. Nach israelischem Gesetz ist derjenige ein Jude, der „von einer
jüdischen Mutter geboren wurde oder konvertierte und der keine andere Religion
hat.“ Dies ist eine rein religiöse Definition. Das jüdische religiöse Gesetz
sagt, dass für diesen Zweck nur die Mutter und nicht der Vater zählt.
Es ist extrem schwierig, in
Israel zu konvertieren. Die Rabbiner verlangen, dass der Konvertit alle 613
Gebote der jüdischen Religion hält – was nur sehr wenige Israelis tun. Aber man
kann durch keine andere Tür ein offizielles Mitglied der jüdischen „Nation“
werden. Man wird ein Teil der amerikanischen Nation, wenn man die
US-Staatsangehörigkeit akzeptiert. So etwas existiert bei uns nicht.
Wir haben darum in Israel
einen ständigen Kampf. Einige von uns wünschen , dass Israel ein israelischer
Staat ist, der dem israelischen Volk gehört und tatsächlich ein „Staat aller
seiner Bürger“ ist. Einige wollen uns das religiöse Gesetz überstülpen, das
angeblich von Gott für alle Zeiten auf dem Sinai vor 3200 Jahren festgelegt
wurde und alle gegensätzlichen Gesetze der demokratisch gewählten Knesset
aufheben. Viele wollen überhaupt keine Veränderung.
Aber – in Gottes Namen
(pardon) – was hat das mit den Palästinensern zu tun? oder den Isländern?
DIE FORDERUNG, dass die Palästinenser Israel als „den jüdischen Staat“ anerkennen oder den „Nationalstaat des jüdischen Volkes“, ist absurd.
Die Briten würden sagen,
It’s none of their bloody business (nicht
ihre verdammte Sache). Es würde auf eine Einmischung in interne Angelegenheiten
eines anderen Landes hinauslaufen.
Aber einer meiner Freunde
hat einen einfachen Weg vorgeschlagen, wie man da heraus kommt: Die Knesset kann
einfach beschließen, den Namen des Staates zu ändern, wie zum Beispiel „ die
jüdische Republik Israel“, sodass jedes Friedensabkommen zwischen Israel und dem
arabischen Staat Palästina automatisch die verlangte Anerkennung einschließt.
Dies würde Israel auch auf
die gleiche Linie mit dem Staat bringen, der ihm am meisten ähnelt: „Die
islamische Republik Pakistan“, die nach der Teilung Indiens in etwa derselben
Zeit entstand (nach einem grausamen, gegenseitigen Massaker, nach einem großen
Flüchtlingsproblem und mit einem ständigen Grenzkrieg in Kaschmir. Und der
Atombombe natürlich.
Viele Israelis wären von
dem Vergleich geschockt. Was, wir? Einem theokratischen Staat ähnlich? Nähern
wir uns immer mehr dem pakistanischen Modell und entfernen uns vom
amerikanischen?
Zum Teufel - lasst uns dies
einfach leugnen!
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)