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Wann wird es zum Genozid?
Nadia Hijab, 5.1.2010
Während eines Besuches in Ramallah vor einem Jahr und während des israelischen Bombardements des Gazastreifens teilte ich mit einem engen palästinensischen Freund meine Befürchtungen. „Es mag irrsinnig klingen, aber ich denke, das wahre Ziel der Israelis ist es, alle (Palästinenser) tot zu sehen.“
Mein Freund sagte mir, ich solle kein dummes Zeug reden, der Angriff sei zwar grauenhaft, aber das sei kein Massenmord. Ich sagte: „Darum geht es nicht: es ist eine Bevölkerung die schon sehr anfällig für Krankheiten, ja halbkrank sei, nach Jahren der Belagerung unterernährt, die Infrastruktur zerstört, Wasser und Lebensmittel kontaminiert. Israels Krieg würde die Menschen sicher über den Rand der Vernichtung stoßen, besonders wenn die Belagerung aufrechterhalten wird.
Mit andern Worten: Israel wird nicht gleich zehn tausend Palästinenser töten, aber es wird für zehn Tausende die Vorraussetzungen zum Sterben schaffen. Irgend eine Seuche kann dann den Job zu Ende bringen. Mein Freund wurde bei diesen Worten still, aber schüttelte ungläubig seinen Kopf.
Zwei Dinge haben sich im letzten Jahr verändert: mehr Menschen haben bei dem, was Israel im Gazastreifen tat, angefangen, den Terminus „Genozid“ anzuwenden. Und nicht nur Israel wird deshalb direkt angeklagt, sondern zunehmend auch Ägypten.
Ist es Genozid? „Die Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Verbrechens des Völkermords“ – ein klares, präzises Dokument, das von der UN 1948 adoptiert wurde, erklärt, dass ein Genozid aus fünf Tatbeständen besteht:
Die Absicht der Vernichtung – ganz oder teilweise - einer nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppe.“
Drei Tatbestände können für die Situation in Gaza nachgewiesen werden: „a) das Töten von Mitgliedern einer Gruppe; b) das Verursachen von ernsthaften körperlichen und seelischen Schäden bei Mitgliedern einer Gruppe; c) Absichtliches Auferlegen von Lebensbedingungen, die auf teilweise oder vollständige physische Zerstörung hinauslaufen“.
Juristen sind sich nicht einig, wie die Artikel der Konvention interpretiert werden sollen. Es hat sich im Laufe der Jahre als schwierig erwiesen, Verbrechen als Genozid zu definieren, geschweige denn, sie zu verhindern bzw. zu beenden. In Übereinstimmung mit dem Bosnien-Präzedenzfall – der bis dato einzigen entschiedenen juristischen Klärung von Genozid – würde es für eine Anklage gegen Israel wegen Völkermord notwendig sein, eine bewusste Absicht herzustellen, um vor Gericht gestellt zu werden.
Israels Führung hat diesbezüglich natürlich keine Absichtserklärung gegeben. Doch vielen verantwortlichen Israelis könnte nachgesagt werden, dass sie dies getan haben. Zum Beispiel:
Die Palästinenser im Gazastreifen „auf Diät setzen“: Dov Weissglass, 2006, Mitarbeiter
Ariel Sharons;
Sie einem „größeren Holocaust“ aussetzen : Matan Vilnai , 2008, früherer
stellvertretender Außenminister.
Verteilung religiöser Erlasse, die Soldaten ermahnen, keine Gnade zu zeigen: das
Israelische Armee-Rabbinat während des aktuellen Konfliktes (Gazakrieg) 2008/2009.*
Derartige Erklärungen entsprechen mindestens drei der 8 Tatbestände der Voraussetzung eines Genozids, wie sie vom Genocide Watch Präsident Gregory Stanton in den 1990er Jahren nach dem Ruanda-Genozid identifiziert wurde: Klassifizierung, Entmenschlichung und Polarisierung (?).
Dann gibt es die absichtliche Zerstörung oder Blockade von Lebensnotwendigem, wie es Israel vom Land und vom Meer aus tut. Schon der Goldstone-Bericht sagte, dass der Entzug von Nahrungsmitteln, Arbeit, Wohnung und Wasser für die Bewohner des Gazastreifens, der Bewegungsfreiheit und des Zugangs zu einem Gericht einer Verfolgung gleichkomme.
Seit dem Dezember 2008/Januar2009 -Angriff gibt es viele maßgebliche Berichte von Menschenrechts- und Umweltorganisationen über die Auswirkung des Krieges und der anhaltenden Belagerung auf die Menschen, den Boden, die Luft und das Wasser, einschließlich der Zunahme von Krebserkrankungen, deformierten Neugeborenen und Todesfällen, die hätten verhindert werden können. Die Todesrate bei Schweinegrippe im Gazastreifen erreichte Mitte Dezember neun - und eine Woche später 13 – eine Seuche im Kommen.
Das achte Stadium des Genozids, das Stanton identifiziert, ist das Abstreiten des Täters, dass er „irgendein Verbrechen begangen habe“. Ausgerechnet Stanton leitete während des Konfliktes die Internationale Vereinigung von Genozidforschern , die die Diskussion über Israels Aktionen beendete, trotz Protesten u.a. vom Genozidforscher und Autor Adam Jones. Jones und 15 andere Wissenschaftler hatten eine Erklärung abgegeben, die feststellte, dass Israels Praktiken alarmierend nahe an einem Genozid sind, um sie zu ignorieren; sie riefen dazu auf, das Schweigen darüber zu beenden.
‚Alarmierend nahe’ ist richtig. Hier ist die Definition von 1943 von Raphael Lemkin, dem Polnisch-jüdischen Rechtsgelehrten, der die Genozid-Konvention vorangebracht hat:
„Genozid bedeutet nicht notwendigerweise die
unmittelbare Zerstörung einer Nation …
eher ist
beabsichtigt, einen koordinierten Plan
für verschiedene Aktionen anzukündigen, die die Zerstörung
der wesentlichen Lebensgrundlage
nationaler Gruppen zum Ziel hat, um dann die Gruppen selbst zu
vernichten. Die Ziele eines solchen
Plans würde die Auflösung der
politischen und sozialen Institutionen, der Kultur und
Sprache, der nationalen Gefühle, der Religion und der wirtschaftlichen
Existenz nationaler Gruppen bedeuten und die Zerstörung der persönlichen
Sicherheit, Freiheit, Gesundheit, Würde und sogar das Leben der Individuen, die
zu solch einer Gruppe gehören.“
Man kann sich kaum eine bessere Beschreibung dessen vorstellen, was im Gazastreifen abläuft.
Alle UN-Mitgliedstaaten haben die Pflicht, Aktionen von Genozid zu verhindern und zu beenden.
Was jetzt notwendig ist, wäre ein Land, das tapfer genug ist, die Führung zu übernehmen, bevor es zu spät ist.
Nadia Hijab ist eine unabhängige Analystin und ein ranghohes Mitglied des Institutes für Palästinastudien
( dt. Ellen Rohlfs)