Der
abtrünnige Lexikograph
Deb Reich, 16.März 2008
Israel/Palästina
Die Leute sprechen weiter von Israel
als Israel, egal auf welchem Land es sich ausbreitet oder wie weit, als ob man
Palästina zum Verschwinden bringen könnte, indem
man versäumt, es zu erwähnen. Während
ich dies ( im März 2008) schreibe, lebt Palästina tatsächlich,
wenn auch unerträglich zugerichtet und belagert, nur gerade unter der
Oberfläche Israels und erhebt sich überall und dringt durch die Spalten auf den
Gehwegen auf unvorstellbare Weise und ist nicht aufzuhalten. Palästina will
nicht unterdrückt werden. Ob wir dafür oder dagegen sind– Palästina lässt
sich nicht unterdrücken. Egal, ob die palästinensische
Identität neu oder nicht neu ist, egal, ob der Name selbst einheimisch oder
importiert wurde - Palästina ist eine Tatsache und die Palästinenser genau so.
Wir Juden sind hier nicht die einzigen. Egal wie lang wir hier gewesen sind,
ob in großer oder kleiner Zahl – wir
sind niemals alleine hier gewesen. Gewöhnt euch daran. Ich befasse mich mit
diesem Problem, indem ich das Land Israel/Palästina nenne. Manchmal nenne ich
es (um der Parität willen) Palästina/ Israel. Das ist keine perfekte
Lösung, aber keine schlechte.
Aliya
/ Yerida
Es
ist unglaublich, aber noch immer
kommen Juden aus aller Welt und „machen Aliya nach
Israel.“ Eine „Aliya“
heißt
wörtlich
"Aufstieg". Dasselbe Wort wird auch dann verwendet, wenn ein
Jude mit der Möglichkeit geehrt
wird, vor der versammelten Gemeinde in
der Synagoge den Text aus der Tora vorzulesen. Für einen gläubigen
Juden bedeutet das "Nach –Israel-einwandern"
im geistlichen Sinn ein Aufstieg In der Zwischenzeit ist die aktuelle
Landmasse Israels dabei, nach und nach unter dem Gewicht seiner eigenen
grotesken moralischen Dilemmata
tiefer zu sinken. Dies geschieht zusammen mit dem schweren militärischen Material, den riesigen Häuser-zerstörenden Bulldozern, den grauenvollen 8-10m
hohen Zementplatten des Trennungszaunes, die Verzweiflung im Gazastreifen, eine
viel zu schwere Bürde selbst für die Geologie. Wer also in diesen Tagen von
Boston oder Cincinnati oder Buenos Aires hierher kommt, muss nach unten gehen
und kann nicht aufsteigen.
„Yerida“
(hinuntergehen), was in Israel bis jetzt „Auswanderung aus Israel“ bedeutete,
sollten wir heute Einwanderung nach Israel nennen. Und „making
aliya“ sollte nicht die Ankunft in Israel genannt
werden, sondern das, was die zehn
Tausenden Israelis tun, die jedes Jahr sich
in einen sichereren Hafen im Ausland
aufmachen. Wenn wir uns nicht bald zusammenreißen, wird das Land bald unter den
Meeresspiegel sinken wie der Jordangraben, und wir werden holländische Experten
holen müssen, die an der Küste des Mittelmeeres uns beim Deichbau helfen ( Die
Gilde der Fremdarbeiteragenturen
wird einen großen Tag haben.)
