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Uri Avnery, 29. November 2014
DER PRÄSIDENT
Israels war entsetzt.
Rubi Rivlin,
der vor kurzem auf den hohen, aber
vor allem zeremoniellen Posten gewählt worden war,
ist weit entfernt, ein Linker zu sein. Im Gegenteil. Dieser Abkömmling
einer Familie, die schon seit sieben Generationen in Jerusalem lebt, glaubt an
einen jüdischen Staat im ganzen Land vom Mittelmeer bis zum Jordan.
Aber Rivlin
ist ein wirklich Liberaler. Als er das Gedicht las, war er zutiefst schockiert.
Dann erinnerte er sich, dass der Verfasser dieses „Meisterstücks“ in die
Residenz des Präsidenten eingeladen war, um dort aus seinen Werken vorzulesen.
Er wurde prompt ausgeladen.
Dafür
wurde der Präsident von vielen Seiten angegriffen.
Wie konnte er es wagen? Wie ist es mit der künstlerischen Freiheit?
DER „POET“, um
den es hier geht, ist einer namens Amir Benayoun, ein populärer
„orientalischer“ Volksliedsänger. „Orientalische“ Musik bedeutet in
diesem Kontext Melodien, die von orientalischen Juden bevorzugt werden, sich
aber auf arabische Musik aus ihren früheren Heimatländern gründet - mit
primitiver Lyrik über Liebe und Ähnliches.
Das berufliche Los von Benayoun nahm ab, aber „Das Gedicht“ baute ihn
wieder auf - und wie! Er wurde
zum Mittelpunkt einer
stürmischen nationalen Debatte: alle Medien diskutierten ihn lang und breit,
sogar Haaretz druckte es
wortwörtlich. Politiker, Kommentatoren und jeder, der oder die sich selbst
respektiert, pries oder verurteilte
es.
Der imaginäre
Sprecher des Gedichtes ist ein
Araber mit Namen Ahmed, der davon träumt, Juden zu töten, besonders jüdische
Babies.
Meine eigene
Übersetzung:
„Salam Aleikum – Friede sei
mit euch. Ich werde Ahmed genannt/ und ich lebe in Jerusalem/Ich studiere an der
Universität ein oder zwei Fächer/
Wer erfreut sich aller Welten so wie ich/ heute bin ich moderat und lächle/
Morgen werde ich in den Himmel steigen/ Und werde einen oder zwei Juden in die
Hölle schicken/ Es ist wahr
Ich bin nur undankbarer
Abschaum/ Es stimmt, aber ich bin nicht schuld daran, Ich wuchs ohne Liebe auf.
Der Augenblick wird kommen,/ wenn du mir den Rücken zukehrst/ dann werde ich
die geschliffene Axt in dich
hauen.
Ich bin Ahmed, der in der
Zentralregion lebt/ ich arbeite neben einem Kindergarten/ und bin verantwortlich
für die Gas-Container/. Wer wie ich
sich an zwei Welten erfreut/: heute bin ich hier und morgen werde ich nicht hier
sein/ viele von ihnen, ja sehr viele von ihnen/ werden nicht hier sein/ Es
stimmt, dass ich außer Abschaum nichts bin/. Es stimmt, dass ich unschuldig bin/
ich wuchs ohne Liebe auf. Es ist wahr, dass der Moment kommen wird/ dass du
deinen Rücken zu mir kehrst/ und dann werde ich
die geschärfte Axt in dich schlagen. / Es stimmt, dass ich nichts bin
außer undankbarer Abschaum/ Es ist wahr, aber ich bin nicht schuldig/ ich wuchs
ohne Liebe auf. Es ist wahr, der Moment wird kommen/, wenn du deinen Rücken zu
mir kehrst/, dann werde ich dich geradewegs in den Rücken schießen.
ERSETZE DAVID
durch Ahmed und Berlin oder Paris durch Jerusalem und du hast ein perfektes
anti-semitisches Gedicht. Es ist
ganz sicher, dass der Bundespräsident den Autor nicht zum Tee in seine Residenz
einladen würde.
Aber der
Präsident von Israel wurde von allen Seiten angegriffen, weil er die Einladung
gestrichen hat. Die vom rechten Flügel griffen ihn an, weil er einen
wahren Patrioten zurückgewiesen hat, viele linke
Gutmenschen lehnten ihn im Namen der Gestaltungsfreiheit und universaler
Toleranz ab.
Als ich ein
neunjähriger Junge in Deutschland war, hörte ich den Ohrwurm: „Wenn Judenblut
vom Messer spritzt, dann geht alles noch mal so gut.“ Falls der Autor noch leben
sollte, würden deutsche Liberale fordern, dass ihm künstlerische Freiheit
gewährt wird?
Benayoun (39)
trägt einen arabischen Namen. Benayoun kommt vom arabischen Ausdruck
für Zärtlichkeit „Sohn meiner Augen“.
