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Reflexionen über den Goldstone-Bericht

 

Felicia Langer

 

Zur deutschen Ausgabe des Goldstone-Berichtes, der 789 Seiten plus Anhang umfasst, liegen bereits mehrere Analysen und Rezensionen vor, deswegen möchte ich im Folgenden nur einige persönliche Gedanken vortragen.

Als erstes möchte ich der Untersuchungskommission unter Leitung von Richter Richard Goldstone, meine Dankbarkeit und Hochachtung aussprechen, für die gründliche Untersuchung der feststellbaren Fakten und deren stringente rechtliche Würdigung, aber insbesondere auch dafür, dass der Bericht die historischen Hintergründe deutlich gemacht hat, da ein Verständnis der gegenwärtigen Lage nur im Zusammenhang der historischen Entwicklung möglich ist. Auch dem Melzer Verlag und allen, die dazu beigetragen haben, dass der Bericht auf Deutsch erscheinen konnte, möchte ich meinen herzlichen Dank aussprechen.

Zwischen dem 28. Dezember 2008 und dem 18. Januar 2009 hat Israel, die viertgrößte Militärmacht der Welt, die Palästinenser im belagerten Gaza-Streifen angegriffen, aus der Luft, von der See und auf dem Boden. Die Operation trug den Decknamen „Gegossenes Blei“, und der Verzicht auf frühere Euphemismen (Sommerregen, Regen-bogen etc.) weckte schlimmste Befürchtungen, und in der Tat war die „blutige Jagd im Käfig“ ein Massaker an der Zivilbevölkerung und der zivilen Infrastruktur. Laut Al Mizan, einer palästinensischen NGO, gab es 1.409 palästinensische Todesopfer, davon 1.172 Nicht-Kombattanten, darunter 342 Kinder, 111 Frauen und 136 Polizisten. Laut Angaben der israelischen Regierung gab es 13 israelische Todesopfer, vier davon durch eigenen Beschuss (friendly fire).

Bei der militärischen Strafaktion kamen Waffen und Munition zum Einsatz, die unverhältnismäßig schwere Schäden, Schmerzen und Leid verursachen; so z.B. weißer Phosphor. Bei ihren Gesprächen mit medizinischen Sachverständigen und Ärzten war die Kommission tief betroffen über die Schwere der dadurch verursachten Verletzungen und Verbrennungen, für die es allzu oft keine effektive Therapie gab. Und diese Munition wurde mehrfach und wiederholt in dicht besiedelten Örtlichkeiten ohne erkennbaren militärischen Nutzen eingesetzt. Weitere Munitionsarten, die wegen ihres immensen Zerstörungscharakters nicht in der Nähe von Zivilpersonen eingesetzt werden dürfen, sind so genannte Flechettes, die im Umkreis rasierklingenscharfe Metallteile verstreuen, und so genannte DIME-Munition, die aufgrund der Natur ihrer Bestandteile als „focused lethality munition“ bezeichnet wird, also Munition konzentrierter Tödlichkeit.

Mit den Angriffen auf die zivilen Lebensgrundlagen in Gaza, die Zerstörung der industriellen Infrastruktur, der Nahrungsmittelproduktion, der Elektrizitäts- und Wasserversorgung, der Abwasseranlagen sowie Krankenhäusern, Schulen, Moscheen und Wohngebäuden werde ich mich nicht näher befassen. Hierzu empfehle ich, den Bericht zu lesen, der ausführlich diese Zerstörungen schildert sowie die rechtliche Würdigung dieser Aktionen: Sie stellen Verstöße gegen das Völkerrecht dar, sind möglicherweise nicht nur Kriegsverbrechen, sondern auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Ich möchte mich vielmehr mit einigen palästinensischen Opfern des Massakers befassen und mit ihrem Schicksal während der Kriegshandlungen; sie finden sich in dem Kapitel XI: Vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung. (Die untersuchten Fälle betreffen den Tod von mehr als 220 Personen, darunter 47 Kinder und 19 Frauen.)

