Israel Palästina Nahost Konflikt Infos
Uri Avnery, 15.11.14
KAFR KANNA, ein Dorf in der Nähe
von Nazareth, ist wahrscheinlich der Platz, wo Jesus – gemäß dem Neuen Testament
– Wasser in Wein verwandelt hat. Nun ist es das arabische Dorf, wo die
israelische Polizei Steine in Blut verwandelt.
An dem verhängnisvollen Tag wurde
die Polizei mit einer Gruppe junger Araber konfrontiert, die gegen die
israelischen Bestrebungen protestierte, den Status Quo auf dem Tempelberg (von
den Muslimen „das edle Heiligtum“ genannt) zu verändern. Derartige
Demonstrationen fanden an diesem Tag in vielen arabischen Städten und Dörfern
überall in Israel statt, insbesondere im besetzten Ostjerusalem.
Laut der ersten Polizeiaussage
hat der 22-jährige Araber, Kheir-a-Din Hamdan, die Polizei mit einem Messer
angegriffen. Sie hatten keine andere Wahl, als auf ihn zu schießen und ihn zu
töten.
Wie so häufig bei
Polizeiberichten, so war auch dies ein Bündel Lügen.
UNGLÜCKLICHERWEISE (für die
Polizei) wurde der Vorfall von Sicherheitskameras aufgenommen. Die Bilder
zeigten deutlich, wie Hamdan sich einem Polizeiauto nähert und mit einem
Gegenstand gegen dessen Fenster schlägt, möglicherweise mit einem Messer. Als er
sah, dass dies keine Wirkung zeigte, drehte Hamdan sich um und begann,
fortzugehen.
In diesem Moment sprangen die
Polizisten aus dem Auto und schossen direkt auf den Rücken Hamdans, der
getroffen zu Boden fiel. Die Polizisten stellten sich um ihn herum und begannen,
nach einigem Zögern – offensichtlich eine kurze Beratung – den verletzten
Jugendlichen über den Boden in Richtung des Patrouillenautos zu schleifen, als
ob er ein Sack Kartoffeln sei. Sie warfen ihn auf den Boden des Autos und fuhren
davon (zu einem Krankenhaus, wie es schien) mit ihren Füßen auf oder neben dem
sterbenden Jungen.
Die Bilder zeigten für jeden
deutlich erkennbar, dass die Polizisten die für die Feuereröffnung bestehenden
Polizeibefehle missachtet hatten: Sie befanden sich in keiner unmittelbaren
tödlichen Gefahr, riefen keine Warnungen, schossen nicht zuerst in die Luft,
zielten nicht auf den unteren Teil des Körpers und riefen keinen Krankenwagen.
Der Junge verblutete. Es war ein kaltblütiger Mord.
Es gab einen Aufschrei. Arabische
Bürger randalierten vielerorts. Unter diesem Druck leitete das polizeiliche
Untersuchungskomitee (das zu dem Justizministerium gehört) eine Untersuchung
ein. Die erste Untersuchung deckte bereits mehrere Fakten auf, die den Vorfall
sogar noch schwerwiegender machten. Bevor die Kameras die Szene aufgezeichneten
hatten, hatte die Polizei anscheinend Hamdans Cousin verhaftet und in das Auto
gezogen. Offenbar wollte Kheir-a-Din, dass sie seinen Cousin freilassen und
schlug deshalb gegen das Auto. Der Cousin sah, wie er erschossen und auf den
Boden des Autos geworfen wurde, in dem er selbst saß.
Die erste Reaktion des
Polizeikommandos war, das Verhalten der Polizisten zu rechtfertigen, deren Namen
und Gesichter geheim gehalten wurden. Sie wurden schnell zu einer anderen
Polizeieinheit versetzt.
ICH BESCHREIBE
den Vorfall ausführlich, nicht, weil
dieser einmalig ist, sondern im Gegenteil – weil er so typisch ist. Das, was
daran besonders war, war, dass niemand von dem Vorhandensein der Kamera wusste.
Mehrere Kabinettminister lobten
das beispielhafte Verhalten der Polizei bei diesem Vorfall. Dies kann als
Schlagzeilenjagd extrem rechter Demagogen abgetan werden, die glauben, dass ihre
Wähler jegliches Schießen auf Araber befürworten.
Das sollten sie ja wissen.
Jedoch eine öffentliche Äußerung
kann nicht so einfach abgetan werden: die vom Minister für
Heimatsicherheit.
Ein paar Tage vor dem Vorfall
erklärte Minister Yitzhak Aharonowitz, ein Protégé von Avigdor Lieberman und
selbst ehemaliger Polizeioffizier, dass er nicht wolle, dass irgendein Terrorist
einen Anschlag überlebe.
Das ist eine deutlich illegale
Aussage. In der Tat ist dies eine Aufforderung zu Verbrechen.
Nach dem Gesetz dürfen Polizisten
keine, „Terroristen“ oder irgendjemanden anderen einfach erschießen, nachdem sie
sie verhaftet haben, besonders dann nicht, wenn sie verwundet sind und keine
„tödliche Gefahr“ darstellen.
Aharonowitz erscheint immer als
netter Kerl. Er hat ein seltenes Talent,
nämlich, bei jedem berichtenswerten Vorfall vor den Kameras aufzutauchen, ob bei
einem schweren Straßenunfall, einem politischen Verbrechen oder einem Feuer.
Gott weiß, wie ihm dies gelingt.
In Wahrheit hat der Minister für
Heimatsicherheit (vorher als Polizeiminister bekannt) praktisch keine Funktion.