Fromme Juden werden zweifellos darauf
bestehen, dass das Einwandern nach Israel weiter eine Aliya,/ ein Aufstieg im geistlichen Sinn ist , aber - um es so höflich wie möglich zu sagen – sie
haben völlig und absolut unrecht. Die
jüdischen Grundwerte werden hier
ernsthaft und fortwährend von dunklen Mächten angegriffen und während dieses
Schreibens sind die
nicht weit entfernt. Man muss schon heldenhaft Personen der
Öffentlichkeit suchen, die nicht angeklagt wurden
oder wegen großer und schäbiger Korruptionsaffären oder
moralischer Verdorbenheit unter Anklage stehen ( Vorsicht, ihr jüngeren Leser:
das bedeutet wenn man dabei ertappt wurde, das Geld der Steuerzahler zu stehlen
oder seine Sekretärin zu vergewaltigen oder einen grausamen und sinnlosen Krieg
mit dem Nachbarn zu beginnen, während man an verantwortlicher Stelle ein Amt
bekleidet.) Das militärische Missmanagement seiner verabscheuungswürdigen Macht
in diesem Land ließ vor kurzem eine Organisation entstehen, die sich „Kämpfer
für den Frieden“ nennt, eine Gruppe von israelischen ( und
palästinensischen) früheren Soldaten und
Kämpfern, die begreifen, dass Gewalt keine dauerhafte Lösung bringt. Sie
begreifen, dass hier zwei Völker mit einander leben müssen und dass noch mehr
Blutvergießen sie nicht lehrt, wie man dies tut. Ich würde wohl nicht
überrascht sein, wenn ich eines schönen
Tages erfahren würde, dass die vernünftigeren Generäle und Admirale in den USA,
die entsetzt über Bushs Komplott mit Dr-
Strangelove –ähnlichen Szenarien für den Iran etc
sind, „Kämpfer für den Frieden“
eingeladen haben, um sie zu lehren, wie man gegen die eigene Gang von
machtbesessenen Politikern rebelliert, gegen Politiker, die von der Phantasie
imperialer Herrschaft via militärischem Abenteurertum trunken sind..
Ein Jude / ein Israeli
Als ich 1966 das erste Mal - auf der Suche nach meinen ethnischen Wurzeln - als
amerikanisch jüdischer Teenager nach Israel kam, fiel mir sofort etwas
Besonderes in der Sprache hier auf.
Israelische Juden, die Hebräisch sprachen, benützten die Wörter Israeli und
Jude als ob diese Wörter austauschbar wären. Ich wunderte mich nur darüber. Ich
wusste nur sehr vage, dass einige Israelis keine Juden waren. Ich hatte noch
nichts über den großen Anteil arabischer Bevölkerung in Israel erfahren, die
bis in die 60er Jahre unter militärischer Verwaltung in ihren eigenen Gemeinden
mitten in Israel stand. Diese Gemeinschaft zählt heute 1,1 Millionen.
Mittlerweile war ich im Land, eindeutig jüdisch, aber nicht israelisch. (Die
israelische Staatbürgerschaft nahm ich erst später an; 1984.) So unerfahren wie
ich damals war, da mir der Kontext fehlte
- konnte ich sehen, dass diese wesentlichen Zusammenhänge von
Identitäten wahrscheinlich nichts Gutes
bedeuten, und tatsächlich ist dadurch in den mehr als vierzig Jahren, die
inzwischen verstrichen sind, nichts Gutes
geworden.
Zionismus/ Zayyinismus
Die verpackte Fantasie über dieses
Land, das den Juden im Ausland verkauft wird, betont noch immer „Zionismus“ als etwas besonders
Positives und Inspiratives. Juden
außerhalb Israels wissen nicht oder kümmern sich auch nicht darum, dass für
über eine Million Bürger der Staat Israel – also ein Sechstel der Bevölkerung –
der Zionismus etwa so positiv und inspirativ ist wie für die einheimischen
Amerikaner ( „Indianer“) der Kolumbustag. Das Yin des Zionismus ist „Hurrah für uns Juden!“, doch das
Yang des Zionismus ist: „Können all diese (einheimischen) Araber nicht einen
anderen Platz zum Leben finden?“ Rein logisch betrachtet, gibt es keinen
besonderen Grund, warum Zionisten oder Zionismus bei den palästinensischen Arabern in Israel beliebt machen, deren Urgroßeltern,
auch wenn sie sich nicht Palästinenser nannten, schon hier waren, als die
Zionisten hier ankamen. Immigranten sind nirgendwo beliebt, egal wo sie auf
Erden erscheinen. Und je mehr Immigranten auf einmal erscheinen, um so weniger sind sie bei der einheimischen Bevölkerung
beliebt. Und Neuankömmlinge, die mit der erklärten Absicht kommen, die
Herrschaft anstelle der bestehenden lokalen Behörden zu übernehmen, werden
sicher nie irgendeinen
Popularitätswettstreit gewinnen.
Als der Zionismus in Wirklichkeit sagte „ Rück zur Seite, Vagabund! Wir
kommen und übernehmen jetzt das
Kommando“, dann war ein kühler Empfang
durch die Einheimischen vorausbestimmt.
Als ich Hebräisch lernte, amüsierte ich
mich bei der Entdeckung, dass das heilige Wort „Zionismus“ im Hebräischen ganz
anders ausgesprochen wird: Tses-jo-noot. Das
hebräische Wort, das dem englischen
Namen „Zion“ ( das biblische Israel, den
Geburtsort des Judentums bezeichnet)
phonetisch am nächsten kam, das hebräische Wort „Zayyin“
ist. Es bedeutet zwei Dinge, a) den Buchstaben „z“ im Hebräischen; und b) eine
Waffe; aber in der Umgangssprache stand
er für Penis.
