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Wer – zum Kuckuck  bin ich?

Uri Avnery. 10.Februar 201ß

WER ZUM Kuckuck bin ich?

Ein Israeli? Ein Jude? Ein Friedensaktivist? Ein Journalist? Ein Autor? Ein ehemaliger Soldat in der israelischen Armee? Ein Ex-Terrorist? Ein ...

Alles von diesen und mehr.

OK. OK.  Aber in welcher Reihenfolge? Was ist der wichtigste Komponent?

Zu allererst, natürlich, bin ich ein menschliches Wesen mit all den Rechten und Pflichten eines menschlichen Wesens.  Dieser Teil ist leicht. Wenigstens in der Theorie.

Dann bin ich ein Israeli – dann ein Jude. Und so weiter.

EIN AUSTRALIER englischer Herkunft würde kein Problem haben, solch eine Frage zu beantworten. Er ist zuerst und vor allem ein Australier und dann ein Angelsachse. In zwei Weltkriegen eilte er  zur Hilfe Groß-Britannien -  aus keinem  praktischen Grund. Aber im zweiten Weltkrieg, als  seine  eigene Heimat plötzlich in Gefahr war, eilte er nach Hause.

Das war ganz natürlich. Australien wurde hauptsächlich  von Briten  (meistens deportierte Straftäter) geschaffen. Aber die australische geistige Welt wurde von  der geographischen, politischen und  physikalischen  Umwelt Australiens geformt. Im Laufe der Zeit veränderte sich  seine (oder ihre)  körperliche Erscheinung.

EINMAL HATTE ich über dies eine Diskussion  mit Ariel Sharon.

Ich sagte ihm, ich betrachte mich zu allererst als Israeli und als Jude  nur als zweites.

Sharon, der im vor-israelischen  Palästina geboren wurde, entgegnete mir  aufgeregt: „ Ich bin zuerst ein Jude und erst dann ein Israeli!“

Dies scheint wie eine unnützige Diskussion  auszusehen. Doch hat sie eine sehr praktische  Revelanz für unser tägliches Leben.

Zum Beispiel, falls dies ein „jüdischer“ Staat ist, wie kann er ohne die Dominanz der jüdischen Religion  existieren?

Israel wurde von sehr säkularen Idealisten  gegründet. Die  meisten von ihnen schauten auf die Religion als ein Relikt der Vergangenheit, ein Handvoll  lächerlicher  Aberglauben, der ausrangiert werden muss, um  den Weg  für einen gesunden, modernen Nationalismus zu ebnen.

Der Gründungsvater, Theodor Herzl, dessen Bild in jedem israelischen Klassenzimmer hängt, war völlig unreligiös, um nicht anti-religiös zu sagen. In seinem grundlegendem Buch „Der  Judenstaat“  erklärte er , dass in dem zukünftigen zionistischen Staat  die  Rabbiner in den  Synagogen  fest gehalten werden – ohne einen Einfluss auf öffentliche Angelegenheiten zu haben.

  Die Rabbiner antworteten   mit Flüchen.  Sie benützten die extremste  Sprache.  Sie glaubten, dass Gott, der Allmächtige, die Juden als Strafe für ihre Sünden ins Exil geschickt hat und allein  Gott, der Allmächtige das Recht habe, sie zurückzubringen und ihnen den Messiah zu senden

Selbst die deutschen Reformrabbiner waren gegen den Zionismus.

Nur eine  Handvoll Rabbiner, schlossen  sich damals der zionistischen Bewegung an .

In Jerusalem  war eine bedeutende Gruppe von Orthodoxen  Rabbinern, die sich selbst  Neturei  Karta („Wächter der Stadt“) nannten ,  offene Anti-Zionisten. Viel später traf ich sie  in Arafats  Büro. Andere orthodoxe Rabbiner , ein bisschen weniger radikal , bestanden darauf, nicht –Zionisten zu sein und akzeptierten zionistisches Geld. Sie sind jetzt Mitglieder der Regierungs-Koalition.

David Ben-Gurion, der führende Zionist als der Staat Israel entstand, verachtete die Religiösen. Er war davon überzeugt, dass sie von selbst rechtzeitig verschwinden würden. Deshalb  (und um  Geld  von den Orthodoxen Juden im Ausland zu bekommen),  machte er ihnen alle Arten von Konzessionen. Jetzt gefährden  sie die reine Existenz unseres weltlichen  Staates.

Auch wenn sie nur  etwa ein Fünftel von Israels  Bevölkerung darstellen, sind die Orthodoxen verschiedener Schattierungen  jetzt eine  mächtige  Kraft in der israelischen Politik. Sie vertreten einen extremen Nationalismus, der sich oft in einen religiösen Faschismus verwandelt. Ihr Einfluss auf das tägliche Leben wird immer pervasiver. Von einer moderaten  Kraft für Frieden, haben sie sich in eine radikale anti-arabische Bewegung verwandelt.

In letzter Zeit gelang es ihnen, ein Gesetz zu verabschieden,  in dem  es Supermärkten  verbietet, am Samstag (Shabbat)  zu öffnen. Der extreme orthodoxe Flügel verbietet seinen Söhnen , in der Armee zu dienen und verlangte, dass alle weiblichen Soldaten entfernt werden oder wenigstens verhindert wird, dass sie irgendeinen Kontakt  mit ihren männlichen Kameraden haben.

