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 Wann hat es begonnen?

Uri Avnery, 18.2. 2017

WIE ZUM Teufel  hat es begonnen?

Letzte Woche versuchte ich den Krieg von 1948 zu beschreiben: er begann mit dem Schießen auf einen jüdischen Bus am Morgen nach  der  UN-Teilungs-Resolution. Einige der Leser stritten um das Timing.Sie bestanden darauf, dass der Krieg am 15. März begann, am Tag nach der Gründung des Staates  Israel, als die Armeen der benachbarten arabischen Staaten ins Land marschierten.

Ich habe dies viele Male gesehen. Jede ernste Debatte über den israelischen Konflikt beginnt mit der Frage: „Wann hat er begonnen?“ Jede Seite hat ihre eigenen Daten und weist nach, dass die andere Seite angefangen hat.

Die Araber  begannen ihn, behaupten die Zionisten.  Der Konflikt begann mit der „Invasion“ der arabischen Armeen („Invasion“  in Anführungsstrichen,  da sie in die Gebiete einmarschierten, die  von den UN dem  palästinensisch arabischen Staat angewiesen worden waren - obwohl es ihr erklärtes Ziel war, den neuen jüdischen Staat von Anfang an zu zerschlagen).

Die Juden begannen ihn, behaupten die Araber. Sie begannen damit, die arabische Bevölkerung zu vertreiben, die dann zur Nakba („Katastrophe“) führte

Die Araber begannen ihn, entgegnen die Zionisten. Warum mussten wir die arabische Bevölkerung vertreiben?  Weil ihr nach der UN-Resolution am 29. November 1947  auf  unsere Dörfer geschossen habt.

Die Juden  begannen ihn, erwidern die Araber. Alles begann mit dieser grauenhaften Resolution. Die UN, die damals  hauptsächlich  aus westlichen und kommunistischen Staaten bestand, vergaben ein Land, das ihnen nicht gehörte, den Juden,  die  nicht  ins Land gehörten.

Ja, sagen die Juden, aber es begann wirklich  mit dem Weißen Papier, das die Briten  im Mai 1939 veröffentlichten, und das die Türen Palästinas  für die Juden  in dem Augenblick verschlossen  als die Nazis den Holocaust planten.

Wir hatten keine Wahl, unterbrachen die Briten. 1936 begannen die Araber einen Aufstand, in dem Juden und unsere Soldaten im ganzen Land getötet wurden.

Aber warum mussten wir das tun?  schreien die Araber. Weil Massen  von deutschen Juden  nach 1933 nach Palästina kamen, als Adolf Hitler in Deutschland die Macht übernahm.  Wir mussten das  sogar mit gewalttätigen Mitteln stoppen, um zu verhindern, dass Palästina in ein jüdisches Land verwandelt wird.

Wirklich, entgegnen die Juden, aber ihr habt lange davor, 1929  damit begonnen, als ihr im ganzen Land Aufstände organisierten, und eine Menge Juden töteten.

Wir hatten keine Wahl, behaupten die Araber. Die britische Mandats-Regierung von Palästina begünstigten die Zionisten und erlaubten ihnen überall zu siedeln.

Das war unser Recht, sagen die Juden, das im Mandat eingeschlossen, das von dem Völkerbund den Briten gewährt worden war.

Wer gab dem Völkerbund das Recht, jemandem ein Mandat zu gewähren? Fragen die Araber. Das Land gehört seinen Bewohnern,  fast alle waren Araber.  So hat alles begonnen.

Aber die Araber griffen die Juden 1919 an und zeigten so den Briten, wie nötig sie waren.

Die Briten  hatten kein Geschäft, um dort zu sein, antworteten die Araber. Das ganze Durcheinander begann wirklich 1917, als die Briten die Balfour-Erklärung veröffentlichten und versprachen, eine jüdisch nationale Heimstätte in Palästina zu gründen, das  in jener Zeit noch dem (muslimischen) ottomanischem Reich gehörte.

Das Ottomanische Reich lag im Sterben, sagen die Juden und die zionistische Bewegung, die 1896  gegründet wurde, hatte schon ihr Recht auf Palästina proklamiert.

Aber  zur gleichen Zeit wurde  die moderne arabische Nationalbewegung geboren, die einen unbestreitbaren Anspruch  auf Palästina und alle arabischen Länder hatte

Gott hat versprochen …

Allah hat versprochen …   

Und so weiter

ICH HABE meine eigene Theorie  über wann und  wie der Konflikt anfing.

1904 starb Theodor Herzl, der Gründungsvater der  zionistischen Bewegung. Herzl mochte Palästina nicht und  startete seine ideologische  Suche mit der Idee, einen jüdischen Staat in Patagonien, einem argentinischen Gebiet zu gründen, das vor kurzem  „befriedet“ worden war.

