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Wahnsinnig oder verrückt ?
Uri
Avnery, 18. August 2012
BENJAMIN NETANJAHU
mag verrückt sein, aber er
ist nicht wahnsinnig.
Ehud Barak mag wahnsinnig
sein, aber er ist nicht verrückt.
Also: Israel wird den Iran
nicht angreifen.
ICH HABE es schon früher
gesagt und ich werde es wieder sagen, selbst nach dem endlosen Gerede darüber.
Tatsächlich ist über keinen Krieg so
viel geredet worden, bevor er stattfand.
Um die klassische Filmzeile
zu zitieren; „Wenn du schießen musst, dann schieße!
Rede nicht!“
Von allem Gerede Netanjahus
über den unvermeidlichen Krieg ragt einer seiner Sätze
heraus: „Im
Untersuchungskomitee nach dem Krieg werde ich selbst die Verantwortung
übernehmen, ich und ich allein!“
Ein sehr enthüllendes
Statement.
Erstens:
ein Untersuchungskomitee wird nur nach einem militärischen Fehlschlag
ernannt. Nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948 gab es kein solches Komitee, auch
nicht nach dem Sinai-Krieg 1956 und nach dem Sechstagekrieg 1967. Es gab jedoch
Untersuchungskomitees nach dem Jom Kippur-Krieg
1974 und den Libanonkriegen 1982 und 2006. Indem er
das Gespenst eines anderen Komitees heraufbeschwört, behandelt Netanjahu
unbewusst diesen Krieg als einen unvermeidbaren Fehlschlag.
Zweitens: nach israelischem
Gesetz ist die ganze Regierung Israels Oberkommandeur der Armee. Nach einem
anderen Gesetz tragen alle Minister die „kollektive Verantwortung“.
Das TIME-Magazin, das immer lächerlicher wird, mag „König Bibi“ krönen,
aber wir haben noch keine Monarchie. Netanyahu ist nicht mehr als der primus
inter pares - der erste unter Gleichen.
Drittens:
in seinem Statement drückt Netanjahu
grenzenlose Verachtung gegenüber seinen Ministerkollegen aus. Sie zählen
nicht.
Netanjahu betrachtet sich
selbst als modernen Winston Churchill. Ich kann mich nicht erinnern, dass der,
nachdem er das Amt übernommen hatte, verkündigte: „Ich bin verantwortlich für
die nächste Niederlage.“ Selbst in der verzweifelten Situation
jener Zeit glaubte Churchill an den Sieg. Und das Wörtchen „ich“ kam
nicht groß in seiner Rede vor.
BEI DER täglichen
Gehirnwäsche wird das Problem in militärischen Termini präsentiert. Die Debatte
befasst sich mit militärischen
Fähigkeiten und Gefahren.
Israelis sind
verständlicherweise besonders besorgt über den Regen von Zig-Tausenden
von Raketen, von denen man erwartet, dass sie in allen Teilen Israels - nicht
nur aus dem Iran kommend - fallen werden, sondern auch vom Libanon und dem
Gazastreifen. Der Minister für zivile Verteidigung
gab gerade in dieser Woche sein Amt auf, und ein anderer, ein Flüchtling
der glücklosen Kadima-Partei, hat sein Amt übernommen. Jeder weiß, dass ein
großer Teil der Bevölkerung
(einschließlich mir) völlig schutzlos ist.
Ehud Barak hat angekündigt,
dass nicht mehr als mickrige 500 Israelis
von feindlichen Raketen getötet werden. Ich hoffe nicht, die Ehre zu
haben, zu ihnen zu gehören, obwohl ich in der Nähe des Verteidigungsministeriums
lebe.
Aber die militärische
Konfrontation zwischen Israel und dem Iran ist nur ein Teil des Bildes – und
nicht der bedeutendste.
Wie ich in der
Vergangenheit schon angedeutet habe, ist die Auswirkung auf die Weltwirtschaft,
die so schon in einer tiefen Krise steckt, weit wichtiger.
Ein israelischer Angriff wird vom Iran als von Amerika inspiriert
angesehen, und die Reaktion wird entsprechend sein, wie
dies vom Iran in dieser Woche ausdrücklich festgestellt wurde.
Der Persische Golf ist
wie eine Flasche, deren Hals
die Meerenge von Hormuz ist, die vollkommen vom Iran kontrolliert wird. Die
riesigen amerikanischen
Flugzeugträger, die zur Zeit im
Golf stationiert sind, wären gut
beraten, hinauszufahren, bevor es zu spät ist. Sie ähneln jenen alten
Segelbooten, die Liebhaber in Flaschen zusammenbastelten.