Ja, tatsächlich. In der Umgangsprache
bedeutet „Zayyin“ Penis. Also könnte "Zayyinismu"s auch als „Penismus“
aufgefasst werden oder in andern Worten
aggressive männliche Dominanz:
Vergewaltigung der Leute, Zwang als bevorzugte Interaktion; Brutalität als …
Zayyinismus
in diesem Sinn ist bedauerlicherweise eine durchaus genaue Beschreibung des
israelisch-jüdischen „Zeitgeistes“ von 2008. Man sieht es, wenn sich
Leute auf widerliche Weise im Supermarkt
mit Ellbogen nach vorne drängen; man sieht es, wenn Fahrer auf arrogante Weise auf den Schnellstraßen
andere gefährden; man erlebt es wie aus
dem Militärdienst entlassene Soldaten
mit ihren Familien reden; und man sieht wie auf brutale Weise viele israelische
Soldaten sich gegenüber jungen und alten, gehbehinderten, kranken, blutenden
Palästinensern und schwangeren
Palästinenserinnen verhalten. Der israelische "Zayyinist"
in Uniform von heute richtet
seine wie ein Phallus aussehende Waffe auf hilflose Zivilisten und gibt
aggressiv Befehle.
Ja ,
"Zayyinismus" lebt. Aber Zionismus? Als
eine ursprünglich edle Bewegung von nationalem Wiedererwachen ist der Zionismus
in der Tat tot. Es hängt nun von der
Einstellung des einzelnen ab, in wie weit er diese
Feststellung akzeptieren kann – ehrlich gesagt, selbst ich habe Mühe, sie
zu akzeptieren. Aber wenn wir die Realität verleugnen, dann können wir sie auch
nicht verändern. Bestenfalls können wir
sagen, dass der Zionismus 2008
ein erfüllter Traum ist, auf jeden Fall ein Traum, dessen Zeit gekommen und nun vergangen ist. Schlimmstenfalls – von der
anderen Seite der Mauer - ist es ein
fortdauernder Alptraum, ein Golem, eine groteske Karikatur seiner selbst. Das
ist zweifellos sehr traurig.
Ein neuer Traum auf der Suche nach
einem Namen
Ein Traum von Millionen Menschen
mehrerer Generationen schlägt hohe Wellen, wenn er stirbt. Das
Kübler-Ross-Modell * passt: Zuerst ist es Leugnung ( „Zionismus
lebt“), dann Zorn (Wie kannst du es nur wagen, du selbsthassende
Jüdin!“); dann Verhandeln ( „Wenn jene
andern Länder unsere kleinen Menschenrechtsverletzungen ignoriert werden, dann
werden wir auch die ihrigen ignorieren“); dann Depression ( „Sie hassen uns
alle ….) und schließlich – Akzeptanz. (* Trauerarbeit ist ein Prozess, der
durchlebt werden muss)
Auf einem Grab kann nichts Gutes
wachsen, bevor die Leiche nicht beerdigt ist.
Als sich der Zionismus in Zayyinismus wandelte, starb tatsächlich die edle Bewegung der
jüdisch-nationalen Wiedergeburt im Lande unserer Vorväter. Wenn wir die
Tatsache ihres Endes akzeptieren und sie beerdigen, kann ein äußerst lohnender
neuer Traum aus dem Grab des alten wachsen .
So kann der neue Traum aussehen: es
geht um das Gestalten einer neuen, inklusiven, phantasievollen, gemeinsamen zivilen Gesellschaft in diesem
Land, in dem jedes einzelne menschliche Wesen und alle individuellen und
Gruppenidentitäten – religiöse, nationale ethnische, sprachliche und andere
- blühen können. (Kein Krieg mehr!
Vorwärts mit Synergie und Pluralismus!) Wenn wir doch alle einmal einen, wenn
auch schwachen Blick auf jenen gemeinsamen Traum werfen könnten, dann könnten wir mit der wirklichen
Arbeit beginnen und gemeinsam ein Land aufbauen, auf das wir alle stolz sein
könnten.
Deb Reich ( debmail@alum.barnard.edu) ist Autorin und Übersetzerin in
Israel/Palästina.
(dt. Ellen Rohlfs)