Sein erster Name klingt wie der arabische
Titel „Amir“ (Prinz), obwohl es anders geschrieben
wird. Er wurde in einem Slum
von Beersheba geboren; seine Eltern
sind Immigranten aus Marokko. Sie könnten arabische Juden genannt werden, wie
meine Eltern deutsche Juden genannt wurden.
Benayoun war
zu Beginn kein Fanatiker; aber als sein Bruder eine extremere Form der jüdischen
Religion annahm, folgte er seinem Beispiel. Dieser Vorgang, den man „Rückkehr
zum Glauben“ nannte, wird fast immer von fanatischem
Rassismus begleitet.
Der Dichter
behauptet, dass sein geistlicher Meister der Messias sei. Er trägt keine
Amulette, nur eine Dollargeldnote, die ihm vom verstorbenen
Rabbi von Lubawitz gegeben wurde, der,
wie seine US-Jünger behaupten, der Messias sei und der nicht verstorben sei.
Benayoun’s poetisches
„Meisterstück“ von schierem, reinem Hass reflektiert die Gesinnung eines großen
Teils der israelischen Juden im Augenblick. Die letzten Ereignisse in Jerusalem
haben ein Klima geschaffen, in dem ohne Schamgefühl rassistischer Hass seinen
hässlichen Kopf hebt.
DAS ZENTRUM
des Rassismus ist die Regierung selbst. Sie wird vollkommen von der extremsten
Rechten beherrscht – tatsächlich gibt es nichts Rechteres.
Seit ihrer
Einsetzung scheint diese Regierung
(abgesehen vom Gaza-Krieg) nichts
getan zu haben, außer rassistische Gesetze zu erlassen.
Fast jede Woche hören wir von einer
Initiative, doch noch ein Gesetz zu
machen, das noch schlimmer ist, als das letzte.
Vor nur drei
Tagen initiierte der Minister für Innere Sicherheit, ein Lakai von Avigdor
Lieberman, ein Gesetz, das die arabische Tempelwache als „ungesetzliche
Organisation“ definiert – das Äquivalent einer Terroristengruppe. Diese Wache
wird vom Waqf (eine muslimisch
gemeinnützige Verbindung) beschäftigt, die den Auftrag hat, den Tempelberg nach
internationalem Abkommen mit
Jordanien zu bewachen.
Diese Wache
kann die Heiligen Stätten nicht vor
der israelischen Polizei verteidigen, aber sie kann Muslime
vor sich nähernden Juden warnen, die zum Beten kommen, was verboten ist.
Die Wache zu beseitigen, würde bedeuten, dass
die jüdischen Fanatiker und zynischen Politiker den Tempelberg
noch mehr beherrschen.
Diese Maßnahme
zu genau diesem Zeitpunkt ist eine direkte Provokation. Sie bestätigt die
dunkelsten muslimischen Befürchtungen, dass Israel
dabei sei, den Status Quo zu verändern und den Tempelberg in eine
jüdische Gebetsstätte zu verwandeln.
Warum sollte
ein Polizeiminister dies genau jetzt tun, während Jerusalem
in Flammen steht und die ganze muslimische Welt sich geschlossen sammelt,
um die Heilige Stätte zu verteidigen? Ist er verrückt?
Überhaupt
nicht. Es ist genau dies, womit er
mit den andern Politikern in Konkurrenz tritt: in die
Schlagzeilen zu kommen. Und wie Benayoun
gerade jetzt den Hass der „
Araber“ zeigt, ist es der Hass
gegen „die Araber“, der auf dem Markt der heißeste Artikel ist.
Dann gibt es
noch das vorgeschlagene Gesetz, das der Knesset-Mehrheit erlauben würde, die
Knesset-Mitgliedschaft eines jeden Delegierten zu entziehen, der „den
bewaffneten Kampf gegen Israel gut heißt!“ Wer entscheidet?
Die Knesset-Mehrheit natürlich. Sie würde als Ankläger, Richter und
Henker gleichzeitig handeln.
Diese
Gesetzesvorlage ist klar gegen
Hanin Zuabi gedacht, ein provozierendes, weibliches,
arabisches Mitglied, das von der Knesset
schon für ein halbes Jahr
verbannt wurde (außer bei Abstimmungen).
Eine andere
Maßnahme ist für Terroristen und ihre Familien die Annullierung des Wohnrechts
in Jerusalem. (Arabern wurde im annektierten Ost-Jerusalem
nicht das Bürgerwohnrecht zugestanden, sondern nur ein „Vorübergehendes
Bürgerrecht“. Dies kann jederzeit widerrufen werden.
In der
vergangenen Woche wurde tatsächlich einem lokalen Araber das Wohnrecht entzogen.
Er wurde angeklagt, einen anderen Araber nach Tel Aviv gefahren zu haben, wo der
Passagier in einem Pub einen Selbstmordanschlag verübte. Dies geschah vor etwa
13 Jahren. Der Fahrer protestierte, dass er keine Ahnung gehabt hätte, was sein
Passagier vorhatte. Er wurde
trotzdem ins Gefängnis gesteckt. Jetzt wird er aus Jerusalem ausgewiesen.
