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Vorgestellte Nationen

 

Uri Avnery, 26. Dezember 2015

VOR ZWEI Wochen starb Benedict Anderson. Oder wie wir auf Hebräisch sagen: „er ging in seine Welt.“

Anderson , ein Ire, der in China geboren, in England groß geworden ist, sprach fließend mehrere südasiatische Sprachen, hatte  einen großen Einfluss auf meine  intellektuelle Welt.

Ich schulde  seinem bedeutendsten Buch: „Vorgestellte Gemeinschaften“  

JEDER VON uns  hat ein paar Bücher, die seine Weltsicht schufen und veränderten.

In meiner frühen Jugend las ich Oswald Spenglers monumentales „Der Untergang des Abendlandes“. Es hatte eine dauernde Wirkung auf mich.

Spengler, jetzt fast vergessen, war davon überzeugt, dass die ganze Weltgeschichte aus einer  Anzahl von „Kulturen“ besteht, die menschlichen Wesen ähneln: sie werden geboren, reifen, werden in einer Zeitspanne von tausend Jahren alt und sterben.

Die „alten“ Kulturen der Griechen und Römer  dauerten von 500 vor Chr., bis 500 nach Chr. Ihnen folgte die  „magische“ östliche Kultur, die  im Islam ihren Höhepunkt hatte, die bis zum Auftauchen der westlichen Kultur dauerte und die im Begriff ist zu sterben. Und nun von Russland gefolgt wird, (Wenn er heute gelebt hätte, würde Spengler wahrscheinlich  China anstelle von Russland  gesetzt haben) 

Spengler, der eine Art Universalgenie war, erkannte auch mehrere  Kulturen auf andern Kontinenten.

Das nächste monumentale Werk, das meine Weltsicht beeinflusste war Arnold Toynbees „Ein Studium der Geschichte“. Wie Spengler, glaubte er, dass Geschichte  aus „Zivilisationen“ bestehen, die reifen und altern, aber er fügte Spenglers Liste noch einiges hinzu.

Spengler, ein Deutscher, war pessimistisch. Toynbee, ein Brite, war optimistisch. Er akzeptierte nicht die Ansicht, dass Zivilisationen  verurteilt werden,  nach einer gewissen Lebensspanne zu sterben. Nach ihm  geschah dies tatsächlich bis heute, aber ihre   Menschen können aus Fehlern lernen und seinen Lauf der Dinge verändern.

ANDERSON BESCHÄFTIGTE sich nur mit einem Teil der Geschichte: mit der Geburt der Nationen.

Für ihn  ist eine Nation eine menschliche Schöpfung der letzten paar Jahrhunderte. Er leugnete die akzeptierte  Ansicht, dass Nationen immer existiert haben und sich nur  verschiedenen Zeiten anpassten, wie wir in der Schule lernten. Er bestand darauf, dass Nationen  vor nur etwa 350 Jahren „erfunden“ wurden.

Entsprechend der europäischen Ansicht, die „Nation“ übernahm ihre gegenwärtige Form in der Französischen Revolution oder unmittelbar davor. Bis dahin  lebte die  Menschheit in verschiedenen Formen von Organisationen.

Primitive Menschen lebten in Stämmen, die gewöhnlich aus ungefähr 800 Individuen  bestanden. Solch ein Stamm war klein genug  von einem kleinen Gebiet zu leben, und groß genug, sich gegen benachbarte Stämme zu verteidigen, die immer versuchten, Gebiet von ihm zu nehmen.

Von hier entwickelten sich verschiedene Formen menschlicher Kollektive, wie der griechische Städte-Staat, das persische und römische Empire, der multi-kommunale byzantinische Staat, die islamische „Umma“, die europäischen Viel-Völker-Monarchien und das westliche Kolonialreich.

Jede dieser Schöpfungen passt sich seiner Zeit und den Realitäten an. Der moderne Nation-Staat war eine Reaktion auf moderne Herausforderungen („Herausforderung und Reaktion“ war Toynbees Mechanismen des Wechsels) Neue Realitäten – die industrielle Revolution, die Erfindung der Eisenbahn und das Dampfschiff, immer tödlichere moderne Waffen etc.   – machten kleine Fürstentümer obsolet.

