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 Warum ich wütend bin.

Uri Avnery, 6. Januar 2018

ICH BIN  wütend über die Misrachi-Elite. Tatsächlich sehr zornig.

Misrach ist das hebräische Wort  für Osten.   Östliche Juden sind jene. die viele Jahrhunderte in der islamischen Welt lebten. Westliche Juden sind jene, die im christlichen Europa lebten.

Die Wörter  als solche sind natürlich falsche Bezeichnungen. Die russischen Juden  sind „Westliche“, die Marokkanischen sind „Östliche“. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass Russland weit östlich von Marokko liegt.  Es würde genauer sein, sie „Nördliche“ und „Südliche“ zu nennen. Nun ist es zu spät.

Die Westlichen  werden gewöhnlich „Aschkenazim“ genannt nach dem alten hebräischen  Ausdruck  für Deutschland. Die Östlichen wurden  gewöhnlich „Sephardim“ genannt nach dem alten hebräischen Ausdruck  für Spanien. Aber nur ein kleiner Teil der Östlichen ist tatsächlich aus der blühenden  jüdischen Gemeinde  im mittelalterlichen Spanien gekommen.

IM HEUTIGEN Israel wird der Widerspruch zwischen diesen beiden Gemeinden von Jahr zu Jahr stärker mit großen politischen und sozialen Auswirkungen. Es ist keine Übertreibung zu behaupten, dass dies jetzt das entscheidende Phänomen der derzeitigen israelischen Gesellschaft ist.

Bevor ich fortfahre,  erlaube man mir  (noch einmal, fürchte ich)  meinen persönlichen  Teil davon festzuhalten.

Meine letzten paar Jahre in Deutschland,bevor wir flohen,  verbrachten wir im Schatten des aufsteigenden Hakenkreuzes, dem letzten halben Jahr  schon unter Nazi-Herrschaft.  Ich fing an, Deutschland und alles Deutsche zu hassen. Als  also unser Schiff  den Hafen von Jaffa erreichte, war ich begeistert. Ich war gerade zehn Jahre alt und das Jaffa von 1933 war in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von Deutschland – laut, voll exotischer Gerüche, menschlich. Ich liebte es.

Wie ich später erfuhr,  hassten die frühen zionistischen „Pioniere“, die im arabischen Jaffa ankamen,  hassten es allein vom Anblick, weil sie sich selbst für Europäer hielten. Unter ihnen war der Gründer des Zionismus, Theodor Herzl, der zuerst überhaupt  nicht gern nach Palästina ging. Bei seinem einzigen Besuch  dort  hasst er seinen  palästinensisch-orientalischen Charakter.  Er hätte  Patagonien  (in Argentinien)  vorgezogen.

Fünfzehn Jahre später, während Israels Unabhängigkeitskrieg wurde ich in den vornehmen Rang  eines Unteroffiziers befördert und hatte die Wahl zwischen neu eingewanderten  Rekruten  aus Polen oder Marokko. Ich wählte die Marokkaner und wurde  von ihnen  mit meinem Leben belohnt, als ich  schwer verletzt unter feindlichem Feuer lag, riskierten vier „meiner Marokkaner ihr Leben, um mich dort herauszuholen“.

Es war damals, als ich einen Vorgeschmack  der zukünftigen Dinge erhielt.  Als wir einmal  ein paar kostbare Stunden Urlaub bekamen, weigerten sich einige meiner Soldaten zu gehen. „Die Mädchen in Tel Aviv gehen nicht mit uns aus“, beklagten sie sich  „für  sie sind wir Schwarze“. Ihre Haut  war nur ein bisschen  dunkler als die unsrige.

Ich wurde sehr sensibel gegenüber diesem Problem, als jeder andere  seine Existenz  leugnete. 1954  als ich schon der Herausgeber eines Nachrichten-Magazins war, veröffentlichte ich  eine Reihe Artikel, die eine Riesenaufregung verursachten: „Sie unteredrücken die Schwarzen“.  Jene Aschkenasim, die mich vorher noch nicht hassten, begannen mich  damals zu hassen.

Dann kamen die Aufstände vom „Wadi Salib“, einem Stadtteil in Haifa, wo ein Polizist  einen Misrachim  erschoss. Mein Magazin war die einzige Zeitung des Landes, die die  Demonstranten verteidigte.

Ein paar Jahre später begann eine kleine Gruppe von Misrachim, eine renitente Protestbewegung, den amerikanischen Begriff „Black Panthers“ übernommen. Ich half ihnen. Golda Meir  rief berüchtigter Weise  aus:  „Sie sind keine netten Leute“.

Heute, viele Jahre später, hat eine neue Generation das Problem übernommen … Der interne Konflikt beherrscht viele Aspekte unseres Lebens, Die Misrachim  machen etwa die Hälfte der  jüdischen Bevölkerung von Israel  aus, die Aschkenasim  sind die andere Hälfte. Die  Teilung hat viele Erscheinungsformen, aber man spricht nicht offen über sie.

Zum Beispiel: die große Mehrheit der Likud-Wähler sind Misrachim, obwohl die Parteiführung  vor allem  Aschkenasim sind. Die Opposition – die Labor-Partei  besteht  fast vollkommen  aus  Aschkenasim, obwohl  sie gerade einen Misrachim-als Führer   wählten, in der vergeblichen Hoffnung, dass dies ihnen helfen wird, den  tiefsitzenden Hass  der Misrachim  zu überwinden.

