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 Ein schrecklicher Gedanke

Uri  Avnery 25. November 2017

PLÖTZLICH KOMMT mir ein schrecklicher Gedanke. Was, wenn Avi Gabbay wirklich an das glaubt, was er sagt?

Unmöglich. Er kann all dieses wirklich nicht glauben. Nein, nein.

Aber wenn er es täte? Wohin führt uns dies?

AVI GABBAY ist der neue Führer der israelischen Labor-Partei. Bis vor kurzem war er ein Gründungsmitglied einer moderaten rechten Partei, Kulanu („Wir alle“). Ohne jemals zur Knesset gewählt zu werden, diente er als unbedeutender Minister. Er trat zurück, als Avigdor Lieberman, der von vielen als halber-Faschist (und das „halber“ ist alles andere als sicher) angesehen wird,  gestattet wurde, sich der Regierung als Verteidigungsminister – der zweitwichtigste Posten – anzuschließen.

In einem kühnen Schritt verließ Gabbay die Kulanu-Partei und schloss sich der Labor-Partei an (auch als „das zionistische Lager“ bekannt) an und wurde bald danach ihr Vorsitzender. Doch wurde er nicht ihr offizieller „Führer der Opposition“, weil er kein Mitglied der Knesset ist (Der formelle Titel blieb bei seinem Vorgänger, dem sehr netten, aber ziemlich unbedeutenden  Yitzhak Herzog.

Eine von Gabbays hervorragenden Qualitäten ist die Tatsache, dass er ein „Orientale“, ein östlicher Jude, ist. Er ist das siebte von acht Kindern einer Familie, die 1964 von Marokko einwanderte, gerade drei Jahre vor seiner Geburt.

Dies ist sehr bedeutsam. Die Labor-Partei wird als „westlich“ (oder ashkenazi“) angeprangert, die Partei der sozialen Eliten, entfremdet von den Massen der Orientalen. Sie muss diesen Ruf überwinden, falls sie jemals die Macht wieder gewinnen möchte.

In der Likud-Partei ist die Situation genau umgekehrt. Die Masse der Likud-Wähler sind Orientalen, aber Benjamin Netanjahu ist ein Ashkenazi, wie man weiß. Die Orientalen verehren ihn, wie sie nie  orientalische Führer verehrten.

ABER GABBAYS  Ursprung ist nicht sein einziges Attribut. Von seinen bescheidenen Anfängen kletterte zu den Höhen des wirtschaftlichen Erfolges. Er wurde der Vorsitzende einer der bedeutendsten Unternehmen Israels und häufte währenddessen ein persönliches Vermögen an.

Er ist kein charismatischer Führer, keine Person, die die Massen anspricht. Tatsächlich wird sein Gesicht leicht vergessen. Aber er nahm von der Geschäftswelt eine gesunde, logische Weise des Denkens mit sich. In der Politik ist Logik eine seltene Ware. Sie kann hinderlich sein.

Die Frage ist jetzt: Wohin führt ihn die Logik?

WÄHREND SEINER paar Monate als Führer der Labor-Partei hat Gabbay viele seiner Parteigenossen zutiefst schockiert. Ja, bis ins Innerste schockiert.

Etwa einmal die Woche, gewöhnlich am Sabbat gibt Gabbay eine Erklärung ab, die scheinbar allem widerspricht  für das die Partei während ihrer mehr als hundert Jahre, die sie existiert, steht.

Einmal erklärte er, dass Frieden nicht bedeutet, dass irgendwelche der Dutzenden von Siedlungen in den besetzten Gebieten aufgelöst werden müssen. Bis jetzt war die Parteilinie die, dass nur die „Siedlungsblöcke“ – die an der grünen Linie liegen – bleiben könnten und zwar innerhalb des Rahmens eines übereingekommenen Austauschs von Gebieten und dass all die anderen aufgelöst werden müssen. Gabbays Ankündigung verursachte  eine Aufregung, da dies wahrscheinlich die „Zwei-Staaten-Lösung“ unmöglich macht.

Bei einer anderen Gelegenheit verkündete Gabbay, dass er nie eine Koalition mit der „Vereinigten Liste“, der einzigen arabischen Liste in der Knesset, anstreben würde. Diese Liste besteht aus drei getrennten – und sehr verschiedenen- arabischen Parteien, die gezwungen waren, sich zu vereinigen, als Lieberman die Minimum-Wahl-Klausel erhob, um sie zu eliminieren.

Es ist sehr schwierig (wenn nicht unmöglich), in der Knesset eine linke Mehrheit ohne  die arabische Liste zu schaffen. Das Oslo-Abkommen würde niemals zustande gekommen sein, wenn die arabischen Mitglieder nicht Yitzhak Rabin ihre unerschütterliche Unterstützung gegeben hätten (ohne sich seiner Regierung anzuschließen).

Um die Sache noch schlimmer zu machen, verkündete Gabbay, dass das einzige arabische Mitglied der Labor-Partei im Parlament – ein volkstümlicher Sport-Kommentator –  in der nächsten Knesset nicht sein würde.  Sein Verbrechen: er hat die Balfour-Erklärung von 1917 kritisiert, die den Juden eine nationale Heimstätte in Palästina versprach, das damals ein arabisches Land war.

DER  HÖHEPUNKT (bis jetzt) kam letzte Woche: um noch einen drauf zu setzen, tat Gabbay etwas, was viele  Labor-Mitglieder widerlich fanden.

In Israel gibt es zehntausende von nicht-jüdischen afrikanischen Flüchtlingen, besonders aus  dem Sudan und aus Eritrea. Sie werden mehrere Monate lang in einer offenen halben-Gefängnis-Einrichtung gehalten, die enorm über den Bedingungen von zu Hause liegt. Andere vegetieren in den armen Vierteln von Tel Aviv, arbeiten gelegentlich und konkurrieren mit armen Bewohnern und machen sie sehr wütend.