Seit den Tagen des britischen Mandats ist der Kommandeur der Polizei der
Generalinspektor, ein uniformierter Berufsoffizier. Die einzige Polizeifunktion
des Ministers ist, der Regierung die Ernennung eines neuen Kommandeurs zu
empfehlen.
Aber für gewöhnliche Polizisten
klingt eine Aussage des Ministers wie ein Befehl. Mit ziemlicher
Wahrscheinlichkeit war die verantwortungslose Äußerung des Ministers eine
direkte Anstiftung zu dem Verbrechen von Kafr Kanna, insbesondere, weil weder
der Generalinspekteur, noch der Premierminister diese verurteilt hat.
All das erinnert einen an die
verhängnisvolle Äußerung des damaligen Premierministers, Yitzhak Shamir, 1984.
Auch er hatte gesagt, dass nach einem Anschlag kein Terrorist am Leben bleiben
solle. Das direkte Ergebnis war die „Bus-Linie 300“-Affäre, bei der vier
arabische Jungen, die keinerlei Waffen bei sich trugen, einen israelischen Bus
entführt haben. Sie wurden angehalten, zwei wurden während der Rückeroberung
erschossen und die beiden anderen überlebten und wurden verhaftet. Einer von
ihnen wurde vom Chef des Shin Bets, Avraham Shalom, persönlich ermordet. Er hat
seinen Schädel mit einem Stein zertrümmert. Als
die Bilder veröffentlicht wurden (zuerst von mir), wurden Shalom und seine
Kollegen begnadigt. Shamir leugnete jegliche Verantwortung.
ZURÜCK ZU den Vorfällen der
Gegenwart. Ist das nun die seit langem erwartete „Dritte Intifada“? Ja? Nein?
Armee und Polizeioffiziere,
Politiker und besonders Medienkommentatoren versuchen eifrig, diese Frage zu
beantworten. (Intifada bedeutet wortwörtlich: „abschütteln“)
Das ist nicht nur ein
semantisches Spiel. Die Definition bringt operative Konsequenzen mit sich.
Tatsache ist, dass das gesamte
Land nun in Flammen steht. Ostjerusalem ist bereits zum Kampfgebiet geworden,
mit täglichen Demonstrationen, Unruhen und Blutvergießen. In Israel selbst
nehmen nach dem Mord in Kafr Kanna tägliche Streiks und Demonstrationen zu. In
der Westbank gab es einige Demonstrationen, eine
jüdische Frau wurde erstochen und ein Araber erschossen.
Mahmoud Abbas tut alles in seiner
Macht stehende, um einen allgemeinen Aufstand zu verhindern, der mit ziemlicher
Sicherheit sein Regime gefährden könnte. Aber der Druck von unten her steigt.
Der Volksmund hat bereits einen
Namen für die Situation gefunden: „Die Intifada der Einzelpersonen.“ Für die
israelischen Sicherheitschefs ist dies ein Albtraum. Sie sind auf eine
organisierte Intifada vorbereitet. Sie wissen, wie sie diese mit Gewalt
niederdrücken können - wenn es sein muss, mit noch mehr Gewalt. Aber, was macht
man mit einer Intifada, die gänzlich von unabhängigen Einzelpersonen
durchgeführt wird, ohne Befehle von irgendeiner Organisation, ohne
Gruppierungen, die von Kollaborateuren des Informationsnetzes des Shin Bet
infiltriert werden können?
Ein individueller Araber hört die
Nachrichten, gerät in Wut wegen der letzten Verletzung der Heiligtümer und rast
mit seinem Auto in die nächste Gruppe israelischer Soldaten oder Zivilpersonen.
Oder er nimmt ein Messer aus der Küche des israelischen Restaurants, wo er das
Geschirr abwäscht und sticht wahllos auf Menschen auf der Straße ein. Keine
vorherige Information. Kein Netzwerk, das infiltriert werden muss, ziemlich
frustrierend.
Das Zentrum des Sturms ist der
Tempelberg. Die Al-Aqsa Moschee („ die weit entfernte“) der drittheiligste Ort
des Islams steht unter Belagerung. Einmal betraten israelische Soldaten - mit
ihren Stiefeln! - die Moschee bei
der Verfolgung Steine werfender Demonstranten.
WOHIN GEHEN wir?
Bereits seit Jahrzehnten ist eine
Gruppe israelischer Fanatiker damit beschäftigt, einen neuen jüdischen Tempel zu
planen, der an Stelle der Al-Aqsa-Moschee und dem fantastischen Felsendom erbaut
werden soll. Sie bereiten Gewänder für Priester vor und treffen die notwendigen
Vorbereitungen für Tieropfer.
Bis vor kurzem wurden sie als
Kuriosum betrachtet, doch jetzt nicht mehr.
Mehrere Kabinett-Mitglieder und
Knesset-Mitglieder haben die heilige Anlage betreten, um zu beten, unter
Missachtung des etablierten Status Quo. In der gesamten islamischen Welt löste
dies Alarm aus. Palästinenser in Ostjerusalem, der Westbank, im Gazastreifen und
im eigentlichen Israel sind außer sich vor Wut.
Netanjahu verspricht, die Ruhe
wieder herzustellen. Aber er tut genau das Gegenteil.
Jesus hat Wasser in Wein verwandelt. Netanjahu verwandelt Wasser in Benzin und gießt es in die Flamme.
(Aus dem Englischen: Inga Gelsdorf, vom Verfasser autorisiert)