Da die meisten Israelis die Armee als (vielleicht)  die einzige  vereinigende Kraft in Israel sahen,  verursacht dies eine ständige Krise. Andere orthodoxen Flügel   vertreten die entgegen gesetzte Ansicht :  Sie sehen die Armee  als Gottes Instrument, um  das ganze heilige Land  von Nicht-Juden  zu reinigen.

Die arabischen Bürger von Israel – mehr als 20% der Bevölkerung  dienen  ­- mit einigen Ausnahmen -  nicht in der Armee. Wie  könnte man sich darauf verlassen, dass sie die Pläne Gottes für Israel  erfüllen?

Falls Ben-Gurion und all die toten Soldaten meiner Generation  über diese Situation hören würden, sie würden sich in ihren Gräbern umdrehen.

DIES IST nur eine der Manifestationen der jüdisch-zuerst Ideologie.  Eine andere ist die Frage  nach Israels Platz in der Region. Jüdisch-zuerst diktiert eine völlig andere Ansicht  als  israeli-zuerst.

Ich war gerade 10 Jahre alt, als meine Familie aus Nazi-Deutschland nach Palästina  floh. Auf dem Schiff von Marseille nach Jaffa schnitt ich mich selbst völlig  vom europäischen Kontinent ab  und erfreute mich am asiatischen.

Ich liebte ihn. Die Geräusche, die Gerüche, die Umwelt. Ich wollte  alles umarmen. Als ich mich im Alter von 15 der Untergrundorganisation im Freiheitskampf gegen die britischen  Herren von Palästina anschloss, fühlte ich, dass wir ein Teil des allgemeinen Kampfes  einer neuen Welt gegen die westliche Vorherrschaft waren.

In jener Zeit wurde eine sprachliche  Anwendung  von uns allen  akzeptiert , selbst ohne  es zu merken. Wir begannen alle zwischen "jüdisch" und "hebräisch" zu unterscheiden. Mit  „jüdisch“ meinten  wir die Juden in der Diaspora (Exil-Juden in zionistischer Redeweise) und mit „Hebräisch“ meinten wir das lokale und mutterländische.

„Jüdisch" waren die Religion, die Ghettos, die jiddische Sprache. Hebräisch waren wir, die erneuerte Sprache, die neue Gesellschaft  in unserem Land, die Kibbutzim, alles Lokale . Am Ende   kam eine kleine Gruppe junger Intellektueller, mit dem Spitznamen  "Caananiter" und  ging noch weiter. Sie behauptete, dass wir Hebräer nichts mit den Juden zu tun hatten, dass wir eine neue Nation waren, eine direkte Fortsetzung der hebräischen Nation, dass wir von den Römern  vor etwa 2000 Jahre vertrieben wurden,

(Dieses Bild wurde übrigens von vielen nicht-jüdischen  Historikern geleugnet, die behaupteten, dass die Römer nur die Intelligenz vetrieben hatten. Das einfache Volk blieb, adoptierte den Islam und sind jetzt die Palästinenser).

Als die Wahrheit über den Holocaust herauskam , schwabbte eine Welle von  schlechtem Gewissen durch  die hebräische Gesellschaft hier. Jüdisch  wurde die  vorherrschende selbst-Definition. Seitdem  ist in Israel  ein Prozess  der Wieder-Judaisierung im Gange.

Als der Staat Israel gegründet wurde, wurde  das Wort „Hebräisch“ durch  „Israeli" ersetzt. Die Frage ist jetzt: „Jüdisch-zuerst“ oder „Israelisch-zuerst“. Es hat einen direkten Bezug zum israelisch-palästinensischen Konflikt.

Herzl hatte kein Problem. Er war ein überzeugter  West-Europäer.  In seinem Buch schrieb er die schicksalhaften Worte: „Für Europa  würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden; wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen.“

Hätte es anders sein können? Könnten wir uns in die  Region integriert haben? Ich weiß es nicht. Als ich jung war,  glaubte ich es. Ich war 22 Jahre alt, als ich eine Gruppe gründete, die ich „Junges Land Israel“ nannte ( und im Arabischen und Englischen „Junges Palästina“) , die gewöhnlich bekannt -  und gehasst - war als die „Kampf-Truppe“, weil wir  ein unregelmäßiges Blatt mit diesem Namen  veröffentlichten .Als Jawarhalal Nehru einen asiatisch-afrikanischen Kongress nach Neu Dehi einberief, sandten wir ihm ein Gratulations-Telegramm.

Nach dem 1948-Krieg gründete ich eine Gruppe, die sich „semitische Aktion“ nannte, und sich mit  der Idee  von Israels Integrations in die „semitische Region" befasste. Ich wählte „Semitisch“, weil es alle Araber und Israelis  einschloss.

1959 traf ich Jean-Paul  Sartre in Paris. Er hatte Zögerungen, was den Ausdruck "semitisch" betraf, der ihn rassistisch klang. Aber es gelang mir. ihn zu überzeugen und er  veröffentlichte einen Artikel von mir  zu diesem Thema in seiner Zeitschrift "Temps Modernes".

Je „jüdischer“ Israel wird, um so weiter wird der Abgrund zwischen  ihm  und der muslimischen Welt. Je „israelischer“ es wird, um so größer wird die Chance einer eventuellen Integration in der Region, ein Ideal, das viel tiefer ist als nur Frieden.

Deshalb wiederhole ich: Zuerst bin ich israelisch, und  zweitens bin ich jüdisch.

(dt. E. Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)