Selbst die mächtige militärische Ausrüstung der US wäre nicht in der
Lage, die Meerenge offen zu halten. Einfache Land-See-Raketen würden genügen, um
sie monatelang geschlossen zu halten. Um sie zu öffnen, wäre eine lange
Landoperation durch die USA und ihre Verbündeten erforderlich. Ein langes und
blutiges Geschäft mit ungewissem Resultaten.
Ein großer Teil der
Weltölreserven müssen diese
einzigartige Wasserstraße
passieren. Sogar die bloße Drohung ihrer Schließung würde die Ölpreise
unermesslich in die Höhe treiben. Derzeitige Feindseligkeiten werden weltweit
einen wirtschaftlichen Kollaps verursachen mit hundert
Tausenden – wenn nicht Millionen – von neuen Arbeitslosen.
Jedes dieser Opfer wird
Israel verfluchen. Da es kristallklar sein wird, dass dies ein israelischer
Krieg ist, wird sich die Wut gegen uns richten. Schlimmer noch, viel schlimmer –
da Israel darauf besteht, es sei
der „Staat für das jüdische Volk“, wird
die Wut die Form eines nie da gewesenen Ausbruchs von Anti-Semitismus
annehmen. Neumodische Islamophoben werden sich in altmodische Judenhasser
verwandeln. „Die Juden sind unser Unglück“, wie die Nazis zu behaupten pflegten.
Dies mag am schlimmsten in
den USA sein. Bis jetzt haben die amerikanischen Bürger mit einer
bewundernswerten Toleranz zugesehen, wie ihre Nahost-Politik praktisch von
Israel diktiert wurde. Doch sogar der AIPAC und seine Verbündeten werden nicht
in der Lage sein, den Ausbruch öffentlicher Wut aufzuhalten. Sie werden hinweg
gefegt werden wie die Wellenbrecher vor New Orleans.
DIES WIRD eine direkte
Auswirkung auf eine zentrale
Kalkulation der Kriegstreiber
haben.
Bei privaten Gesprächen,
aber nicht nur dort, behaupten sie, dass Amerika
am Vorabend der Wahlen bewegungsunfähig sein
wird. Während der letzten paar Wochen vor dem 6. November werden beide
Kandidaten sehr große Angst vor der
jüdischen Lobby haben.
Die Kalkulation von
Netanjahu und Barak sieht folgendermaßen aus: sie werden angreifen, ohne sich
den Teufel um die amerikanischen Wünsche
zu scheren. Der iranische Gegenangriff wird gegen amerikanische
Interessen gerichtet sein. Die USA werden gegen ihren Willen in den Krieg mit
hineingezogen.
Doch selbst im
unwahrscheinlichen Fall, dass die Iraner mit äußerster Zurückhaltung gegen ihre
Statements handeln und nicht
amerikanische Ziele angreifen sollten, wird Präsident Obama gezwungen
sein, uns zu retten, eine riesige Menge Waffen und Munition senden, unsere
Antiraketen-Verteidigung aufbessern
und den Krieg finanzieren. Sonst würde er angeklagt, Israel im Stich gelassen zu
haben, und Mitt Romney würde als Retter des jüdischen Staates gewählt werden.
Diese Kalkulation gründet
sich auf historische Erfahrungen.
Alle israelischen Regierungen der Vergangenheit haben die amerikanischen
Wahljahre für ihre Zwecke ausgenützt.
Als
1948 von den USA gefordert
wurde, den neuen israelischen Staat
gegen den ausdrücklichen Rat des Außen- und Verteidigungsministers anzuerkennen,
kämpfte Präsident Truman gerade um sein politisches Leben. Seine Wahlkampagne
war bankrott. Im letzten Augenblick sprangen jüdische Millionäre in die Bresche.
Truman und Israel waren gerettet.
1956 war Präsident
Eisenhower inmitten seiner Wiederwahlkampagne, als Israel zusammen mit
Frankreich und England Ägypten angriff. Es war eine Fehlkalkulation – Eisenhower
benötigte keine jüdischen Stimmen und Geld und ließ das Abenteuer stoppen. In
andern Wahljahren waren die Einsätze
niedriger, aber die
Gelegenheit wurde immer ausgenützt,
um einige Konzessionen von den USA zu erlangen.
Wird es dieses Mal
funktionieren? Wenn Israel am Vorabend der Wahlen einen Krieg auslösen wird ,
offensichtlich, um den Präsidenten zu erpressen, wird die amerikanische
Öffentlichkeit Israel unterstützen – oder wird das Gegenteil passieren? Es wird
ein entscheidendes Risiko von historischen Ausmaßen sein. Aber Netanjahu ist -
wie Mitt Romney - ein Protégé des Casino-Magnaten Sheldon Adelson, und er kann
nicht abgeneigter gegenüber Risiken sein, als die armen Troddel, die ihr Geld in
Adelsons Casino lassen.