Israel behauptet, ein „jüdischer Staat“ zu sein. Juden sind Jahrhunderte lang verfolgte Flüchtlinge gewesen. Doch jetzt hat die Regierung entschieden, nicht nur den Strom aufzuhalten, sondern  die Flüchtlinge, die schon hier sind, loszuwerden, indem  sie der Regierung von Ruanda 5000 $ für jeden Flüchtling, den sie von uns akzeptiert, zu zahlen. Der Flüchtling selbst wird auch $3500 erhalten, wenn er freiwillig geht. Wenn er sich weigert, kommt er endgültig in ein wirkliches Gefängnis.

Deportiert?  Eingesperrt? In einem „jüdischen“ Staat? Unglaublich. Und hier kommt  Gabbay und ruft seine Partei auf, für diese Brutalität zu stimmen!

ALS OB dies noch nicht genug sei, sagte Gabbay etwas Unglaubliches. Er denunziert den Standpunkt seiner Partei zum Judentum.

Vor Jahren wurde Netanjahu mit der Kamera erwischt, als er in die Ohren eines sehr alten Rabbiners flüsterte, dass „die Labor Partei vergessen habe, was es heißt jüdisch zu sein“. Unglaublich, Gabbay wiederholte diese Anklage und verkündigte tatsächlich, dass die Labor-Partei „vergessen habe, was es bedeutet, „jüdisch zu sein.“

Nichts konnte Schockierender sein als dies. Die Partei wurde vor einhundert Jahren von überzeugten Atheisten wie David Ben Gurion gegründet, der sich weigerte, selbst bei Beerdigungen, eine Kippa auf den Kopf zu setzen. (Manchmal tue sogar ich dies aus Höflichkeit gegenüber religiösen Trauernden.)

Das ganze zionistische Unternehmen begann mit einer Rebellion gegen die Religion. Fast alle bedeutenden Rabbiner jener Tage verurteilen Theodor Herzl, den Gründungsvater, als einen Häretiker und verfluchen ihn klipp und klar. Gott selbst hat die Juden wegen ihrer Sünden aus ihrem Land vertrieben und nur Gott konnte seinen Messias senden, um sie dorthin zurückzubringen – falls und wenn es IHM gefällt.

Die zionistische Labor-Bewegung ist immer zutiefst atheistisch gewesen, außer winzigen religiösen Elementen. Was Gabbay jetzt sagte, kam einer ideologischen Revolution gleich. (Übrigens bedeutet gabbay im Hebräischen Verwalter  einer Synagoge).

Keiner ist sich ganz sicher, was „Jüdisch-sein“ heute bedeutet. Ist Judaismus eine Religion, eine Nation oder beides? Bedeutet es nur, dass man sich mit jüdischer Geschichte und Tradition identifiziert? Oder dass man an einen Gott glaubt, der uns „unter den Völkern auserwählt habe“? Wer zum Teufel kümmert sich darum?

GLAUBT GABBAY tatsächlich all diesen Unsinn oder ist dies alles nur politische Propaganda?

Es mag letzteres sein.

Gabbay ist ein bewährter Geschäftsmann. Seine Logik ist die eines Geschäftsmannes. Er addiert Zahlen.

Es gibt zwei Möglichkeiten, die israelische politische Landschaft zu sehen. Die eine ist die einfache: die Wahlergebnisse zu addieren. Nach diesem System erfreut sich die Rechte einer klaren Mehrheit. Abgesehen von der Likud besteht sie aus zwei extrem rechten Parteien der „Jüdisches Heim“ und der „Israel  ist unsere Heimat“, Kulanu und zwei orthodoxen Parteien. Die Linke (oder „Zentrum Mitte“ wie sie sich selbst nennt)  besteht  aus Labor, Meretz, Yair Lapids „Es gibt eine Zukunft“ und die arabische Liste.

Um die Situation zu verändern, muss Labor eine beträchtliche Anzahl von Stimmen aus der moderaten Rechten gewinnen.

Eine andere Weise, das Bild anzusehen, zeigt eine rechte Minderheit, die einer linken Minderheit gegenübersteht mit der großen Masse des Volkes dazwischen. Das Ergebnis ist dasselbe: die Zentrum-Mitte muss genügend Stimmen zur Veränderung des Gleichgewichts gewinnen.

Wie? Gabbays Antwort scheint logisch: stehle die Kleider der Rechten, die zum Trocknen aufgehängt wurden, wie  Churchill es einmal sagte. In der Praxis bedeutet es, die Slogans der Rechten adoptieren, schaut religiös aus, handelt chauvinistisch; macht es für die rechten Wähler möglich, euch zu wählen.

Das scheint Gabbays   Taktik zu sein. Kann es gelingen?  Im politischen Leben ist nur der Erfolg der Beweis. Falls er genug Wähler des Rechten Flügels anziehen kann, mag er die Balance verändern. Falls er Wähler an die Linke verliert, kein Problem. Sie werden für Meretz stimmen, was keinen Unterschied macht. Und falls die Araber sehr ärgerlich sind, so macht dies auch keinen Unterschied: sie haben keine Wahl außer eine linke Regierung zu unterstützen „ von Außerhalb“ zu unterstützen.

Doch was geschieht, wenn dies zur Katastrophe führt? Politische Logik ist ganz anders als geschäftliche Logik. Sie gründet sich nicht auf eine 2+2=4 Gleichung.  In der Politik mag es 3 oder 5 sein.

Und dann traf es mich. Was ist, falls dies überhaupt keine politische Taktik ist? Was  ist, wenn Gabbay an all dies glaubt?

Gott bewahre uns!

(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)