Ein neuer Entwurf war notwendig und fand seine beste Form in einem Staat  mit zehnmillionen Menschen, genug, um eine moderne Industriewirtschaft zu erhalten,  sein Gebiet mit  riesigen Armeen,  zu verteidigen, eine allgemeine Sprache  zu entwickeln als Grundlage für eine Kommunikation zwischen allen Bürgern.  

(Ich bitte um Verzeihung, wenn ich meine eigenen primitiven Gedanken  mit denen von  Anderson  vermische. Ich bin zu faul, sie aus einander  zu sortieren.)

NOCH BEVOR  die neuen Nationen blühten, und  England, Schottland, Wales und Irland  vereinigten sich zwangsweise zu Großbritannien , einer genügend großen und starken  Nation, die einen großen Teil der Welt erobern konnte. Franzosen, Bretonen, Provenzalen, Korsen und viele andere  vereinigten sich und wurden Frankreich.  Es war  stolz auf seine gemeinsame Sprache , die von der Druckpresse und den Massenmedien gefördert wurde.

Deutschland, ein Nachzügler auf der Bühne bestand aus Dutzenden von souveränen  Königreichen und Fürstentümer. Die Preußen und Bayern  konnten sich nicht ausstehen. Städte wie Hamburg waren  stolz unabhängig. Erst während des französisch- preußischen Krieges von 1870  wurde das neue Deutsche Reich gegründet – praktisch auf dem Schlachtfeld. Die Vereinigung von „Italien“ fand noch  etwas später statt.

Jede dieser neuen  Entitäten benötigte ein gemeinsames Bewusstsein und eine gemeinsame Sprache und so  kam es zu „Nationalismus“. „Deutschland, Deutschland über alles“, vor der Vereinigung geschrieben, meinte ursprünglich nicht , dass Deutschland  überallen anderen Nationen war, sondern dass das gemeinsame deutsche Vaterland über all den lokalen Fürstentümern stand.

All diese neuen „Nationen“  wollten erobern – aber als erstes  „eroberten“ und annektierten sie ihre Vergangenheit. Philosophen, Historiker, Lehrer und Politiker fingen eifrig damit an, ihre Vergangenheit  neu zu schreiben und  brachten alles  in die „nationale“ Geschichte.

Zum Beispiel die Schlacht im Teutoburger Wald (9 n.Chr.), bei der drei deutsche Stämme entscheidend eine römische Armee besiegte, wurde ein nationales „deutsches“ Ereignis.  Der  Führer Hermann (Arminius)  wurde nachträglich ein früher „National“-Held.

Auf diese Weise kamen Andersons „ vorgestellte“ Gemeinschaften zustande.

Aber nach  Anderson  wurde die moderne Nation gar nicht in Europa geboren, sondern in der westlichen Hemisphäre. Als die  eingewanderten weißen Gemeinschaften in Süd- und Nord-Amerika  genug von ihren unterdrückerischen  europäischen Herren hatten, entwickelten sie einen lokalen (weißen)  Patriotismus und wurden  neue  „Nationen“ – Argentinien, Brasilien, die Vereinigten Staaten und all die anderen – jede eine Nation  mit einer eigenen nationalen  Geschichte. Von dort  kam die Idee nach Europa  bis die ganze Menschheit in Nationen aufgeteilt war.

Als Anderson starb, begannen die Nationen schon aus einander zu brechen wie antarktische Eisberge. Der Nationen-Staat wird  obsolet und wird schnell zur Fiktion. Eine weltweite Wirtschaft, super-nationale Militärische Bündnisse,  Raumflüge, welt-umspannende  Mrdien, Klimawandel und viele andere Faktoren  schaffen eine neue Realität. Organisationen wie die europäische Union und die Nato  übernehmen Funktionen, die einst von Nation-Staaten  ausgeführt wurden.

Nicht durch Zufall wird die Vereinigung von geographischen und ideologischen Blöcken begleitet, was  nach gegensätzlicher Tendenz  aussieht, aber in Realität ein sich ergänzender  Prozess ist. Nation Staaten brechen aus einander. Die Schotten, die Basken, Katalanen, Quebecer, Kurden und viele andere  schreien nach Unabhängigkeit, nachdem die Sowjetunion, Jugoslawien, Serbien, der Sudan und  verschiedene andere supra nationale Entitäten aus einander gebrochen sind. Warum müssen Katalonien und das baskische Land  unter demselben spanischen Dach leben, wenn jedes von ihnen  ein eigenes, unabhängiges Mitglied der EU werden kann?

