Gideon Levy, Haaretz , 6.11.08
Dies ist der
Augenblick, in dem die Gefühle zu Wort kommen dürfen und bei dem der Zynismus
zu schweigen hat. Es ist die Zeit, in der man alle anti-amerikanischen Gefühle,
die sich unter uns und in aller Welt während der letzten 10 Jahre breit gemacht
hatten, für einen Augenblick lang fallen lassen kann. Einen Moment, bevor die USA selbst zur Achse des
Bösen wurden – es war schon sehr nahe dran – einen Moment bevor sie eine
verhasste und geächtete Macht wurde bewies das amerikanische Volk am Dienstag
der ganzen Welt, dass es noch ein anderes Amerika gibt.
Einen Augenblick bevor
wir die Nase vollkommen voll hatten von
der amerikanischen Hegemonie, und der Ausdruck „Führer der freien Welt“ nur
noch zu einem geschmacklosen Witz wurde, als die ganze Welt Amerika als eine
aggressive, zerstörerische, kriegstreibende,
arrogante und rassistische Macht sah – schüttelte sich diese phantastische
Macht und zeigte der Welt ein anderes Gesicht. Einen Moment lang, nur gerade
einen Moment lang lag etwas anderes in der Luft: „Wandel, ja wir können.“
Natürlich könnte Barack Obamas Erdrutsch-Wahlsieg
noch zu einer größeren Enttäuschung führen; die riesigen Hoffnungen, die er
weckt, könnten sich in eine Fata Morgana verwandeln, in Tricks von Charisma und
raffinierte politische Beraterfirmen. Aber in dem Augenblick, als er auf der
Bühne in Chikago stand und mitten in der
Nacht seine Siegesrede hielt, eine der besten Reden von einem der besten
Redner, da flossen die Tränen über die Gesichter vieler Leute im Publikum, bei
Schwarzen und Weißen, Alten und Jungen, Männern und Frauen, Reichen und Armen –
und schienen die ganze Welt zu überfluten.
Es war ein
herausragender Moment für Amerika. Aber der Moment kann auch ein verfehlter
sein. Im konservativen und teilweise rassistischen Israel sahen nicht wenige
Leute schon sauer drein. Doch ist es auch möglich, dass dieser Moment zu einem
Wandel führt, zu einer neuen Welt und einem neuen Amerika. Der Mann, der auf
der blauen Bühne in Chikago steht, könnte frohe Zeiten bringen. Die Massen, die
ihm zujubelten und ihn wählten, könnten Vorboten eines wirklichen Wandels sein.
Nach fast einer
Dekade fragen sich nicht wenige, warum ihr Land so verhasst ist – eine Dekade,
in der Amerika nur mit der Sprache der Gewalt sprach, seine Armeen in verlorene
Kriege sandte und nicht verhinderte, dass andere Länder - einschließlich Israel – sich in weitere sinnlose Kriege verwickelten;
Gefangene in Guantanamo und anderswo folterte wie in den schlimmsten
Ländern; Hunderte seiner Bürger exekutierte wie die schlimmsten Regime; und
versäumte, seinen Einfluss und seine Macht zu benützen, um Frieden zu machen –
weder hier noch wo anders. Mittlerweile drohte die Religion, das Land zu
übernehmen, bis es das fundamentalistischste Land im Westen wurde, zehn
Millionen seiner Bürger leben ohne Krankenversicherung oder ein soziales Sicherheitsnetz
und nicht wenige seiner Menschen sind
Analphabeten. Nach all diesen dunklen Jahren
dämmert plötzlich ein neuer Tag: der Mann, der auf der Bühne in Chikago
stand, versprach uns, all dies zu verändern und wir wollen ihm so gerne
glauben.
Falls es ihm
gelingt, dann werden wir eine andere Welt haben. Falls er wirklich die
Waffendrohung mit Diplomatie und wirtschaftlicher Dynamik, mit Sozialleistungen
ersetzt, dann können sich die Amerikaner
in ihrem Land und in der Welt wieder
mit Stolz zeigen – nach Jahren, in denen amerikanische Touristen
normalerweise Feindseligkeit und Zurückhaltung begegneten. Es ist für Amerika
wichtig, aber auch für die Welt.
Obama brachte nicht nur seinem Land die Würde
zurück, sondern auch dem Beruf des Politikers. Nachdem man jahrelang keinen
inspirierenden Führer sah, weder in Israel noch anderswo, sondern nur triste
oder betrügerische Politiker; nachdem wir
die Möglichkeit priesen, dass eine Person die Massen in Bann ziehen konnte,
stand Obama auf der Bühne in Chikago und tat es.
Nachdem die
Geschichte (des Landes) zu einem Ende gekommen war, proklamierte Obama ihren Neuanfang. Mit seiner Wahl verkündigte er auch
die Wiedergeburt des Ausdruckes „Das Land der (vielen) Möglichkeiten“ – auch
für Schwarze , wenn auch für den Moment nur in
Amerika.
Der Test steht ihm
natürlich noch bevor. Seine eindrucksvolle und aufregende Fähigkeit, gewählt zu
werden, ist noch keine Garantie für seine Fähigkeit der Führung und die
richtigen Entscheidungen zu treffen. Er steht vor einer entmutigenden
Situation, am Rand eines Abgrundes: die Weltwirtschaft droht, zusammen zu
brechen und die amerikanischen Soldaten verbluten für nichts. Außerdem ist der
Nahe Osten vom Frieden so weit entfernt wie nie zuvor und einige Nationen und
üble Gruppen drohen, ihn zu zerstören. Da gibt es einen hass-erfüllten
und gefährlichen Islam und ein hungerndes Afrika, das krank ist und ausblutet.
Aber Obama schenkt man weltweit großes Vertrauen, wie
es vorher wahrscheinlich noch keiner hatte . nicht nur
die USA, sondern die ganze Welt stimmte für Obama; Es
gibt kein Land, in dem nicht die Massen für seinen Sieg stimmten, sogar
einschließlich einiger Israelis.
Ab jetzt kann es
Erfolg oder Enttäuschung geben. Aber in diesem Augenblick – während ich diese
Zeilen ein paar Stunden nach seiner Siegesrede
schreibe, während die Tränen noch nicht trocken sind, sagt das Herz: es
ist etwas geschehen. Amerika ist nicht mehr dasselbe wie vorher. Die Welt ist
nicht mehr dieselbe wie vorher. Danke, Obama, und
danke euch Amerikanern! Guten Morgen, Amerika und guten Morgen, die Welt! Seit
langer Zeit hatten wir keinen besseren Morgen.
(dt.
Ellen Rohlfs)