SOLCHE
GESETZESVORLAGEN, Gesetze und Aktionen füllten jeden Tag die Nachrichten.
Seit ihrer
Amtseinführung schließt die augenblickliche Knesset eine Gruppe von etwa
20 Mitgliedern ein, die man in andern Ländern Neo-Faschisten
genannt haben würde. Die meisten von ihnen sind führende
Likud-Mitglieder, die andern gehören
rivalisierenden Koalitionsfraktionen an. Sie konkurrieren wild mit
einander. Sie sind wie 20 Katzen in einem Sack.
Anscheinend
verbringen diese Mitglieder ihre Tage damit, über
noch grausamere anti-arabische Maßnahmen
nachzudenken. Diese erzeugen
Schlagzeilen und heischen
öffentliche Aufmerksamkeit. Je
grausamer, desto größer die Schlagzeilen und
desto länger die TV-Interviews. Diese
sorgen für allgemeine Aufmerksamkeit innerhalb ihrer Parteien und
garantieren Wiederwahl.
Wenn man keine
anderen Qualitäten hat, so wird dies allein für eine erfolgreiche politische
Karriere sorgen.
SEIT MEHREREN
Wochen ist jetzt das Zentrum der Aktivitäten eine Gesetzesvorlage gewesen, die
„Gesetzesvorlage: Israel, der Nationalstaat für das jüdische Volk“ genannt wird.
Israel hat keine Verfassung. Von Anfang
an hat die religiös-säkulare Kontroverse dies verhindert.
Doch die
Unabhängigkeitserklärung vom Mai 1948, die keinen legalen Status besitzt,
definiert Israel als einen „Jüdischen Staat“ und versprach nicht-jüdischen
Bürgern vollkommene Gleichheit.
Später definierten Grundgesetze Israel als einen „Jüdischen und demokratischen
Staat“, dem sie den beiden
Komponenten, die oft gegensätzlich schienen, den gleichen Wert
gaben.
Die
verschiedenen Versionen der neuen
Gesetzesvorlagen definieren Israel nur als einen „jüdischen Staat“, setzen den
„demokratischen“ Aspekt zu einem Status zweiter Klasse herab. Sie löschten das
Wort „Gleichheit“ vollkommen. Arabisch, das bis jetzt die zweite offizielle
Sprache war, wird ihren Status
verlieren. Diskriminierung, bis
jetzt heimlich praktiziert, wird
nun legal und öffentlich.
Diese Version
wurde letzten Sonntag offiziell von
der Regierung angenommen. Doch
Benjamin Netanjahu versprach, eine moderatere Version zu liefern, bevor die
Maßnahmen zur letzten Abstimmung vor die Knesset kommen.
Netanjahu
fürchtet zu Recht, dass die augenblickliche Version eine weltweite
Reaktion hervorrufen würde. Die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ würde
weit weniger demokratisch werden. Tunis könnte dieser Titel zukommen.
So weit, wie
augenblicklich bekannt ist, wird Netanjahus Version – die wahrscheinlich am Ende
angenommen wird – die Bezeichnung „jüdisch und demokratisch“ wieder herstellen,
aber den Terminus „Gleichheit“ weglassen. Die Rechte der individuellen
nicht-jüdischen Bürger werden aufrecht erhalten, aber irgendwelche kollektiven
Rechte für nicht-jüdische Gemeinschaften, was Sprache, Religion und Bildung
betreffen, abgeschafft.
Präsident
Rivlin hat die Gesetzesvorlage kaum
denunziert, was man ihm zugute- halten muss. Führende Juristen haben sie für
„überflüssig“ gehalten, da sie
zweifeln, dass sie irgendeinen realen Wandel bringen. Liberale Kommentatoren
sprachen sich gegen sie aus „moderate“
Koalitions-Mitglieder haben damit
gedroht, gegen sie zu stimmen oder sich wenigstens der Stimme zu enthalten.
Wahrscheinlich wird am Ende aus der
ganzen Plänkelei sehr wenig
herauskommen.
Aber die
Tatsache, dass man auf der Attacke gegen Demokratie eine Karriere aufbauen kann,
und den
Hass gegen Israels 1,7 Millionen
arabische Bürger – mehr als 20% der Bevölkerung -
schürt, ist beängstigend.
ÜBRIGENS HAT
keiner die sieben Millionen Juden außerhalb Israels über
die Sache nachgefragt.
Was denken sie
über die Idee, dass Israel der „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ ist? Glauben
sie, dass es überhaupt ein
„jüdisches Volk“ gibt? Wollen sie gezwungen
sein, Israel gegenüber Loyalität ausüben zu müssen? Fürchten sie,
wegen doppelter Loyalität angeklagt zu werden?
Wollen sie
nicht wenigstens befragt werden?
Doch
zum Teufel noch mal – wer
sind sie schon? Warum soll man sie fragen?
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)