Das so genannte Al-Samouni-Viertel gehört zum Bezirk Zeytoun, südlich von Gaza-Stadt. Es wird hauptsächlich von der Großfamilie al-Samouni bewohnt, es leben aber auch andere Familien dort. Am frühen Morgen des 4. Januar 2009 drangen israelische Soldaten gewaltsam in viele Häuser des Viertels ein, u.a. auch in das Haus von Ateya al-Samouni, wobei sie eine Art Sprengsatz warfen. Inmitten des Rauchs, Feuers und Lärms trat Ateya mit erhobenen Händen vor und erklärte, er sei der Eigentümer des Hauses. Die Soldaten erschossen ihn kaltblütig, als er ihnen seinen Ausweis und israelischen Führerschein zur Identifikation zeigte. Dann eröffneten sie das Feuer in dem Zimmer, in dem sich alle etwa 20 Familienmitglieder versammelt hatten. Mehrere Personen wurden verletzt, besonders schwere Verletzungen erlitt der vierjährige Ahmad.

Gegen 6.30 Uhr befahlen die Soldaten der Familie, das Haus zu verlassen. Sie mussten Ateyas Leichnam zurücklassen, aber Ahmad, der noch atmete, konnten sie mitnehmen. Faraj al-Samouni, der Onkel, der das schwerverletzte Kind trug, bat die Soldaten, die Verletzten nach Gaza-Stadt bringen zu dürfen, was ihm die israelischen Soldaten jedoch verwehrten. Gegen 16 Uhr gelang es einem Krankenwagen des palästinensischen Roten Halbmondes PRCS (Palestinian Red Crescent Society), in die Nähe des Hauses zu gelangen, in dem das verwundete Kind inzwischen lag. Aber israelische Soldaten griffen ein und verhinderten die Bergung und Rettung des Kindes. Ahmad verstarb gegen 2.00 Uhr in der Nacht auf den 5. Januar 2009.

Saleh al-Samouni sagte aus, beim Angriff auf Wa’el al-Samounis Haus seien insgesamt 21 Familienmitglieder getötet und weitere 19 verletzt worden. Unter den Toten waren auch die Eltern von Saleh al-Samouni und seine zweijährige Tochter Azza. Drei seiner Söhne im Alter von fünf und drei Jahren bzw. knapp einem Jahr wurden verletzt. Von Wa’els nächsten Angehörigen wurden eine Tochter (14 Jahre alt) und ein Sohn (12 Jahre alt) getötet, zwei kleinere Kinder wurden verletzt.

Nach dem Beschuss des Hauses von Wa’el al-Samouni beschlossen die meisten der sich im Gebäude aufhaltenden Personen, nach Gaza-Stadt zu gehen, um den Roten Halbmond zu informieren und Hilfe für die Verletzten zu organisieren. Die Versuche des PRCS, die Verletzten zu bergen und zu retten, wurden jedoch durch die israelische Armee vereitelt. Bei seiner Befragung durch die Kommission erinnerte sich der Fahrer des Krankenwagens, dass er unter der Treppe eines Hauses Frauen und Kinder sah, die dort kauerten, die er aber nicht mitnehmen durfte.

Erst am 7. Januar erlaubte die Armee dem Roten Halbmond und Internationalen Roten Kreuz IKRK, in den Bezirk al-Samouni zu fahren. Ein Krankenwagenfahrer berichtete der Kommission, in Wa’el al-Samounis Haus 15 Leichen und zwei schwerverletzte Kinder gefunden zu haben. Die Kinder waren dehydriert und völlig verängstigt. In einem anderen Haus fanden sie in einem Raum 11 Menschen und eine tote Frau.

