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Parlamentarisches Gesindel
Uri Avnery, 20. Mai 2017
ALS ICH
das erste Mal die Knesset betrat, war ich über den niedrigen Standard ihrer
Debatten schockiert. Die Reden waren voller Clichés, Platituden und Partei-
Slogans, der intellektuelle Inhalt war fast Null.
Das war vor 52 Jahren. Unter den Mitgliedern waren David Ben-Gurion, Menachim
Begin, Levi Eshkol und mehrere andere ihrer Art.
Diese Knesset sieht heute im Rückblick wie ein Olymp aus, verglichen mit der
gegenwärtigen Zusammensetzung dieser nicht-illustren Körperschaft.
EINE INTELLIGENTE
Debatte in der heutigen Knesset würde wie ein Vaterunser in einer Synagoge
wirken.
Setzen wir uns damit auseinander: die gegenwärtige Knesset ist voll von dem, was
ich parlamentarisches Gesindel nennen würde. Männer und Frauen, mit denen ich
keine Tasse Kaffee trinken würde. Einige von ihnen sehen aus und benehmen sich
wie laufende Scherze. Einer steht unter den
Verdacht, dass er ein Bordell in Ost-Europa habe. Mehrere würden von
jedem respektablen privaten Unternehmer zurück-gewiesen werden.
Diese Leute sind jetzt in einem beispiellosen Wettbewerb ungeheuerlicher
„privater“ Gesetzesvorlagen – Gesetzesvorlagen, die von individuellen
Knessetmitgledern, aber nicht von der Regierung zur Abstimmung vorgeschlagen
werden. Ich habe schon vor kurzem diese Gesetzesvorlagen erwähnt – wie die
Gesetzesvorlage, Israel als „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ anzuerkennen -
und sie vervielfältigen sich pro Woche. Sie erwecken kein spezielles
Interesse, weil die Gesetzesvorlagen, die von der Regierung eingeführt werden,
kaum sinnvoller sind.
Die Frage, die sich notwendiger Weise erhebt: Wie wurden diese Leute überhaupt
gewählt.
In den alten Parteien, wie der Likud und das Zionistische Lager (auch als der
Labor-Partei bekannt) gibt es Vorwahlen. Diese sind interne Wahlen, in denen
die Partei Mitglieder die Kandidaten wählen. Zum Beispiel hat der Chef des
Arbeiter-Komitees eines großen öffentlichen Unternehmens alle Beschäftigten und
ihre Familien in der Likud registriert und sie setzten ihn auf die Partei-Liste
für die allgemeinen Wahlen. Jetzt ist er Minister.
Neuere „Parteien“ kommen ohne all diesen Unsinn aus. Der Gründer der Partei
wählt nach Lust und Laune die Kandidaten der Partei persönlich aus. Die
Mitglieder sind völlig von ihm abhängig. Wenn sie dem Führer nicht gefallen,
stößt er sie einfach bei den nächsten Wahlen hinaus und ersetzt sie durch
fügsamere Lakaien.
DAS ISRAELISCHE
System erlaubt es jeder Gruppe von Bürgern eine Wahlliste aufzustellen. Wenn sie
die Minimumschwelle überschreiten, kommen sie in die Knesset.
Bei den ersten Wahlen war das Minimum 1%. So kam ich selbst dreimal in die
Knesset. Seit damals hat sich die Schwelle erhöht und steht jetzt bei 3,25% der
gültigen Stimmen.
Natürlich war ich ein großer Unterstützer dieses ursprünglichen Systems. Es hat
tatsächlich einige auffallende Vorteile. Die israelische Öffentlichkeit hat
viele Gruppen – Juden und Araber, westliche Juden und östliche Juden, neue
Immigranten und Old-Timers, religiöse (verschiedener) Arten und säkulare,
reiche und arme und noch mehr. Das System erlaubt all diesen, vertreten zu
sein. Der Ministerpräsident und die Regierung werden von der Knesset gewählt. Da
keine Partei bei den Wahlen jemals eine absolute Mehrheit erhalten hat, gründen
sich die Regierungen auf Koalitionen.
Ein Mal wurde das Gesetz verändert und der Ministerpräsident wurde direkt
gewählt. Das Publikum wurde schnell desillusioniert und das alte System wurde
wieder eingesetzt.
Seit ich jetzt das Gesindel gesehen habe , das in die Knesset kam, habe ich
meine Meinung geändert. Offensichtlich läuft im bestehenden System etwas
äußerst falsch..
NATÜRLICH GIBT
es kein perfektes Wahlsystem. Adolf Hitler kam bei einem demokratischen System
an die Macht. Alle Arten von abscheulichen Führern wurden demokratisch gewählt.
Kürzlich wurde Donald Trump, ein unwahrscheinlicher Kandidat, gewählt.
Es gibt viele verschiedene Wahlsysteme in der Welt. Sie sind das Ergebnis von
Geschichte und den Umständen. Verschiedene Völker haben verschiedene Charaktere
und Vorzüge.
Das britische System, eines der ältesten, ist sehr konservativ. Kein Platz für
neue Parteien oder unberechenbare Persönlichkeiten. Jeder Distrikt wählt ein
Mitglied. Der Sieger nimmt alles. Politische Minderheiten haben keine Chancen.
Das Parlament war ein Club von Gentlemen und bis zu einem gewissen Grad ist es
das noch (falls man die Gentlewomen mitzählt.)