MEINE OPPOSITION  gegenüber der Behandlung der Misrachim  war hauptsächlich eine moralische. Dies kam  vom Wunsch nach Gerechtigkeit. Es hing auch von meinem Traum ab, dass wir alle, Aschkenasim und Misrachim schließlich in eine allgemeine hebräische Nation eintauchen. Doch muss ich bekennen, dass ich  auch noch ein anderes Motiv habe

Ich habe immer geglaubt -  wie ich auch jetzt glaube, dass es für Israel keine Zukunft  als  fremde Insel  im orientalischen Meer gibt. Meine Hoffnungen gehen viel weiter  als bis zum Frieden. Ich hoffe, dass Israel ein integraler Teil der „semitischen Region“ wird (ein Ausdruck, den ich vor langer Zeit erfand).

Wie ? Ich habe  schon immer eine monumentale Hoffnung gehegt: dass die  zweite oder dritte Generation der Misrachim  sich an ihr  Erbe erinnert, an die Zeiten, als Juden  ein integraler Teil  der muslimischen Welt war. So würden sie die Brücke zwischen der neuen hebräischen Nation in Israel und seinen palästinensischen Nachbarn und tatsächlich der ganzen muslimischen Welt werden.

Indem sie von den Aschkenasim als „asiatisch“ und unterlegen verachtet werden, würde es für die Mizrahim natürlich  gewesen sein, ihr ruhmreiches Erbe zurück zu gewinnen, als die Juden im Irak, Spanien, Ägypten und vielen anderen muslimischen Ländern, voll integrierte Partner  in einer blühenden Zivilisation waren   - zu einer Zeit, als viele Europäer noch Barbaren waren?

Jüdische Philosophen, Mathematiker, Dichter und  Mediziner  waren Partner dieser Zivilisation – Seite an Seite mit ihren muslimischen Kollegen.  Als die Verfolgung und Vertreibung der Juden  und die  Inquisition Fakten des Lebens in Europa waren , erfreuten sich die Juden (und die Christen) voller Rechte in der muslimischen Welt. Ihnen wurde der Status  des „Volkes des Buches“  ( die hebräische Bibel) zugestanden und volle gleiche Rechte;  außer, dass sie  vom  Militärdienst freigestellt waren    und  stattdessen eine Steuer zahlten. Anti-jüdische Vorfälle waren selten.

Als alle Juden aus dem christlichen Spanien vertrieben wurden, immigrierte eine kleine  Minderheit nach Amsterdam, London und Hamburg, die große Mehrheit ging in muslimische Länder von Marokko bis Istanbul. Seltsamerweise siedelte  nur eine Handvoll in Palästina.

DOCH ALS Massen orientalischer Juden in Israel ankamen, wurde meine Hoffnung zerschlagen. Statt eine Brücke  zwischen Israel und der arabischen Welt zu werden, wurden sie die leidenschaftlichsten Araber-Hasser. Die Jahrhunderte  muslimisch-jüdischer Kultur  wurden gelöscht, als ob sie nie existierte hätte.

Warum? Während sie von den „überlegenen“ Aschkenasim  verachtet wurden, begannen die Misrachim. ihre eigene Kultur zu verachten . sie versuchten Europäer zu werden, anti-arabischer, Super- Patrioten,  mehrRechte als die Rechten.

(Doch ein Misrachi-Freund sagte mir einmal: Wir wollen keine Brücke sein. Eine Brücke ist etwas, auf der die Leute herumtrampeln.)

Jedoch kann keiner vor sich selbst fliehen. Die meisten Misrachim in Israel sprechen mit einem arabischen Akzent. Sie lieben arabische Musik (dargestellt als „Mittelmeer“  Musik) und mögen Mozart und Beethoven nicht.  Ihre Merkmale unterscheiden sich von  denen der Europäer.  Das ist Grund genug, die Araber zu hassen.

Das  Löschen der östlich-jüdischen Kultur ist all-umfassend. Die israelischen Kinder  östlicher Herkunft haben keine Ahnung  von den großen Schriftstellern und Philosophen aus ihrem Erbe. Sie wissen nicht, dass  die christlichen Kreuzfahrer, die das Heilige Land eroberten, zusammen  Muslime und Juden  schlachteten und dass Juden  Jerusalem und Haifa verteidigten, Schulter an Schulter mit ihren muslimischen Nachbarn.

 Rabbiner Moses Maimonides – der große  Rambam -  ist wohl bekannt, aber nur als bedeutender Rabbi, nicht als Freund und persönlicher Arzt von Saladin, dem größten  der muslimischen Helden. Die vielen anderen mittelalterlichen, sephardischen Intellektuellen sind kaum bekannt. Keiner von ihnen erscheint auf unserem Papiergeld.

Ich bin davon überzeugt, dass eine neue Misrachim-Intelligenz nach ihren Wurzeln sucht. Dass mit dem Aufstieg ihrer sozialen Anlagen es Wege für einen normalen Patriotismus geben wird. Dass eine  vierte oder fünfte Generation kommen wird, die  nicht nur für Frieden, sondern auch für Integration in der Region kämpfen wird.

Wie unsere arabischen Freunde sagen würden: Inshallah (Wenn Gott will)

(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)