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ARMER OBAMA
Uri Avnery. 31. August 2013
ARMER OBAMA, ich bemitleide ihn.
Gleich von Anfang an seiner Begegnung mit der Geschichte, hielt er die Rede
in Kairo. Eine großartige Rede. Eine aufbauende Rede. Eine erbauliche Rede.
Er sprach zu der gebildeten Jugend der ägyptischen Hauptstadt. Er sprach über
die Tugenden der Demokratie, die glänzende Zukunft, die eine liberale, moderate
muslimische Welt erwartet.
Hosni Mubarak wurde nicht eingeladen. Das war ein dezenter Hinweis, dass er ein
Hindernis für die glänzende Welt dargestellt hat.
Vielleicht wurde der Hinweis aufgegriffen. Vielleicht hat die Rede die Saat für
den arabischen Frühling gesät..
Wahrscheinlich war sich Obama nicht der Möglichkeit bewusst, dass Demokratie,
die tugendhafte Demokratie, zu islamistischer Herrschaft führen könnte. Er
streckte seine Hand zögernd und versuchsweise der Moslembruderschaft entgegen,
nachdem sie die Wahl gewonnen hatte. Aber wahrscheinlich plante die CIA zur
gleichen Zeit bereits die Übernahme durch das Militär.
So sind wir wieder genau da, wo wir am Tag vor Der Rede waren: bei einer
unbarmherzigen Militärdiktatur.
Armer Obama.
JETZT HABEN wir ein ähnliches Problem mit Syrien.
Der Arabische Frühling erzeugte einen Bürgerkrieg. Mehr als einhundert Tausend
Menschen wurden bereits getötet, und die Anzahl wächst von Tag zu Tag.
Die Welt stand dabei und schaute hilflos zu. Für Juden war dies eine Erinnerung
an den Holocaust, als - wie es in der Schulstunde jeder Junge und jedes Mädel
lernt - „die Welt zusah und schwieg“.
Bis vor einigen Tagen etwas geschah. Eine rote Linie wurde überschritten.
Giftgas wurde eingesetzt. Die
zivilisierte Menschheit verlangte, dass gehandelt wird. Von wem? Von dem
Präsidenten der Vereinigten Staaten, natürlich.
Armer Obama.
EINIGE ZEIT zuvor hielt Obama eine Rede, eine weitere jener Reden, in denen er
eine rote Linie gezogen hat: keine Massenvernichtungswaffen, kein Giftgas.
Nun hat es den Anschein, als ob diese rote Linie überschritten worden wäre. Man
hat Giftgas eingesetzt.
Wer würde so etwas Schreckliches tun? Dieser blutige Tyrann natürlich, Bashar
al-Assad. Wer sonst?
Die öffentliche Meinung in Amerika,
tatsächlich sogar die öffentliche Meinung im gesamten Westen, verlangte von
Obama, dass er handelt. Er hat es gesagt, also muss er auch handeln.
Andererseits würde sein Image vielerorts bestätigt, das Image eines Feiglings,
eines Schwächlings, eines Hasenfußes, eines Schwätzers, der kein Täter ist.
Das würde, selbst weit von Damaskus entfernt, seinen Erfolg auf dem Gebiet von
Wirtschaft, Gesundheitswesen und Klima verhindern.
Der Mann hat sich wahrhaftig selbst in die Enge geredet. Die Notwendigkeit zu
handeln, wurde zur höchsten Priorität. Ein politischer Albtraum.
Armer Obama.
JEDOCH KOMMEN jetzt mehrere Fragen
auf.
Vor allem, wer sagt, dass Assad das Gas freigesetzt hat?
Die reine Logik spricht scheinbar dagegen. Als es geschah, war eine Gruppe
UN-Experten - keine Dummköpfe - im
Begriff, den Verdacht chemischer
Waffen vor Ort zu untersuchen. Warum sollte ein Diktator mit gesundem
Menschenverstand ihnen den Beweis seiner Gesetzesübertretung liefern? Selbst,
wenn er glaubte, die Beweise könnten rechtzeitig beseitigt werden, könnte er
sich dessen nicht sicher sein. Hochentwickelte Geräte könnten es verraten.
Zweitens, was könnten chemische Waffen erreichen, was herkömmliche Waffen nicht
können? Welche Strategie oder sogar welchen taktischen Vorteil bieten sie, der
nicht mit anderen Mitteln erreicht werden könnte?
Das Argument, um diese Logik zu widerlegen, ist, dass Assad kein logischer
Mensch ist, kein normaler, sondern ein verrückter Despot, der in seiner eigenen
Welt lebt. Aber ist er das? Bis jetzt zeigte sein Verhalten, dass er ein Tyrann
ist, grausam und skrupellos. Aber nicht geisteskrank, eher berechnend, kalt. Und
er ist umgeben von einer Gruppe Politiker und Generäle, die alles zu verlieren
haben und die eine einzigartig kaltblütige Gruppe zu sein scheinen.
Doch Obama muss entscheiden, ob er aufgrund von Beweisen, die sehr zweifelhaft
sind, angreift; derselbe Obama, der die verlogenen Beweise, die George Bush jr.
zur Rechtfertigung seines Angriffs auf den Iran erbracht hat, durchsah,
und der zu seinem großen Verdienst, zu Recht von Anfang an sich dem Angriff
widersetzte. Jetzt steht er auf der anderen Seite.
