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Ein neuer Start
Uri
Avnery, 21.Oktober 2017
EINES TAGES
hatte die Labor-Partei das Gefühl, dass sie einen neuen Führer braucht.
Das
erlebte die Partei etwa alle paar Jahre. Die Partei ist in schlechter
Verfassung. Sie sieht eher wie ein politischer Leichnam aus, denn wie ein
lebender Organismus. Gewünscht wird
ein neuer Führer, der charismatisch, energisch und enthusiastisch ist.
Man fand
Avi Gabbay.
Warum
ihn? Keiner ist sich wirklich sicher.
Avi
Gabbay hat keine sichtbaren Qualitäten einer politischen Führerschaft. Überhaupt
kein Charisma. Nicht besonders viel Energie. Selbst keinen Enthusiasmus und
keine Fähigkeit, andere zu begeistern.
Nachdem
er als Regierungsangestellter sich mit der Mobile-Telefon-Industrie
befasst hat, wurde er selbst
der erfolgreiche Direktor des größten Mobil-Telefon-Konzerns. Dann ging er in
die Politik und schloss sich einer
moderaten Partei des Rechten Flügels an und wurde zum Minister für Umweltschutz
ernannt. Als der extrem rechte Avigdor Liberman zum Verteidigungsminister
ernannt wurde, verließ Gabbay die Regierung und seine Partei und schloss sich
der Labor-Partei an. Das war erst vor einem Jahr.
Er hat
einen bedeutsamen Vorzug: er ist ein Mizrahi, ein orientalischer Jude. Seine
Eltern sind Einwanderer aus Marokko. Er ist das siebte von acht Kindern. Da die
Labor-Partei als westliche, ashkenasische
Elitegruppe angesehen wird, sind diese passiven Attribute wichtig. Bis zu
einem gewissen Grad.
GABBAY VERSCWENDETE
keine Zeit bevor er seine politischen Identität vorzeigte
Als
erstes hielt er eine Rede, in der er erklärte, dass er nicht in derselben
Regierung mit der „Gemeinsamen
Liste“ sitzen wolle.
Die
Gemeinsame Liste ist die vereinigte (oder nicht vereinigte) Liste der arabischen
Gemeinschaft in Israel. Sie vereinigt die drei sehr verschiedenen arabischen
Parteien: die Kommunistische
Partei, die überwiegend arabisch ist,
aber auch ein paar Juden einschließt (einschließlich einem jüdischen Mitglied
des Parlamentes), die Balad-Partei, die säkular und nationalistisch ist und eine
religiöse, islamische Partei.
Wie
kommt es, dass diese so verschiedenen Parteien eine Liste wurden?
Sie verdanken diese Errungenschaft dem Genius des großen Araber-Hassers
Avigdor Lieberman (s.oben), der sah, dass alle drei Parteien klein waren und
entschied sich, sie zu eliminieren, indem er die Wahlschwelle erhöhte.
Doch anstelle sie getrennt zu löschen, vereinigte er sie. Zweifellos
vertritt ihre Liste die große
Mehrheit von Israels
palästinensischen Bürgern, die mehr als
20% der Bevölkerung darstellen. So
seltsam dies klingen mag, jeder fünfte Israeli ist ein Araber.
Die
einfache numerische Tatsache ist, dass ohne die Unterstützung der arabischen
Mitglieder in der Knesset, keine linke Regierung existieren kann. Yitzhak
Rabin würde nicht Ministerpräsident geworden sein und das Oslo-Abkommen
würde nicht zustande gekommen sein, ohne die Unterstützung
„von außen“, vom arabischen Block.
Warum
schlossen sie sich nicht Rabins Regierung an? Beide Seiten hatten Angst, Stimmen
zu verlieren. Viele Juden können sich nicht eine Regierung vorstellen, die
Araber einschließt; und viele Araber können sich nicht vorstellen, dass ihre
Vertreter eine „kollektive Verantwortlichkeit“ in einer Regierung teilen, die
sich vor allem damit beschäftigt, Araber zu bekämpfen.
