Pass zum Fortschritt
„Israelis
und Palästinenser sollten mir nacheifern und die doppelte Staatsbürgerschaft
annehmen – denn wir teilen ein Schicksal.“
Daniel
Barenboim: 30.Jan. 2008, The Guardian
Ich
habe oft gesagt, dass die Schicksale der Israelis und der Palästinenser
unentwirrbar verknotet sind und dass eine militärische Lösung des Konflikts nicht
möglich ist. Meine kürzlich erfolgte Annahme der palästinensischen
Staatsbürgerschaft hat mir die Gelegenheit gegeben, dies deutlicher zu machen.
Als
meine Familie in den 1950ern aus Argentinien nach Israel übersiedelte, war die
Intention meiner Eltern, mir die
Erfahrung zu ersparen, als Teil einer Minderheit aufzuwachsen – einer jüdischen
Minderheit! Sie wollten, dass ich als Teil der Mehrheit aufwachsen sollte – einer jüdischen Mehrheit. Die
Tragödie dabei ist, dass meine Generation
die Existenz einer Minorität in Israel – einer nicht jüdischen
Minderheit, die in ganz Palästina bis zur Gründung des Staates Israel 1948 die
Mehrheit war – ignorierte, obwohl sie in einer Gesellschaft erzogen worden war,
deren positive Aspekte und humane Werte mein Denken stark bereichert haben. Ein
Teil der nichtjüdischen Bevölkerung blieb im Land, andere Teile verließen das
Land aus Angst oder wurden mit Gewalt vertrieben.
Im
israelisch-palästinensischen Konflikt bestand und besteht bis heute die
Unfähigkeit, die gegenseitige Abhängigkeit
beider Stimmen zuzugeben. Die Schaffung des Staates Israel war das
Ergebnis einer jüdisch-europäischen Idee als Leitmotiv für eine Zukunft, die
aber die palästinensische Identität als gleichermaßen gültiges Leitmotiv
akzeptieren muss. Die demographische Entwicklung kann unmöglich ignoriert
werden; die Palästinenser in Israel sind eine Minorität, jedoch eine rapide
wachsende, und ihre Stimme muss jetzt mehr als je zuvor gehört werden. Heute
machen sie annähernd 22 Prozent der Bevölkerung von Israel aus. Das ist ein
größerer Prozentsatz als jener, den die
jüdische Minderheit in irgendeinem Land und zu irgendeiner Zeit hatte. Die Gesamtzahl der Palästinenser, die
innerhalb von Israel und in den besetzten Gebieten leben (das ist für die
Israelis „Großisrael“ und für die Palästinenser „Großpalästina“) ist heute
schon größer als die jüdische Bevölkerung.
Gegenwärtig
sieht Israel sich drei Problemen gegenüber: die Natur des modernen
demokratischen jüdischen Staates, also seine Identität – das Problem der
palästinensischen Identität innerhalb von Israel – das Problem eines
palästinensischen Staates außerhalb von Israel. Mit Ägypten und Jordanien
konnte erreicht werden, was bestenfalls als „eiskalter Friede“ beschrieben
werden kann, ohne die Existenz Israels als
jüdischen Staat zu hinterfragen. Das Problem der Palästinenser innerhalb
von Israel zu lösen, ist eine viel größere Herausforderung, theoretisch und
praktisch. Für Israel bedeutet das unter anderen Dingen, dass man sich mit dem
Faktum auseinandersetzen muss, dass das Land eben nicht wüst und leer, ein
„Land ohne Volk“ war, eine Idee, die in der Zeit der Gründung von Israel
weithin propagiert wurde. Für die Palästinenser heißt das, das Faktum zu
akzeptieren, dass Israel ein jüdischer Staat ist und bleiben wird.
Die
Israelis müssen die Integration der palästinensischen Minderheit akzeptieren,
sogar, wenn das bedeutet, dass verschiedene Aspekte im Wesen von Israel sich verändern; sie müssen auch die
Rechtfertigung für und die Notwendigkeit der Schaffung eines palästinensischen
Staates neben dem Staat Israel akzeptieren. Es gibt dafür keine Alternative –
oder einen Zauberstab, der die
Palästinenser zum Verschwinden bringt; sondern ihre Integration ist eine unentbehrliche Bedingung – aus
moralischen, sozialen und politischen Gründen – letztlich für das Überleben
Israels.
Je
länger die Besetzung dauert und die Unzufriedenheit der Palästinenser unerwähnt
bleibt, umso schwieriger wird es, auch nur einen einfachen gemeinsamen Nenner
zu finden. Wir haben in der modernen Geschichte des Nahen Ostens allzu oft
gesehen, dass versäumte Gelegenheiten zur Versöhnung extrem negative Ergebnisse
für beide Seiten zur Folge hatten.
Ich für
meinen Teil akzeptierte den mir
angebotenen palästinensischen Pass im Geiste der Anerkennung des
palästinensischen Schicksals, das ich als Israeli teile. Ein wahrer Bürger von
Israel muss dem palästinensischen Volk offen entgegenkommen und mindestens den
Versuch machen, zu verstehen, was die Schaffung des Staates Israel für dieses
bedeutet hat.
Der 15.
Mai 1948 ist für die jüdischen Israelis
der Tag der Unabhängigkeit, aber derselbe Tag ist für die Palästinenser die Nakba, die
Katastrophe. Ein wahrer Bürger von Israel muss sich die Frage stellen, was die
Juden, die als intelligentes Volk nach
Gelehrsamkeit und Kultur
bekannt
sind, getan haben, um ihr kulturelles
Erbe mit den Palästinensern zu teilen. Ein wahrer Bürger von Israel muss sich
außerdem fragen, warum die Palästinenser dazu verdammt sind, in Slums zu leben,
niedrigere Bildungsstandards und schlechtere medizinische Versorgung zu
akzeptieren, statt dass die Besatzer ihnen anständige, würdige und lebenswerte
Bedingungen schaffen, ein Recht, das allen menschlichen Wesen zusteht.
In
jedem besetzten Land sind die Besatzer verantwortlich für die Lebensqualität
der Besetzten, aber im Fall der Palästinenser haben die verschiedenen
israelischen Regierungen während der vergangenen 40 Jahre hier elendiglich
versagt. Natürlich müssen die Palästinenser weiterhin Widerstand gegen die
Besetzung und alle Versuche, ihnen die Grundversorgung und Staatlichkeit zu
verweigern, leisten. Jedoch muss sich dieser Widerstand zu ihrem eigenen Wohl
nicht durch Gewalttätigkeit ausdrücken. Die Überschreitung der Grenze vom
beinharten Widerstand (einschließlich gewaltfreier Demonstrationen und
Proteste) zur Gewalt resultiert nur in mehr unschuldigen Opfern, und dient - auf Dauer gesehen - nicht den Interessen
des palästinensischen Volkes.
Gleichzeitig
haben die Israelis ebenso gute Gründe, die Bedürfnisse und Rechte des
palästinensischen Volkes (innerhalb und außerhalb Israels) wahrzunehmen wie
ihre eigenen. Schließlich sollten wir, im Sinne, dass wir ein Land und ein
Schicksal teilen, alle eine doppelte Staatsbürgerschaft haben.
Daniel Barenboim ist Dirigent und Pianist und hat zusammen mit Edward Said
das Buch „Parallele und Paradoxe: Entdeckungen in Musik und Gesellschaft“
geschrieben.
danielbarenboim.com
(dt: Gerhilde Merz)