Am 18. Januar konnten Mitglieder der Familie al-Samouni endlich wieder in ihr Wohngebiet zurückkehren. Wa’el al-Samounis Haus wie die meisten Häuser in der Nachbarschaft sowie die kleine Moschee fanden sie demoliert vor. Die israelische Armee hatte die Gebäude über den Leichen der bei dem Angriff Verstorbenen zerstört.
In einem anderen Haus fanden die Rettungskräfte vier kleine Kinder neben ihren toten Müttern. Sie waren zu entkräftet, ohne Hilfe aufzustehen.

Es gibt auch ein Kapitel über dieTötung von Zivilpersonen beim Versuch, ihre Häuser zu verlassen, um sich andernorts in Sicherheit zu bringen. Es gibt ein Zeugnis über die Beschießung von Iyad al-Samouni, einem Zivilisten, der keinerlei Gefahr für die israelischen Soldaten darstellte, er war von israelischen Soldaten an den Händen gefesselt worden. Die Zeugen, offenbar zutiefst traumatisiert, berichten, wie er zusammen mit anderen, mit gefesselten Händen wohlgemerkt, auf der Straße in Richtung Gaza-Stadt lief und von einem Scharfschützen getroffen wurde. Mit einer stark blutenden Schusswunde am Bein auf der Straße liegend, bat er seine Kinder, seine Frau und andere Verwandte, ihm zu helfen, woran sie jedoch von israelischen Soldaten durch Warnschüsse und Androhung der Erschießung gehindert wurden. So waren sie gezwungen, ihn blutend auf der Straße liegen zu lassen und weiterzugehen, im sicheren Bewusstsein, dass er verbluten werde. Drei Tage später wurde dem Roten Halbmond gestattet, nach Iyad zu sehen. Er war, immer noch an den Händen gefesselt, am angegebenen Ort verblutet. Die Kommission kommt zu dem Schluss, dass die israelischen Soldaten Iyad al-Samouni, einen Zivilisten, von dem keinerlei Gefahr ausging, vorsätzlich beschossen haben und ihn vorsätzlich haben verbluten lassen.

Am 6. Januar 2009 wurde das Haus der Familie al-Daya in der Rai’i-Straße in Zeytoun von einem von einem F-16-Flugzeug abgefeuerten Projektil getroffen, wodurch 22 Familienmitglieder ums Leben kamen. Zwölf der Getöteten waren Kinder, die das zehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hatten.

Die hier angeführten schrecklichen Ereignisse sind nur ein kleiner Ausschnitt aus der Liste der von der Kommission untersuchten Fälle. Eigentlich kann man sich gar nicht vorstellen, dass solche Verstöße gegen das Völkerrecht rund 6o Jahre nach den Nürnberger Prozessen möglich sind. Wenn ich derartige Schicksale lesend nach-empfinde, werde ich gleichzeitig von Empörung und tiefer Trauer überwältigt. Auch wenn ich sie nicht persönlich kannte, so haben doch alle diese Toten für mich ein Gesicht.

Dieses gleichzeitig zutiefst aufwühlende und niederdrückende Gefühl habe ich schon einmal erleben müssen: Als ich den Leidensweg meines Mannes Mieciu in den Zeiten des Holocaust niedergeschrieben habe, auch den seines getöteten Weggefährten. Ich spreche hier nicht von Gleichsetzung der Verbrechen, aber was die Grausamkeit und Unmenschlichkeit der Täter betrifft, sehe ich durchaus Ähnlichkeiten. Es ist zutiefst erschreckend, zu erleben, wie Menschen ihre Seele verlieren/verloren haben.
Den Prozess der Entmenschlichung des Anderen habe ich am Schicksal der Palästi-nenser 23 Jahre hautnah miterlebt und mitempfunden. Ich habe mich ihm nach besten Kräften entgegengestellt, nicht immer vergeblich.