Das hat
sich nicht verändert. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass sich die Araber
einer Gabbay-Regierung anschließen, wenn er sie einlädt, sich ihm
anzuschließen. Es ist sogar noch unwahrscheinlicher, dass sie solch eine
Einladung bekommen.
Warum
also solch eine Erklärung abgeben?
Gabbay ist kein Dummkopf. Weit davon entfernt. Er ist davon überzeugt, dass die
Araber irgendwie schon in seiner Tasche sind. Sie konnten sich nicht einer
Likud-Regierung anschließen. Indem er eine offensichtlich anti-arabische
Erklärung abgibt, hofft er, Stimmen vom rechten Flügel zu gewinnen.
Sein
Vorgänger, Yitzhak Herzog, hat sich öffentlich beklagt, dass zu viele Leute die
Labor-Partei beschuldigen, sie bestehe aus zu vielen
„Araber-Liebhabern“. Schrecklich.
FALLS IRGENDJEMAND
hoffte, dass dies ein einmaliger Fall wäre, so
belehrte Gabbay sie eines Besseren. Nach dem ersten Schlag kamen weitere.
Er
erklärte, dass Gott Abraham das ganze Land zwischen
dem Meer und dem Jordan versprochen hat. Das ist nicht ganz korrekt. Gott
hat uns alles Land vom Euphrat bis zum Fluss Ägyptens versprochen. Gott hat
dieses Versprechen nie gehalten.
Letzte
Woche erklärte Gabbay, dass in einem zukünftigen Friedensabkommen mit den
Palästinensern keine einzige Siedlung in der Westbank evakuiert werden würde.
Bis
jetzt gibt es ein schweigendes Übereinkommen zwischen israelischen und
palästinensischen Friedensaktivisten, dass Frieden sich
auf einen begrenzten Austausch von Gebieten gründen wird. Der sog.
„Siedlungsblock“ (Anhäufung von
Siedlungen nahe der Grünen-Grenz-Linie) wird Israel angeschlossen und ein
gleichgroßes Stück israelisches Land (z.B. entlang dem Gazastreifen) wird
Palästina angeschlossen. Dies würde einige Dutzend „isolierter“ Siedlungen in
der Westbank, gewöhnlich von fanatischen religiösen Rechten bewohnt,
zurücklassen, die unter Zwang evakuiert werden müssten.
Gabbays
neue Erklärung bedeutet, dass nach einem Friedensabkommen diese Inseln von
rassistischem Extremismus weiter dort existieren, wo sie jetzt sind. Kein
Palästinenser wird damit einverstanden sein. Dies macht den Frieden selbst
theoretisch unmöglich.
Im
Allgemeinen stimmt Gabbay der „Zwei-Staaten-Lösung“ zu – aber nur unter gewissen
Bedingungen. Erstens, die
israelische Armee müsste, im ganzen entmilitarisierten palästinensischen Staat
frei handeln dürfen. Die israelische Armee würde auch Positionen entlang dem
Jordan haben und würde so den palästinensischen „Staat“ zu einer Art Enklave
machen.
Dies ist
ein „Friedensplan“ ohne Interessenten. Gabbay ist viel zu klug, um dies nicht zu
realisieren. Aber all dies ist nicht für arabische Ohren entworfen. Es ist für
rechte Israelis gedacht. Da eine von Labor-geführte „Zentrum-Linke“-Koalition
rechte oder religiöse Stimmen braucht, sieht die Beweisführung vernünftig aus.
Sie ist es aber nicht.
Es
besteht keine Aussicht, dass eine erhebliche Anzahl von Rechten sich zur Linken
bewegt, selbst wenn die Linke von einer Person wie Gabbay geführt wird.
Die Rechten verabscheuen die Labor-Partei, nicht erst seit gestern,
sondern seit Generationen.