Armer Obama.
UND WESHALB Giftgas? Was ist so
besonders dabei, was so „rot-liniert“?
Wenn ich getötet werde, ist es mir wirklich egal, ob ich durch eine Bombe, eine
Granate, Maschinengewehre oder durch Gas umkomme.
Sicher, durch Gas, das ist etwas unheimlich. Der menschliche Verstand weicht
zurück von etwas, dass die Luft vergiftet, die wir atmen. Atmen ist die
elementarste menschliche Notwendigkeit.
Aber Giftgas ist keine Massenvernichtungswaffe. Es tötet wie jede andere Waffe.
Man kann es nicht mit Atombomben, die von Amerika in Hiroshima und Nagasaki
eingesetzt wurden, gleichsetzen.
Es ist auch keine Waffe, die einen Krieg entscheidet. Es hat den Verlauf des 1.
Weltkrieges, in dem es umfangreich eingesetzt wurde, nicht verändert. Sogar die
Nazis sahen keinen Vorteil darin, es im 2. Weltkrieg einzusetzen – und nicht
nur, weil der Gefreite Adolf Hitler durch dieses Gas im 1. Weltkrieg vergiftet
wurde (und vorübergehend erblindete)
Aber, da Obama eine Linie für Giftgas in den syrischen Sand gezogen hatte,
konnte er dieses nicht ignorieren.
Armer Obama.
ABER DER Hauptgrund für Obamas langes Zögern ist ein ganz anderer: er ist
gezwungen, gegen die wahren Interessen der Vereinigten Staaten zu handeln.
Assad mag ein schrecklicher Hundesohn sein, aber nichtsdestotrotz dient er den
USA.
Viele Jahre lang hat die Assad-Familie den Status Quo in der Region unterstützt.
Die israelisch-syrische Grenze ist die ruhigste Grenze, die Israel jemals hatte,
trotz der Tatsache, dass Israel Land annektiert hat, dass unbestritten zu Syrien
gehört. Sicher, Assad nutzte die Hisbollah, um Israel von Zeit zu Zeit zu
provozieren, aber das war keine echte Bedrohung.
Im Gegensatz zu Mubarak gehört Assad einer Minderheitssekte an. Im Gegensatz zu
Mubarak hat er eine starke und gut organisierte politische Partei mit einer
authentischen Ideologie. Die nationalistische pan-arabische Ba'ath
(„Wiederauferstehungspartei“) wurde von dem Christ, Michel Aflaq und seinen
Kollegen hauptsächlich als Bollwerk gegen die islamistische Ideologie gegründet.
Wie im Fall von Mubarak, würde der Fall von Assad höchstwahrscheinlich zu einem
islamistischen Regime führen, radikaler als die ägyptische Moslembruderschaft.
Die syrische Schwesterpartei der Brüder war immer radikaler und gewalttätiger
als die ägyptische Mutterbewegung (vielleicht, weil das syrische Volk von Natur
einen weitaus aggressiveren Charakter besitzt).
Darüber hinaus liegt es in der Natur eines Bürgerkrieges, dass die extremen
Elemente die Oberhand gewinnen, weil ihre Kämpfer entschlossener und
aufopfernder sind. Kein Betrag fremder Hilfe wird die moderate, säkulare Sektion
der syrischen Rebellen stark genug stützen, um nach Assad die Regentschaft zu
übernehmen. Wenn der syrische Staat intakt bleibt, wird er ein radikaler
islamistischer Staat werden; insbesondere, wenn es freie demokratische Wahlen
gibt, wie sie es in Ägypten waren.
*
Aus der Sicht von Washington DC würde dies ein Desaster sein. Also haben wir
hier das kuriose Bild von Obama, der von seiner eigene Rhetorik getrieben wird,
Assad anzugreifen, wohingegen all seine eigenen Geheimdienste Überstunden
machen, um einen Sieg der Rebellen zu verhindern.
Wie jemand kürzlich schrieb: Es liegt im amerikanischen Interesse, dass der
Bürgerkrieg unaufhörlich weitergeht, ohne dass irgendeine Seite gewinnt. Wozu
praktisch alle israelischen politischen und militärischen Führer „Amen“ sagen
würden.
Folglich muss jeder Angriff gegen Assad, vom strategischen Gesichtspunkt der USA
aus, minimal sein, eine reine Stichelei, die das syrische Regime nicht gefährden
würde.
Wie bekannt, schaffen Liebe und Politik seltsame Bettgenossen. Zur Zeit ist eine
sehr seltsame Mischung von Mächten am Überleben des Assad-Regimes interessiert:
die USA, Russland, der Iran, die Hisbollah und Israel. Doch Obama wird gedrängt,
ihn anzugreifen.
Armer Obama.
INDEM ICH versuche, die Denkweise
der CIA zu verstehen, sage ich, dass die ägyptische Lösung von ihrem Standpunkt
aus auch die beste für Syrien ist: den Diktator stürzen und einen anderen
Diktator auf seinen Platz setzen. Militärdiktatur für jeden in der arabischen
Region.
Das wäre nicht die Lösung, mit der Obama in den Geschichtsbüchern identifiziert
werden möchte.
Armer, armer Obama.
(Aus dem Englischen: Inga Gelsdorf
und Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)