Herzl  mochte weder die Türken noch die Araber, aber  Ereignisse überzeugten ihn, dass die Juden nirgendwo anders hingehen würden als nach Palästina. In seinem Buch „Der Judenstaat“, die Gründungsbibel des Zionismus, erklärte er, dass die Juden in Palästina  als einen Vorposten der westlichen Zivilisation gegen die Barbaren Asiens  d.h. den Arabern dienen  würden.

Man kann behaupten, dass hier der Konflikt  wirklich begann – direkt am Anfang der zionistischen Idee. Aber ich habe einen noch genaueren Moment im Sinn..

EIN PAAR Jahre vor dem 1. Weltkrieg zeigte das Ottomanische Reich Anzeichen des Niedergangs. Eine moderne Bewegung von  Armeeoffizieren geleitet, kamen an die Macht. Sie nannten sich selbst  „die Jungtürken“.

Unter der unruhigen arabischen Bevölkerung tauchten auch revolutionäre Gruppen auf. Sie wagten noch nicht laut über Unabhängigkeit zu sprechen,  stattdessen machten sie einen Plan für die De-Zentralisierung des Ottomanischen Reiches, das seinen verschiedenen Nationen etwas Autonomie zugestehen würde.

Eine Gruppe von arabischen Abgeordneten in türkischen Parlament  aus Jerusalem hatten eine brillante Idee:  Warum sich nicht den Zionisten nähern und ihnen ein Bündnis gegen die Türken anbieten und für diese  Idee miteinander kämpfen?

Der zionistische Emissär in Jerusalem eilte zu  Max Nordau, dem neuen Präsidenten der zionistischen Organisation, um ihm dieses Angebot vorzulegen. Nordau hatte Herzls Posten nach dessen Tod übernommen.

Dies war ein historischer Augenblick, einer dieser Momente, in dem die Geschichte  ihren Atem anhält. Eine total neue  Perspektive ergab sich jetzt: eine Verbindung zwischen Arabern und Juden! Eine gemeinsame Befreiungsbewegung!

Nordau ein berühmter deutsch-jüdischer Intellektueller, träumte nicht  einmal davon, dieses Angebot anzunehmen. Er musste dies für verrückt ansehen. Die Türken waren die Herren des Landes. Sie konnten Palästina den Juden geben. Sie konnten bestochen werden. Die Araber waren machtlos. Sie konnten uns nichts geben.

So verging  der Moment. Nordau brachte dies kaum zur Kenntnis des zionistischen Kongresses, der in Hamburg stattfand.  

Nur ein paar Leute wissen heute um diese Episode.  Es ist  in dem maßgeblichen Buch  des  verstorbenen Aharon („Aharonchik“) Cohen beschrieben worden.

Die Möglichkeit  bestand nur theoretisch. Geschichte wird von wirklichen Leuten gemacht, deren Bewusstsein von der Realität ihrer Zeit geprägt wird. Für die Europäer des  frühen 20. Jahrhunderts  war die Idee solch einer  Verbindung mit den Eingeborenen gegen eine  imperiale Macht  irrsinnig.

IN DER RÜCKSCHAU könnte diese Idee die Geschichte verändert haben.

Im Herbst 1947, als ich  24 Jahre alt war, veröffentlichte ich eine Broschüre, die (auf Hebräisch)  „Krieg oder Frieden im semitischen Raum“ hieß.

Es war fast eine genaue Wiederholung der Idee von  Nordaus Vorfall – den ich damals nicht kannte. Er fing mit folgenden Worten an:

„Als unsere Väter, die Zionisten, entschieden, in diesem Land eine sichere Heimstätte aufzubauen, hatten sie die Wahl zwischen zwei Wegen.

Sie konnten in Westasien als europäischer Eroberer, der sich selbst als Brückenkopf der‚ weißen‘ Rasse, als Herren der ‚Eingeborenen‘ sahen, wie die spanischen Eroberer und die angelsächsischen Siedler in Amerika. Es ist das, was die Kreuzfahrer zu ihrer Zeit in diesem Lande taten.

„Der andere Weg war, sich selbst als ein asiatisches Volk zu betrachten, das  in seine Heimat zurückkehrt – das sich selbst als Erbe der politischen und kulturellen Tradition der semitischen Rasse sieht und bereit ist, die Völker der semitischen Region im Befreiungskrieg gegen  europäische Ausbeutung zu führen."

Mit der Ausnahme der Terminologie, die zu dieser Zeit gehörte, unterstreich ich jedes meiner Wörter auch heute, fast 70 Jahre später.

Der israelisch-palästinensische Konflikt begann, als die ersten jüdischen Siedler  1882 ins Land kamen - noch vor der offiziellen Gründung der zionistischen Bewegung. Er begann als  Zusammenstoß zwischen zwei großen nationalen Bewegungen, die sich einander überhaupt nicht kannten. Diese Unkenntnis besteht in großen Teilen  bis zum heutigen Tag.

Die Vergangenheit kann nicht verändert werden, außer in der Welt der trumpianischen  „alternativen Fakten“.

Aber  vielleicht, vielleicht können wir davon  lernen und einige Schlüsse ziehen.

(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)