Das viel jüngere US-System, ist sogar problematischer. Die Verfassung wurde von
Gentlemen geschrieben. Sie waren gerade den britischen König losgeworden, so
setzten sie an seine Stelle einen Quasi–König, der Präsident genannt wird und
der die supreme Macht besitzt. Mitglieder von beiden Häusern des Parlamentes
werden in Wahlbezirken gewählt.
Da die Gründer dem Volk nicht ganz vertrauten, stellten sie einen Club von
Gentlemen zusammen als eine Art Filter. Dieser wird das Wahl-Kolleg genannt und
gerade jetzt wählten sie (wieder) einen Präsidenten, der nicht die Mehrheit der
Stimmen erhielt.
Die Deutschen haben ihre Lektion gelernt: sie erfanden ein komplizierteres
System. Die Hälfte der Mitglieder des Parlaments wird in Wahlbezirken gewählt,
die andere Hälfte in landesweiten Listen. Dies bedeutet, dass die eine Hälfte
direkt ihren Wähler verantwortlich ist, aber dass politische Minderheiten auch
eine Chance haben, gewählt zu werden.
FALLS ICH
gefragt worden wäre, eine Verfassung für Israel zu schreiben (wir haben keine),
was würde ich wählen? (Bitte keine Panik - meinen Berechnungen nach gibt es etwa
1 zu einer Trillion Chance, dass
dies geschieht.)
Die Hauptfragen sind:
(a)Werden die Mitglieder des Parlaments in Wahlbezirken gewählt oder durch
landesweite Listen?
(b) Wird der Ministerpräsident durch die allgemeine Öffentlichkeit oder vom
Parlament gewählt?
Jede Antwort hat ihre Für und Wider – ihre Pros und Contras. Es ist eine
Entscheidung über das, was unter den bestehenden Umständen in jedem Land
wichtiger ist.
Ich war sehr von den letzten Wahlen in Frankreich beeindruckt. Der Präsident
wurde in einer nation-weiten Wahl gewählt - aber mit einer unglaublich
bedeutenden und weisen Institution: Die Zweite Runde.
Bei einer normalen Wahl wählen die Leute zunächst emotional. Sie mögen sich
über jemandem ärgern und wollen diesen Ärger zum Ausdruck bringen. Also wollen
sie die Person wählen, die sie mögen, egal wie seine oder ihre Chancen sind.
Also gibt es mehrere Sieger und der endgültige Sieger mag jemand sein, der nur
eine Minderheit der Stimmen erhalten hat.
Die Zweite Runde korrigiert alle diese Fehler. Nach der ersten Runde haben die
Leute Zeit, nachzudenken. Unter den Präsidentschaftskandidaten, die eine
Chance haben zu gewinnen, wer ist mir der nächste (oder das geringere Übel).
Am Ende bekommt ein Kandidat notwendigerweise eine Mehrheit.
Dasselbe gilt auch für Kandidaten der Nationalversammlung, das Parlament. Sie
werden in Wahlbezirken gewählt, aber wenn keiner eine Mehrheit beim ersten
Versuch gewinnt, gibt es auch dort eine Zweite Runde.
Dies mag die Ankunft von Außenseitern verhindern, aber siehe da – die Wahl von
Francois Macron zeigt, dass sogar in diesem System ein fast vollkommener
Außenseiter Präsident werden kann.
Sicherlich kann ein Experte auch in diesem System Fehler finden, aber es
scheint einigermaßen gut zu sein.
Über viele
Jahre habe ich mehrere Parlamente besucht. Die meisten ihrer Mitglieder ließen
mich seltsam unbeeindruckt.
Kein Parlament ist aus Philosophen zusammengesetzt. Man braucht eine Menge
Ehrgeiz, Gerissenheit und andere unziemliche Züge, um ein Mitglied zu werden
(Mich ausgeschlossen).
Als ich aufwuchs bewunderte ich den US-Senat. Bis ich diese Institution besuchte
und auf dem Flur mehreren Mitgliedern vorgestellt wurde. Es war eine
schreckliche Enttäuschung. Einige von ihnen, mit denen ich über den Nahen Osten
sprach, hatten offensichtlich keine Ahnung, wovon sie sprachen; doch wurden sie
als Experten betrachtet. Einige waren - offen gesagt – wichtigtuerische Esel.
(Wichtigtuerische Esel sind eine Kategorie, die es in jedem Parlament gibt).
Ich erfuhr, dass das wirkliche Geschäft des Senats hinter der Bühne von
Referenten und Beratern der Senatoren geführt wird, die bei weitem intelligenter
und informierter sind und dass es die Rolle der Mitglieder selbst ist gut
auszusehen, Geld einzusammeln und hochtrabende Reden zu halten).
DAS FERNSEHEN
hat das Bild (buchstäblich) überall verändert.
Das Fernsehen kann keine Partei-Programme zeigen, Programme sind also überholt.
Das Fernsehen kann keine Parteien
zeigen, Parteien verschwinden an vielen Orten, einschließlich Israel. Das
Fernsehen zeigt Gesichter von Individuen, deshalb zählen Individuen. Das
erklärt, warum gut aussehende Politiker in Israel neue Parteien gründen und die
Knessetmitglieder ernennen, einschließlich der Dummköpfe (von denen einige auch
gut aussehen), die niemals in einem Wahlbezirk gewählt
würden.
Als Adlai Stevenson, ein hoch qualifizierter Kandidat, für die US
Präsidentschaft kandidierte, wurde ihm gesagt: „Mach dir keine Sorgen, jede
denkende Person wird für dich stimmen.“
„Aber ich brauch eine Mehrheit“, erwiderte Stevenson bekanntermaßen.
(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)