WO SIND die Israelis bei
all diesem?
Trotz der ständigen
Gehirnwäsche zeigen die Umfragen, dass die Mehrheit der Israelis absolut gegen
einen Angriff sind. Netanjahu und
Barak werden als zwei Suchtkranke gesehen, manche sagen Größenwahnsinnige, die
nicht mehr rational denken.
Einer der
bemerkenswertesten Aspekte der Situation ist, dass unser Armeechef und der ganze
Generalstab als auch die Chefs des Mossad und des Geheimdienstes (Shin Bet)
und fast alle ihre Vorgänger vollkommen und öffentlich gegen einen
Angriff sind.
Es ist eine der seltenen
Gelegenheiten, dass militärische Kommandeure moderater als ihre politischen
Chefs sind, auch wenn dies in Israel schon mal vorgekommen ist. Man mag sich
sehr wohl fragen: wie können politische Führer einen schicksalhaften Krieg
beginnen, wenn praktisch alle ihre militärischen Berater, die unsere
militärischen Fähigkeiten und Grenzen kennen, dagegen sind?
Einer der Gründe dieser
Opposition ist, dass die Armeechefs besser als jeder andere wissen, wie
vollkommen abhängig Israel von den
USA wirklich ist. Unsere Beziehungen zu Amerika sind allein die Basis unserer
nationalen Sicherheit.
Es scheint auch
zweifelhaft, ob Netanjahu und Barak in ihrer eigenen Regierung und im inneren
Kabinett die Mehrheit für einen Angriff haben. Einige von ihnen glauben, dass
- abgesehen von allem anderen – der Angriff die Investoren und Touristen
vertreiben und damit für Israels
Wirtschaft sehr großen Schaden verursachen wird.
Wenn das so ist, warum
glauben die meisten Israelis immer
noch, der Angriff
stehe bevor?
Die Israelis
sind vollkommen davon überzeugt, dass (a) der Iran von einer Bande
verrückter Ayatollahs ohne jede Vernunft regiert wird und (b) dass, wenn
sie einmal im Besitz einer Atombombe sind, diese sicher auf uns fallen lassen.
Diese Überzeugungen gründen
sich auf die Äußerungen von Mahmoud Ahmadinejad, in denen er erklärte, dass „er
Israel vom Antlitz der Erde wegwischen“ wolle.
Aber sagte er das wirklich
so? Sicher, er hat viele Male seine Überzeugung ausgedrückt, dass die
zionistische Entität verschwinden
werde. Aber anscheinend hat er dies
nie gesagt, dass er – oder der Iran
- etwas tun werde, um dieses Ergebnis zu erreichen.
Das mag nur ein kleiner
rhetorischer Unterschied sein, aber in diesem Zusammenhang ist es sehr wichtig.
Ahmadinejad mag auch ein
großes Mundwerk haben, aber seine aktuelle Macht im Iran war niemals groß und
wird schnell immer weniger. Die Ayatollahs, die wirklichen Herrscher, sind weit
davon entfernt, unvernünftig/irrational zu sein. Ihr ganzes Verhalten
seit der Revolution zeigt, dass sie sehr vorsichtige Leute sind,
abgeneigt gegenüber ausländischen Abenteuern, beschädigt von dem langen Krieg
mit dem Irak, den sie weder angefangen noch gewollt haben.
Ein mit Atombomben
bewaffneter Iran mag ein unbequemer Nachbar sein, aber die Drohung eines
„zweiten Holocaust“ ist ein Hirngespenst
manipulierter Phantasie. Kein Ayatollah wird eine Bombe abwerfen, wenn
die sichere Antwort die totale Vernichtung aller iranischen Städte sein wird und
es das Ende der ruhmvollen, kulturellen Geschichte Persiens bedeutet. Die
Abschreckung war ja der sinn der israelischen nuklearen Bewaffnung.
WENN NETANJAHU & Co
wirklich vor der iranischen Bombe Angst hätten, dann würden sie eines von zwei
Dingen tun:
Entweder der atomaren
Abrüstung der Region zustimmen, und alle atomare Aufrüstung aufgeben (höchst
unwahrscheinlich).
Oder mit den Palästinensern
und der ganzen arabischen Welt Frieden schließen und damit die Feindseligkeit
der Ajatollahs gegenüber Israel entwaffnen.
Aber für Netanjahu ist viel
wichtiger, die Westbank zu behalten und die Siedlungen auszubauen als die
iranische Bombe zu verhindern.
Benötigen wir einen
besseren Beweis der Verrücktheit
seiner Panikmacherei.
(Aus dem Englischen : Ellen
Rohlfs; vom Verfasser autorisiert