EIN HUNDERT Jahre nach der Französischen Revolution „ erfanden“  Theodor Herzl  und seine Kollegen die jüdische Nation.

Das Timing war nicht zufällig. Ganz Europa wurde „national“. Die Juden waren eine internationale ethnisch-religiöse Diaspora, ein Überbleibsel aus der ethnisch-religiösen Welt des Byzantinischen Reiches. Und so  kam Verdacht und Feindschaft auf. Herzl, ein eifriger Bewunderer von beiden, dem neuen deutschen Reich und dem britischen Reich, glaubte, dass beim neuen Definieren die Juden als eine territoriale Nation, dem Antisemitismus ein Ende gemacht  werden könnte.

Verspätet taten er und seine Anhänger das, was alle anderen Nationen vorher getan haben: eine „nationale“  Geschichte zu erfinden, die sich  nicht auf biblische Mythen, Legenden und Realität gründet und Zionismus nannten. Sein Slogan war :„Wenn ihr wollt, dann ist es kein Märchen.“

Der Zionismus, vom intensiven Antisemitismus geholfen,  war unglaublich erfolgreich .Juden richteten sich in Palästina ein, schufen einen eigenen Staat und  im Laufe der  Ereignisse  wurde es ein realer Nation. „Eine Nation wie alle anderen“, wie ein berühmter Slogan sagte.

Die Schwierigkeit war, dass in dem Prozess  der zionistische Nationalismus nie wirklich die alte jüdische religiöse Identität überwand. Unbehagliche Kompromisse, die von Zeit zu Zeit der Zweckmäßigkeit  dienten. Da der neue Staat der Macht und die finanziellen Mittel des Weltjudentum übernehmen wollte, war er  glücklich, die Verbindungen zum Weltjudentum nicht abgeschnitten zu haben und gab vor , dass die neue Nation in Palästina („Eretz Israel“) nur eine von vielen jüdischen Gemeinden war, wenn auch die vorherrschende.

Im Unterschied zum Prozess , bei dem  sich die Nationen vom Mutterland trennen, wie es Anderson beschreibt, die kläglichen Versuche, in Palästina eine neue getrennte „hebräische“ Nation zu bilden, wie Argentinien und Kanada, misslangen (Sie werden in den Büchern von Shlomo Sand beschrieben.)

Unter der gegenwärtigen israelischen  Regierung wird Israel immer weniger israelisch und  immer jüdischer. Kippah tragende religiöse Juden übernehmen immer mehr zentrale Regierungsfunktionen; die Bildung wird immer religiöser.

Jetzt wünscht die Regierung ein Gesetz heraus zu geben, nach dem der Staat  „Nation-Staat des Jüdischen Volkes“ genannt wird. Damit wird die bestehende legale Fiktion eines „ jüdischen  und demokratischen  Staates“ außer Kraft gesetzt. Der Kampf um dieses Gesetz wird wohl die entscheidende Schlacht  um Israels Identität sein

Das Konzept selbst ist natürlich lächerlich. Ein Volk und eine Nation  sind zwei  verschiedene Dinge. Ein Nationalstaat ist eine territoriale Entität, die ihren Bürgern gehört. Er kann nicht den Mitgliedern einer weltweiten Gemeinschaft gehören,  die zu verschiedenen Nationen  gehören, in verschiedenen Armeen dienen  und ihr Blut für verschiedene Dinge vergießen.

Es bedeutet auch, dass der Staat nicht 20% oder mehr seiner eigenen Bürger, die keine Juden sind, nicht gehört. Kann man sich eine verfassungsmäßige Änderung in den US vorstellen, bei der  alle Angel-Sachsen weltweit  alle US- Einwohner werden , während  Afro-Amerikaner und Spanisch-stämmige keine Bürger sind.

Nun  vielleicht konnte Donald Trump sich das vorstellen. Vielleicht auch nicht.

ICH TRAF Benedict Anderson nie persönlich. Das ist schade. Ich würde so gern über  einige dieser Konzepte mit ihm diskutiert haben.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs; vom Verfasser autorisiert)