DIE LABOR-PARTEI
wurde vor hundert Jahren geboren. Sie war die politische Hauptkraft, die zur
Gründung des jüdischen Staates führte und sie fast dreißig Jahre lang führte.
Ihre Macht war gewaltig, viele (auch ich)
klagten sie wegen diktatorischer
Tendenzen an.
Während
all dieser Jahre war die Hauptbeschäftigung der zionistischen Führung der
historische Kampf gegen das palästinensische Volk um den Besitz des Landes.
Abgesehen von einer winzigen Minderheit war die Partei immer nationalistisch,
sogar militaristisch. Sie war nur in ihren sozialen Aktivitäten links.
Sie schuf die jüdische Arbeiterbewegung, die mächtige Handelsunion (die
„Histadrut“), die Kibbuzim und vieles mehr.
Dieses
soziale Netzwerk ist seit langem degeneriert. Korruption herrschte vor, viele
Skandale wurden aufgedeckt (vor allem von meinem Nachrichten-Magazin). Als der
rechte Flügel unter Menachem Begin 1977 die Regierung übernahm, war die
Labor-Partei schon ein lebender Leichnam. Sie hat viele Male den Namen geändert.
(ihr augenblicklicher Name ist das „Zionistische Lager“), aber sie wurde von
Wahl zu Wahl weniger.
KANN DIE
Labor-Partei überhaupt noch gerettet werden? Ich bezweifle es.
Nach einem mächtigen, spontanen sozialen
Aufstand schien es, während der letzten Wahlen, eine neue Chance zu geben.
Einige der neuen Führer, männliche und weibliche, die aus dem Nirgendwo
erschienen, schlossen sich der Labor-Partei an und
kamen in die Knesset. Sie sind ursprünglich Linke und Friedensaktivisten.
Aber irgendwie wurden ihre Stimmen immer gedämpfter. Statt die Partei
anzufeuern, hat die Partei sie unterdrückt. Es sieht so aus, als könnte sie
nicht repariert werden.
Eine nie
gestellte Frage ist - wünscht die Partei wirklich, die Macht zu übernehmen? Wie
es aussieht, ist die Antwort Ja, natürlich. Ist dies nicht das höchste
politische Ziel?
Nun, ich
bezweifle es. Die Existenz einer parlamentarischen Opposition ist eine. Ich weiß
es, weil ich zehn Jahre lang in dieser Situation war. Die Knesset ist ein guter
Platz, man wird die ganze Zeit von den Saaldienern verwöhnt, man bekommt ein
gutes Gehalt und ein Büro, man hat überhaupt keine Verantwortlichkeiten (falls
man sich nicht selbst welche schafft). Man muss sich natürlich bemühen, alle
vier Jahre wieder gewählt zu werden. Falls man nicht besonders daran
interessiert ist, ein Minister zu werden mit all der Arbeit und Verantwortung
und öffentlichen Kritik, die damit verbunden ist. Man muss nur überleben.
Welches
ist die praktische Schlussfolgerung? Die Labor-Partei vergessen und eine neue
politische Kraft schaffen.
Wir
brauchen neue Führer, junge, charismatische und
entschlossene mit eindeutigen
Zielen, die dem Friedenslager neuen Schwung geben.
Ich
unterschreibe das Bild nicht, das die
Öffentlichkeit zwischen einer rechten Mehrheit
und einer linken Minderheit teilt -- mit
den Orthodoxen auf der einen und den Arabern auf der andern Seite.
Ich bin
davon überzeugt, dass es eine rechte Minderheit und eine linke Minderheit gibt.
Zwischen beiden gibt es eine große Menge Leute, die auf eine Botschaft
warten, die sich Frieden wünscht, aber gehirngewaschen ist und nun glaubt, dass
Frieden unmöglich ist („es gibt keinen Partner“).
Was wir
dringend benötigen, ist ein neuer Anfang.
(dt.
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)