Und meine persönlichen Erinnerungen an frühere Mandanten in den besetzten Gebieten melden sich auch, wenn ich im Goldstone-Bericht über die Trauerzelte der Familie Abd al-Dayem in Beit Lahia lese. In den siebziger Jahren war ich dort, um juristisch gegen Häuserzerstörungen zu kämpfen, in jenem Fall erfolgreich.
Bei einem Raketenangriff auf einen Krankenwagen in Beit Lahia am 4. Januar 2009 mit Flechette-Munition wurde Arafa Abd al-Dayem, ein freiwilliger Rettungsassistent, schwer verletzt. In dem Krankenwagen waren Verletzte, die bei einem früheren Angriff verwundet worden waren. Arafa al-Dayem verstarb noch am Nachmittag desselben Tages. Am folgenden Tag errichtete die Familie, wie es Brauch ist, zwei Trauerzelte, jeweils eines für Männer und Frauen. Innerhalb von zwei Stunden wurden die Zelte dreimal mit Flechette-Raketen angegriffen; fünf Personen wurden getötet, 17 weitere, darunter 14 Männer, zwei Kinder (17 und elf Jahre alt) und eine Frau, wurden verletzt.

Ein vorsätzlicher massiver Angriff auf Trauernde? Eigentlich unvorstellbar… Aber ich habe Ähnliches schon in den achtziger Jahren in Nablus erlebt, ich erinnere mich noch genau an den Fall. Es war auch beileibe kein „isolierter“ Einzelfall. Wir erleben also hier eine Kontinuität der Missachtung international anerkannter Normen….
Und die Welt schweigt seit vielen Jahren beharrlich, gelegentliche Unterbrechungen des Schweigens fallen zumindest kaum ins Gewicht und haben keine Folgen. Dieses Schweigen und die Erfahrung der eigenen Straffreiheit haben letztendlich zu den jüngsten Massakern der israelischen Armee in Gaza geführt. Wie zutreffend klingen Peter Ustinovs Worte, dass der Krieg tötet, aber das Schweigen ebenfalls…

Ich möchte meine Reflexionen mit der rechtlichen Würdigung der Kommission der zuletzt angeführten Fälle (S. 341 – 342) beschließen.
 

Es ist nicht nur verboten, Zivilpersonen zum Ziel von Angriffen zu machen, sie haben außerdem „unter allen Umständen Anspruch auf Achtung ihrer Person……und insbesondere vor Gewalttätigkeit oder Einschüchterung geschützt (Art. 27 4. Genfer Abkommen). Zu den in Art. 75 des 1. Zusatzprotokolls festgelegten grundlegenden Garantien gehört das „jederzeit und überall“ geltende absolute Verbot von „Angriffen auf das Leben, die Gesundheit oder das körperliche oder geistige Wohlbefinden von Personen.“ Aus den vorgebrachten Tatsachen geht hervor, dass diese Bestimmungen verletzt worden sind.

Diese von seinen Beauftragten begangenen völkerrechtlich verbotenen Handlungen hätte der Staat Israel völkerrechtlich zu vertreten.

Die Kommission stellt ebenfalls fest, dass die gezielten Angriffe auf sowie die vorsätzliche Tötung von palästinensischen Zivilpersonen eine durch die israelischen Streitkräfte begangene Verletzung des in Art. 6 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte gewährten Rechts auf Leben darstellt.

 

Die Kommission ist am Ende ihrer Untersuchung der Sachverhalte zu dem Schluss gekommen, dass Aktionen und Handlungen der israelischen Streitkräfte nach den Bestimmungen des Völkerrechts Kriegsverbrechen bzw. Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen, wofür die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen sind.


Der Versuch, Richter Goldstone und den Bericht der von ihm geleiteten Untersuchungs-kommission zu verunglimpfen seitens Israel und pro-israelischer Lobby-Gruppen auf der ganzen Welt, hat keine Zukunft. Die Wahrheit ist hartnäckig und ihre Verfechter unermüdlich.


Ich hoffe, dass es diesmal keine Straffreiheit geben wird.

 

Text © Felicia Langer

Bild  © Erhard Arendt